Licht am Horizont
Annäherungen an die PKK
V. Rolle der Führung in geschichtlichen und revolutionären Prozessen
V.3. Führungsbedürfnisse der klassischen Arbeiterbewegung und des Realsozialismus
V.4. Revolutionäre Führung heute
V.5. Führung gesellschaftlicher Prozesse in der kurdischen Gesellschaft

V.4. Revolutionäre Führung heute

In Fortsetzung und Erweiterung der Aussagen aus dem Abschnitt zur Führung geschichtlicher Prozesse im allgemeinen sollen jetzt die besonderen Anforderungen und Bedingungen revolutionärer Führung heute herausgearbeitet werden. Die Definition aus dem vorigen Abschnitt wieder aufnehmend, soll diese zunächst auf die konkrete Klassensituation bezogen werden.

Revolutionäres Subjekt bei der Schaffung der klassenlosen Gesellschaft ist im klassischen Sinn das Proletariat, das aus seiner Stellung im Produktionsprozeß als einzige Klasse ein uneingeschränktes Interesse an der Umwälzung der gesamten Gesellschaft hat - u.a., da es an diese nicht durch den Besitz von Produktionsmitteln gebunden ist. Wiederum durch seine Stellung im Produktionsprozeß ist es als einzige Klasse in der Lage und organisiert genug, diesen Prozeß fortzusetzen und seine planmäßige Durchführung im gesamtgesellschaftlichen Interesse zu realisieren. Die Organisierung des Proletariats entstanden im Verlauf der Industrialisierung und der Klassenkämpfe mit der Bourgeoisie - befindet sich zur Zeit in einer Phase des Niedergangs. Letztere erlaubt zumindest einige Zweifel daran, ob diesem Proletariat noch der Status des revolutionären Subjekts zugesprochen werden kann. Gleichzeitig sind die durch den Imperialismus noch einmal erheblich verschärften globalen Menschheitsprobleme noch nicht einmal im Ansatz gelöst. Diese Lösung wird im Rahmen des Systems auch nicht gelingen, da es sich auf die uneingeschränkte In-Wert-Setzung und somit Ausbeutung der Frau, der Natur und des Menschen stützt, um immer höhere Profite sicher zu realisieren. Mit dem Imperialismus entstanden aus den nationalen, später internationalen Ausbeutungsverhältnissen solche globalen Ausmasses. Sie müssen auf ihre Widerspruchspole untersucht werden. Dabei sind internationale Monopole und staatenübergreifende imperialistische Interessenverbände bzw. Organisationen wie IWF, Weltbank, OPEC oder weniger formelle Bündnisse einzelner Fraktionen des weltweit operierenden Monopolkapitals auf der einen Seite zu finden. Aus deren Aktivitäten bei der Organisierung des internationalen Ausbeutungsprozesses von Menschen und Natur zieht die Bevölkerung der imperialistischen Industrie- und Dienstleistungsnationen ohne Zweifel noch immer erheblichen Nutzen. Auf der anderen Seite stehen Hunderte Millionen, im wesentlichen kaum organisierte und in sozialer und politischer Hinsicht marginalisierte Menschen. Ihre Zugangsmöglichkeit zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnung, Ernährung, Arbeit -oft auch ihr Lebensrecht schlechthin, ist abhängig von der Entscheidung des Monopolkapitals, wo sich menschliche Arbeitskraft und natürliche Ressourcen mit maximalem Profit ausplündern lassen. Damit ist dieser größere Teil der Menschheit also vom unstet über den Erdball vagabundieren Investitionskapital abhängig, in dessen Windschatten Kriege, Weltbankkonzepte, Umweltkatastrophen, TV-Programme und die Coca Cola Inc. folgen. Vom gierigen Diktat der internationalen Rohstoffmärkte werden diese Menschen aus jahrtausendealten Subsistenzwirtschaften gerissen, in die Favelas, Gecekondus und Ghettos der regionalen Metropolen, mitunter bis in die 'Mutter'länder des Kapitals getrieben. Während eine hochgerüstete Kompradorenbourgeoisie noch immer im kolonial geschaffenen nationalen Rahmen schmarotzt, gelingt der Aufstand nur zeitweise und punktuell - weil er sich auf diesen künstlichen Rahmen beschränkt und die Zentralen des Kapitals ihre Einsatzkräfte noch immer schnell und barbarisch zur Stelle hatten.

