Licht am Horizont
Annäherungen an die PKK
V. Rolle der Führung in geschichtlichen und revolutionären Prozessen
V.1.2. Religion und Philosophie im Zeitalter der Sklaverei
V.1.3. Das Beispiel der Weltreligionen
V.2. Führungsbedürfnisse der Bourgeosie

V.1.3. Das Beispiel der Weltreligionen

Die Mühlen ideengeschichtlicher Produktion mahlten unaufhaltsam weiter. Im Königreich Judäa erwarteten zur Zeitenwende nicht wenige jüdische Sekten einen neuen Messias. Das Königreich war für Rom zum unruhigen Gebiet geworden, seine Loyalität unsicher. Die religiösen Zeremonien der Pharisäer, Sadduzäer und anderer Gruppen endeten oft mit Blutvergießen und Aufständen. Alle suchten nach Zeichen für das Kommen jenes Führers, der die letzten und größten Tage Jerusalems einleiten sollte. Vermißt wurde aber auch eine Kraft gegen das jüdisch politisch-religiöse Establishment. Die moralische Lehre, die Jesus verkündete, versprach dann allen, nicht nur den Juden, die Erlösung von ihren Sünden. Über die Erfüllung der Gesetze, die immer noch essentiell war, stellte Jesus jedoch die Liebe zu den Menschen. Andere Erwartungen enttäuschte er: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt."Der Zimmermannssohn aus Nazareth zog jedoch nicht nur politisch Unzufriedene und Nichtjuden an, sondern auch die Armen und Ausgegrenzten. Nach seinem Tod blieben seine Nachfolger nicht mehr als eine winzige jüdische Sekte unter vielen. Allein die Verallgemeinerung der Botschaft von der Auferstehung Jesu, die diesen vom menschlichen Erlöser zum Sohn Gottes und untrennbaren Teil der göttlichen Dreieinigkeit machte, sorgte dafür, daß die Idee aus den jüdischen Tempeln vertrieben wurde. Sie gelangte in die geistige, individualistisch geprägte Welt des Hellenismus und es kam zum Aufbau einer kolossalen religiösen, institutionellen und politischen Struktur. Der Umgang damit in den folgenden zwei Jahrtausenden läßt vermuten, daß Religion sich einfacher zur Realisierung und Tarnung von Klasseninteressen - und damit zur Durchsetzung von politischen Führungsansprüchen - gebrauchen ließ als Philosophie.

Damit sind einige wenige Ausgangspunkte geistesgeschichtlicher Linien für das europäische, das sogenannte 'westliche' Denken, skizziert. Indessen vollzogen sich ähnlich intensive und langwirkende Schöpfungsprozesse auch in den frühen Gesellschaften der hier nicht behandelten Kontinente. Während Europa mit der Finsternis des feudalen Mittelalters rang, erlebten die arabische Wissenschaft und Kultur eine erneute Blüte, ausgelöst durch den Siegeszug einer weiteren sogenannten Weltreligion, des Islam. Kaum eine andere formende Kraft der menschlichen Geschichte startete mit einem so geringen Ausgangspotential wie der Islam. Wieder war es ein Einzelner, der sich gegen die widrigen Ausgangsbedingungen einer rückwärtsgewandten Stammesgesellschaft wandte, in deren Existenz in Wüste und Felsengebirge oft schon das Überleben allein eine Errungenschaft war. Mohammed, um 570 in einer armen Familie geboren, wuchs in einer Zeit auf, in der diese Nomadengesellschaft Veränderungen nicht mehr lange ausweichen konnte. Handels- und Pilgerwege, die sich in Oasen wie Mekka kreuzten, brachten immer intensiveren Austausch mit der Außenwelt. Die Bevölkerung wuchs und auch in Mohammeds Stamm wechselten immer wieder Menschen vom Hirtenleben zum Handel. Es entstanden Loyalitätskonflikte, in denen die sozialen Beziehungen der bisherigen Gesellschaft, geprägt durch den Respekt gegenüber dem Alter, dem Reichtum und der imaginierten Blutsverwandtschaft, in Frage gestellt wurden. Mohammeds Beobachtungen der jüdischen und christlichen Gemeinschaften jener Zeit ließen ihn die einigende Funktion der jeweiligen schriftlichen Überlieferung dieser Glaubensrichtung erkennen. Mit der Verkündigung des Koran durch Mohammed existierte nunmehr das grundlegende Dokument der arabischen Sprache und Kultur. Ein visionäres Buch, leidenschaftlich in seiner Überzeugung von göttlicher Herkunft. Nur Mohammeds kompromißloser Glauben an sein Schicksal als Überbringer der letzten Botschaft Gottes an die Menschen ließen ihn im folgenden eine intensive Prediger- und organisatorische Tätigkeit in einem polytheistischen Umfeld zum Erfolg führen. Die Regeln und der Verhaltenscode, die der Prophet entwickelte, standen im Widerspruch zu den bis dahin geläufigen Ideen: die Achtung des Status des einzelnen Gläubigen, sei es Mann, Frau oder Kind, die Zurückstellung der Blutsbande hinter den Glauben. Im späteren Medina, wohin Mohammed 622 durch ökonomischen Boykott von Seiten seines eigenen Stammes gezwungen wurde, entwickelte er praktische und detaillierte Aussagen zur Formung der Gemeinschaft der Gläubigen, der Umma. Medina wurde zur Basis für die Unterwerfung Mekkas und der übrigen Stämme Arabiens. Im Resultat integrierte der Islam die Araber in einer Gesellschaft, die den traditionellen tribalistischen Rahmen überwand und darüber hinaus - über den gemeinsamen Monotheismus - die Verbindung mit Juden und Christen weiterhin ermöglichte. Im Verlaufe der nächsten Jahrhunderte gelang dem Islam, trotz der Nachfolgekämpfe um das Kalifat, die Überwindung gewaltiger kultureller und geographischer Unterschiede vom Atlantik bis an den Pazifik.

Die Persönlichkeiten, deren Namen mit der Entstehung der 'Weltreligionen' verknüpft sind, müssen besonders genau auf ihr tatsächliches geschichtliches Wirken untersucht werden. Soweit vorhanden, sollten dazu 'nichtreligiöse' Quellen benutzt werden und der Mechanismus der 'Vergöttlichung' und Verherrlichung durch die jeweiligen Religionsgemeinschaften, ihre Institutionen und Ideologen genau analysiert werden. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang auch nach dem Verhältnis der europäischen Ideen - soweit sie überhaupt rekonstruierbar sind - und den realen geschichtlichen Taten, die in ihrem Namen vollbracht wurden, nach dem Potential dieser Ideen und der Rolle ihrer Verfechter in der historischen Realität.