Freie Wahlen in der Türkei?

Einige Anmerkungen aus dem Südosten

von Benjamin Hiller / Türkei / 09.06.2011

Es sind nur noch drei Tage bis zu den richtungsweisenden Wahlen in der Türkei. Falls Erdoğan mit der AKP Partei eine 2/3 Mehrheit erreichen sollte steht einer eigenmächtigen Änderung der türkischen Verfassung nichts mehr im Weg.

Um dieses Ziel zu erreichen wurde der Wahlkampf mit harten Bandagen geführt, die gegnerischen Parteiführer beschimpft und diskreditiert. Insbesondere im rechten Spektrum der türkischen Gesellschaft geht Erdoğan auf Stimmenfang. Dafür hat er seine zaghafte Annäherung an die Kurden wieder aufgegeben und besticht nun durch Aussagen, dass er am liebsten Öcalan, den Anführer der kurdischen PKK Guerilla und seit 1999 in türkischer Einzelhaft, hängen lassen würde - und das trotz der in der Türkei abgeschafften Todesstrafe.

Wesentlich gravierender sind jedoch Eingriffe in das Wahlrecht, welche die AKP mit Hilfe der Polizeikräfte vornimmt.

So zum Beispiel in der Region Batman im Südosten der Türkei. Dort hat die kurdische Partei BDP gute Aussichten zwei der vier Abgeordnetenplätze für sich zu gewinnen. Um dies zu unterbinden wurden unter anderem 6.000 Spezialkräfte der Polizei, welche normalerweise im anatolischen Teil der Türkei beheimatet sind, in Richtung Batman gebracht. Denn dank des türkischen Wahlrechtes können diese Polizisten als Gastwähler ihre Stimme in diesem Gebiet abgeben. Und 6.000 Stimmen können Wahlentscheidend sein.

Doch die Maßnahmen der Regierung und der Polizeikräfte gehen noch weiter: Durch eine Gesetzesänderung dürfen diese Spezialkräfte, mit Maschinengewehren ausgerüstet, sich in 20 Metern Entfernung von den Wahlboxen positionieren. Da viele Wahlräume wesentlich größer sind kann somit eine Drohkulisse direkt in den Räumen aufgebaut werden.

Eine weitere Verschärfung der Lage wurde vor kurzem durch große Propagandaposter erreicht, welche in der Kreisstadt Batman aufgetaucht sind. Auf ihnen fordert eine unbekannte Organisation unter anderem dazu auf "Wählt nicht jene, welche am Morgen beten und danach Imame massakrieren." Diese an Volksverhetzung grenzenden Banner sind stets in der Nähe von Polizeiwachen angebracht und werden durch zivile Polizeikräfte beschützt. Als der kurdische Bürgermeister Mehmet Hatip Dicle diese nicht genehmigten Banner entfernen wollte wurde er durch Polizisten daran gehindert.

Auch da die unabhängigen BDP-Kandidaten keine eigenen Wahlbeobachter bzw. Auszähler am Wahltag abstellen dürfen, entschieden sich gut 600 Freiwillige aus Europa diese Rolle zu übernehmen. Denn Szenen wie bei den letzten Wahlen, als aus kleineren Ortschaften die Wahlurnen durch Militärhubschrauber ausgeflogen wurden und Polizisten mit entsicherter Waffe die Wähler zur Stimmabgabe an die AKP gezwungen hatten, sollen sich nicht wiederholen.

Doch durch den Einschwung von Erdoğan auf die nationalistische Schiene und die Schwächung der BDP durch Massenverhaftungen von kurdischen Bürgermeistern und Aktiven (in den letzten drei Monaten gab es 618 Verhaftungen und 700 berichtete Fälle von Folter durch die Polizei) stehen die Zeichen auf Sturm.

Denn Öcalan hat aus dem Gefängnis heraus verkünden lassen, dass die Geduld der Kurden aufgebraucht sei. Wenn bis zum 15. Juni die dann regierungsbildende Partei keine Roadmap bezüglich der friedlichen Lösung der Kurdenfrage anbieten kann wird die kurdische Bevölkerung dies als Kriegserklärung auffassen. Und die Aussagen eines BDP-nahen Aktivisten aus Diyarbakir lassen nicht an Deutlichkeit missen: "AKP und die neue Verfassung entscheiden über Krieg und Frieden. Und wir sind bereit für unsere Rechte unser Blut zu vergießen."

Somit scheint es, dass die Türkei im Extremfall auf eine Situation wie in den Ländern Tunesien oder Ägypten zusteuern wird. Und daran kann weder die türkische Bevölkerung, noch Europa ein Interesse haben.