Das nachlassende Verwertungsinteresse des Weltkapitals verschärft jedoch die Dringlichkeit einer umfassenden Lösung nur noch. Zurück bleiben Krisenherde, verwüstete Landstriche und hochgerüstete Banditentruppen. Mitunter gibt es noch den Versuch einer administrativen Regulierung der Katastrophen durch 'friedensschaffende und sichernde' UN-Missionen und länderübergreifende Flüchtlingslager. Dort, wo das Kapital noch Interesse hat, schlägt es weiter Schneisen, Staudämme, Schächte in die Natur, vernichtet es die alten Erzeugungsformen, gruppiert es rücksichtslos menschliche Arbeitskraft zu kurzzeitiger effektivster Ausbeutung. Hier sind die 'Verdammten der Erde' heute zu finden, hier kann das Bewußtwerden der eigenen Situation noch zu Kämpfen führen, die den weltweiten Umschlag des Kapitals zum Stocken bringen. Dieses grob skizzierte Potential zu erschließen bedarf noch gewaltiger Anstrengungen. Da die Organisierung durch Produktionsprozesse nur kurzzeitig greift, bleibt die Notwendigkeit von Organisierung aus dem Bewußtsein von Armut, Elend, nationaler Unterdrückung ... das Bestimmende. Und macht bewußte Führung um so nötiger, ebenso wie ein Ziel, das über den Rahmen der nationalen Ausbeutungsgesellschaft hinausgeht. Wird ein solches Ziel nicht bestimmt, ist der Rückfall in oben beschriebene Zustände vorprogrammiert. Mit anderen Worten: nationale und proletarische, also klassenbewußte Führung können in antikolonialen Befreiungskämpfen zusammenfallen, wenn sie sich als sozialistisch verstehen. Führung bedeutet die Notwendigkeit einer Kraft, die revolutionäres Bewußtsein in die Massen trägt. Dies trifft ebenso auf die potentiell revolutionären Teile der Bevölkerung in den imperialistischen Metropolen zu, mit dem Unterschied, daß diese in der Regel doch noch einiges zu verlieren haben - im Gegensatz zu den neuen Avantgarden im Trikont. Hier wie dort sind gerade die subjektiven Ausgangsbedingungen für revolutionäre Prozesse nicht eben erfreulich. Um so deutlicher wird aus dieser Situation die Aufforderung an eine revolutionäre Führung, unter den unmöglichsten und schlechtesten Voraussetzungen noch 'Keime des Neuen'(Lenin) zu entdecken, also jene Ansätze von Widersprüchen, aus denen der Kampf entwickelt werden kann. Bertold Brecht beschreibt die notwendige Erkenntniskraft im 'Lob des Revolutionärs':

„ Wo immer geschwiegen wird Dort wird er sprechen Und wo Unterdrückung herrscht und von Schicksal die Rede ist, wird er die Namen nennen.
Wo er sich zu Tisch setzt, setzt sich die Unzufriedenheit zu Tisch. Das Essen wird schlecht und als eng wird erkannt die Kammer.
Wohin sie ihn jagen, dorthin geht der Aufruhr, und wo er verjagt ist, bleibt die Unruhe doch. «

Revolution fängt mit nichts oder wenig an: Mit dem notwendigen, unbedingten Willen, der nur in Kombination mit einer umfassenden Fähigkeit zur Gesellschaftsanalyse wirksam werden kann. „So muß in Betracht gezogen werden, daß das Bewußtsein der Männer (I) der Avantgarde eines bestimmten Landes, gestützt auf die allgemeine Entwicklung der Produktivkräfte, die geeignetsten Wege erspähen kann, die sozialistische Revolution in diesem Land zum Sieg zu führen, auch wenn es objektiv keine Widersprüche zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse gibt, die eine Revolution unbedingt notwendig oder möglich machten (wenn das Land als ein einziges und isoliertes Ganzes analysiert wird). „ (6) Diese Fähigkeit muß wesentlich weiter greifen als jene bei den Führungskräften der herrschenden Klasse, weil ihr geschichtliches Interesse weiter geht: Die Beseitigung von Ausbeutung schlechthin, also die Beseitigung eines gesellschaftlichen Verhältnisses, das über Jahrtausende entwickelt, sowohl mit den feinsten als auch mit den breitesten Methoden effektiv verteidigt wird und tief verinnerlicht Gewohnheit des Menschen ist. Aus dieser Gesellschaftsanalyse werden die unverzichtbaren strategischen Ziele abgeleitet: Die Beseitigung von Ausbeutung durch die revolutionäre Zerschlagung der Strukturen und Institutionen, die ihren Bestand sichern, die Zerschlagung jeder anderen Form von Unterdrückung und Marginalisierung, wie auch der Aufbau einer ausbeutungsfreien, menschenwürdigen Gesellschaft, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.

