Licht am Horizont
Annäherungen an die PKK
IV. Werte, Prinzipien und Methoden der PKK
IV.1.1. Einleitung
IV.1.2. Sozialismus
IV.1.3. Sozialismus als Gesellschaftform

IV.1.2. Sozialismus

„ Der Communismus als positive Aufhebung des Privateigenthums, als menschlicher Selbstenfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichthums der bisherigen Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen. Dieser Communismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits des Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Nothwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung. „ (5)

Das vorangestellte Zitat kann durchaus als frühe, wenn vielleicht auch mehr indirekte Quelle für die Ideologie der PKK verstanden werden. Denn wie schon angedeutet, erwies sich für uns schon nach kurzer Auseinandersetzung der von der PKK vertretene Sozialismus-Begriff als überraschend weit gefaßt. Ein Ausdruck davon ist die Tatsache, daß von Abdullah Öcalan wiederholt Ansätze sozialistischen Denkens in der gesamten Menschheitsgeschichte ausgemacht werden. Darunter werden offensichtlich verschiedene ideelle, politische und organisatorische Formen des Widerstandes gegen Ausbeutung und Unterdrückung gefaßt. Dieser Sozialismusbegriff schließt auch den Sozialismus als Gesellschaftsformation ein - aber eben nur 'auch'. Schwerpunkt der von uns erlebten Diskussionen und Lektionen war jedoch die Auffassung, welche die Schaffung des 'neuen Menschen' als zentrales Problem des Sozialismus versteht, ihn also als einen Prozeß der individuellen und kollektiven Bewußtseinsbildung betrachtet. Ein weiterer Aspekt der Sozialismusauffassung liegt eindeutig darin, sich in allen praktisch-politischen und in vielen theoretischen Fragen intensiv mit den Erfahrungen des Realsozialismus und im weiteren Sinne auch mit den Erfahrungen anderer Befreiungsbewegungen auseinanderzusetzen. Dies erfolgt unter dem Anspruch der kritischen Aufhebung dieser Erfahrungen, wobei bestimmte Erfolge durchaus akzeptiert, Lösungswege als nachvollziehbar bewertet wurden, grundsätzliche Einwände gegen das praktizierte Modell aber wesentlich bleiben. Einer unserer Interviewpartner, Heval Zilan (6), der 15 Jahre in türkischen Gefängnissen eingekerkert war, erklärte dazu: „Die Partei hat zum Beispiel untersucht, was die Irrtümer, Mängel und Fehler waren und was der Realsozialismus den Menschen dennoch gebracht hat; daraus hat sie ihre eigene Sozialismustheorie immer weiter entwickelt. „

Insgesamt ergeben sich für die eigenen Ansprüche an die sozialistische Ideologie folgende Kriterien:

1. Sie darf nicht die des Klassengegners, des Ausbeuters
sein.

2. Sie darf nicht die des Realsozialismus sein und muß darüber hinausgehen.

3. Sie muß ständig zur Erneuerung fähig sein.

4. Sie muß Antwort auf die Probleme der Menschheit, wie Umweltzerstörung, Vereinzelung, Entfremdung usw, geben.

Grundsätzlich wurde dazu in einem theoretischen Artikel des Kurdistan-Report (1990) gesagt: „Die bei uns realisierte Haltung, die sich aufrichtig und selbstbewußt auf die revolutionärste Ideologie unseres Zeitalters, den wissenschaftlichen Sozialismus, stützt, ist eine Haltung, die von Schablonenhaftigkeit, Dogmatismus und Nationalismus weit entfernt ist. „ (7)

Eine Schlüsselaussage zu dem, was die PKK vom Sozialismus als Ideologie erwartet, machte Abdullah Öcalan in einer Analyse am 1. Mai 1995: „lnwieweit ist die Gesellschaft für die Befreiung des Einzelnen nötig? Das ist der Kern des Widerspruchs. Einer Antwort am nächsten kommt die sozialistische Herangehensweise."
 


(5) Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte Heft III (1844), in; MEGA 1,2, Berlin 1982, 389.
(6) Alle nicht anders gekennzeichneten Zitate in dieser Einleitung und im folgenden Abschnitt stammen aus einem mehrtägigen Interview im September 1995 mit dem genannten Freund.
(7) Kurdistan Report 6, 1990, 37.