Revolutionäre Führung ist deshalb nicht auf die Macht von Menschen über Menschen zu reduzieren. So könnte sie nie dem nötigen schöpferischen Anspruch der bevorstehenden Umwälzung der Gesellschaft gerecht werden. Vielmehr muß Führung - auch wenn sie von Einzelpersonen ausgeht - ständig um die eigene Kollektivierung ringen, ein bestimmendes Merkmal sozialistischer Führung. Darin ist sie am erfolgreichsten, wenn es ihr gelingt, Emotionalität und Rationalität zur Mobilisierung der Massen zu verbinden: „ Offenbar fehlt es an einer besser strukturierten Verbindung mit der Masse. Das müssen wir im Lauf der nächsten Jahre verbessern, aber im Fall von Initiativen, die auf höherer Regierungsebene entstehen, wenden wir zur Zeit noch die gleichsam intensive Methode an, auf die allgemeine Reaktion gegenüber den gestellten Problemen zu lauschen. Meister darin ist Fidel, dessen besondere Art, mit dem Volk eins zu werden, man nur würdigen kann, wenn man ihn handeln sieht. Bei den großen öffentlichen Zusammenkünften benutzt man so etwas wie einen Dialog zweier Stimmgabeln, deren Schwingungen beim Gesprächspartner jeweils andere, neue hervorrufen. Fidel und die Massen beginnen, in einem Dialog von wachsender Intensität zu schwingen, der seinen Höhepunkt in einem abrupten Finale findet, gekrönt durch unseren Kampf und Siegesruf. Das schwer zu Begreifende für den, der die Erfahrung der Revolution nicht gemacht hat, ist die feste dialektische Einheit, die zwischen dem Individuum und der Masse herrscht, innerhalb der beide in Wechselbeziehung zueinander stehen, und die Masse ihrerseits, als Gesamtheit der Individuen in Wechselbeziehung zu den Führern steht. „ (7)

Die notwendige Emotionalität, die den Massen die Entscheidung für die Revolution, für den nächsten Schritt als eine unverzichtbare Entscheidung nahebringt, kann nur aus einer tiefen und ehrlichen Liebe zu den Menschen des eigenen Volkes und des ganzen Planeten erwachen. Sie erwächst außerdem aus der Klarheit und Logik des eigenen Erkenntnisprozesses und ist damit von Demagogie weit entfernt.

„lnnerhalb des Landes müssen die Führer ihre Rolle als Avantgarde erfüllen; und in aller Offenheit soll gesagt werden: in einer wahren Revolution, für die man alles gibt, von der man keinerlei materielle Vergütung erwartet, ist die Aufgabe des Avantgarde-Revolutionärs eine großartige und zugleich beängstigende. Lassen sie mich sagen, auch auf die Gefahr hin, lächerlich zu erscheinen, daß der wahre Revolutionär von großen Gefühlen der Liebe geleitet wird. Es ist unmöglich, sich einen echten Revolutionär ohne diese Eigenschaften vorzustellen. Vielleicht liegt hierin eines der großen Dramen der Führenden; er muß mit einer leidenschaftlichen Seele einen kühlen Intellekt verbinden und, ohne mit der Wimper zu zucken, schmerzliche Entscheidungen fällen. Unsere Revolutionäre der Avantgarde müssen diese Liebe zum Volk, zu den geheiligsten Dingen idealisieren und sie einzig, unteilbar machen. Sie können nicht mit der kleinsten Dosis täglicher Zuneigung zu den Plätzen hinuntersteigen, wo die gewöhnlichen Menschen sich zeigen." (8)

Revolutionäre Führung muß mit diesen Eigenschaften zugleich um ständige Handlungsfähigkeit bzw. um deren Bewahrung ringen, das heißt um die Vervielfachung, sinnvolle Gruppierung und auch Schonung der eigenen Kräfte. Zu diesem quasi militärischen Herangehen ist sie sowohl durch ihre Ausgangsposition, die des noch Unterlegenen, als auch durch den eigenen moralischen, menschlichen Anspruch gezwungen. Mit anderen Worten: Führung zielt in diesem Zusammenhang auf Organisierung, sie braucht Organisierung, um sich selbst realisieren zu können, den Kampf auf ein höheres, komplexeres Niveau zu heben. Dazu zählt auch, mit der Entwicklung von Kadern eine bestimmte Planmäßigkeit in die Organisierung zu bringen, um an immer mehr Orten, in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen allen Schlachten des Klassenkampf gewachsen zu sein. Mit der ständigen Ausbildung von Kadern wie mit dem fortgesetzten Klassenkampf im Innern der Organisation kann die Führung die Kontinuität und Entwicklung des revolutionären Prozesses sichern. Damit wird das Bewußtsein von den eigenen Erfahrungen und von der Überwindung eigener Fehler zum unverzichtbaren Wert. Zu den Methoden, mit denen sie mittels Organisierung die Erfahrungen des Kampfes unter die Massen bringt, gehört die ständige Verallgemeinerung aller relevanten Vorkommnisse in der Revolution, ein Prozeß, der das ständige Lernen der Massen ermöglicht und sie darin zur eigenen Initiative anregt.

„Proletarische Revolutionen kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von Neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich ihre Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde saugen und sich riesenhaft ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta!" (9)

Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß die Bevölkerung das Lernen lernt, um mit der Dialektik von Siegen und Niederlagen selbstbewußt umgehen zu können. Pflicht der Führung ist es, Bereitschaft zum Lernen und diesen Prozeß selbst immer wieder öffentlich 'vorzuleben' und ihn zu organisieren. Die Aufgabe, dem Volk eine revolutionäre Haltung „vorzuleben", erstreckt sich jedoch weit über das Lernen hinaus. Sie ergibt sich aus dem Anspruch, den Massen voraus zu sein, ein 'Spiegel der neuen Gesellschaft' zu sein. Gleichzeitig kommt die revolutionäre Führung aus dem Volk, ist Produkt der Gesellschaft und bezieht sich auch darauf. In diesem Zusammenhang muß sie von sich selbst ein grundsätzliches Verständnis haben, das jede Entfernung vom Volk, jede Unerreichbarkeit oder gar Vergötterung ablehnt und außerdem Mechanismen in der eigenen Organisation gegen diese Gefahren entwickeln. Die Führung verkörpert also die Dialektik der Veränderung, eine Einheit von Altem und Neuem, in der die Tendenz zur Entwicklung durchgesetzt werden muß.

„Die Aufgabe, das Volk zu erreichen, wird gleichzeitig durch die Strenge der Organisation und durch das ideologische Niveau ihrer Führer erleichtert werden. Die Stärke des ideologischen Niveaus entwickelt sich und wächst im Laufe des Kampfes, der Manöver des Gegners, der Siege und Rückschläge. Die Führung offenbart ihre Stärke und Autorität, indem sie die Fehler verurteilt, von jedem Rückfall des Bewußtseins profitiert, um eine Lehre daraus zu ziehen, um neue Bedingungen für ein Fortschreiten zu schaffen. Jeder lokale Rückschlag wird dazu genutzt, die Frage auf der Ebene aller Dörfer, aller Widerstandsnester aufzugreifen. Der Aufstand beweist sich selbst seine Rationalität und seine Reife jedesmal, wenn er anläßlich eines bestimmten Falles das Bewußtsein des Volkes fortschreiten läßt. Trotz der Umgebung, die manchmal glaubt, daß Nuancen Gefahren bergen und Risse in den Block des Volkes bringen, hält die Führung unerschütterlich an den Grundsätzen fest, die sie im nationalen Kampf und im allgemeinen Kampf des Menschen für seine Befreiung gewonnen hat." (10)

Zu den Hauptaufgaben der Führung im revolutionären Kampf gehört die ständige Entwicklung, Anwendung und Verfeinerung ihrer Taktiken. Da sich diese auf den Gegner beziehen, verlangt das Studium und die Untersuchung von dessen Methoden und Taktiken besondere Aufmerksamkeit. Die Prinzipien und das Handeln des Feindes sind auf ihre Schwächen und Widersprüche zu untersuchen, mit dem Ziel, sie auszunutzen. Ein Beispiel dafür aus der Geschichte des 16. Jahrhunderts, auch wenn es sich hier nicht um revolutionäre Führung mit den eingangs bestimmten Zielen handelt: Lautaro, der spätere Führer der Mapuche-lndianer, lebte und arbeitete zunächst bei den Konquistadoren, in nächster Nähe von Pizarro, dem Schlächter Chiles. Er lernte die Kampfmittel der Spanier, das Pferd, ihre Rüstungen und Waffen kennen und durchschauen, bevor er deren weitere Raubzüge mit einem lautlosen Partisanenkrieg aus der Unsichtbarkeit der Wälder Chiles bekämpfte.

Die Notwendigkeit der Kollektivierung des Führungswissens und einer kollektiven Führung weist schließlich auf die Tendenz hin, die revolutionärer Führung innewohnt - die zu ihrer Selbstaufhebung bzw. Selbstauflösung. Das heißt, das revolutionäre Ziel, das Absterben des Staates im Kommunismus, in der zweiten Phase der ausbeutungsfreien Gesellschaftsformation, wird schon bei der Machtergreifung eingeleitet. Die revolutionäre Führung schiebt sich so weit wie möglich in das Volk hinein. Sie arbeitet auf einen geschichtlichen Zustand hin, in dem, mit Lenin, „die Köchin den Staat regiert". Damit aber der Staat auch wie eine Küche zu regieren ist, muß der Prozeß seiner Vorbereitung wie auch er selbst - als Ergebnis der Revolution - so einfach und durchschaubar aufgebaut sein und funktionieren, daß sich alle an ihm beteiligen können. Revolutionäre Führung vervielfältigt sich, indem sie die ganze Partei bzw. Organisation und die Massen an ihren Überlegungen und Entscheidungen teilhaben läßt. So ergreift sie geistig Besitz von der Klasse, Gesellschaft - wie diese von ihr. Im Interesse der Mehrheit führt sie eine Bewegung der Mehrheit.

Abschließend noch einige Einschränkungen zur Möglichkeit revolutionärer Führung: Es sind Konstellationen in der Geschichte möglich, in denen die objektiven Bedingungen geradezu nach revolutionärer Führung schreien, in denen die Massen nur darauf warten, loszuschlagen. Aber es findet sich nicht die Kraft, die den Prozeß in die Hand nimmt. Oder, was häufiger geschieht: Obwohl Probleme, Widersprüche, Konflikte sich häufen und der von ihnen ausgehende Druck auf die Situation von Millionen von Menschen steigt, findet sich kein revolutionärer Kern, der sich der Aufgabe annimmt. Ein Beispiel aus der europäischen Geschichte macht zugleich den Niedergang der Sozialdemokratie als auch ihre Bindung an die imperialistischen Nationalstaaten deutlich: Am Vorabend des 1. Weltkrieges stellten sich die rechtsopportunistischen Führer der sozialdemokratischen Parteien auf die Seite der bürgerlichen Regierungen ihrer Länder. Von sozialchauvinistischem Standpunkt aus verteidigten sie so einen imperialistischen Krieg statt den Kampf gegen ihn zu führen. Sie beteiligten sich an den staatlichen Institutionen zur Kriegswirtschaft und bewilligten in den Parlamenten Mittel zur Kriegsführung. (11)

Eine weitere Einschränkung in Bezug auf die Führung revolutionärer Kräfte bezieht sich darauf, daß es keinen Daueranspruch auf eine derartige Position gibt: Sobald die Führung nur in einem der beschriebenen Punkte nachläßt, verwirkt sie diesen Anspruch. Das heißt, daß Führung auch nur für bestimmte Zeiträume real sein kann: „Niemand kann sich um den Titel einer Avantgardepartei bewerben wie um ein offizielles Universitätsdiplom. Avantgardepartei sein heißt, an der Spitze der Arbeiterklasse stehen im Kampf um die Macht, sie zu deren Eroberung zu führen und dazu auch die kürzesten Wege zu finden." (12)

Die Führung kann nicht dekretiert, sondern sie muß gelebt und gekämpft werden, in der objektiven Realität verankert sowie subjektiv wahrnehmbar sein. Oder, mit den Worten von Ulrike Meinhof: „Auch 'selbsternannte avantgarde' z.b. ergibt keinen sinn. avantgarde zu sein ist eine funktion, zu der man sich weder ernennen noch die man beanspruchen kann. avantgarde zu sein ist eine funktion, die der rolle des guerilla in seinem eigenen bewußtsein, im prozeß seines eigenen aufwachens, der wiederentdeckung seiner rolle in der geschichte gibt ... „  (13)
 


(6) E. Che Guevara, Die sozialistische Planung und ihre Bedeutung, in: a.a.O., 85.
(7) E. Che Guevara, Der Sozialismus und der Mensch in Kuba (März 1965). in: a.a.O., 96.
(8) ebenda, 109f.
(9) K. Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW 8, Berlin 1988, 118.
(10) Frantz Fanon, a.a.O., 125.
(11) Ein weiteres Beispiel ist die gegenwärtige Praxis -oder Praxislosigkeit- in vielen Ländern der Erde, insbesondere Europa, in denen jeglicher Ansatzpunkt für revolutionäre Prozesse von denen, die dazu noch in der Lage wären, konsequent ignoriert wird.
(12) E. Che Guevara, Guerillakrieg: eine Methode (September 1963), in: a.a.O., 25.
(13) U. Meinhof, Rede zur Befreiung von Andreas Baader, in: Texte RAF, ohne Jahr.