Licht am Horizont
Annäherungen an die PKK
II. Umwälzung der kurdischen Gesellschaft

II.2. Struktur und Hintergrund der kurdischen Gesellschaft
II.3. Zur Situation in Ost- und Südkurdistan
II.4. Emanzipationsprozesse der kurdischen Gesellschaft.

II.3. Zur Situation in Ost- und Südkurdistan

Ostkurdistan

1979 kam es zum Sturz des Schah Reza Pahlevi. Im Kampf um die Macht konnte sich die schiitisch-islamische Bewegung um Ayatollah Khomeini durchsetzen und einen islamisch geprägten Staat aufbauen. Infolgedessen ist auch in Ostkurdistan das heutige Leben sehr stark durch den Islam geprägt. Heval Bese: „Den meisten Menschen wurde nichts anderes beigebracht als fromm zu sein. Sie sollen Tag und Nacht nur an die Religion denken und zu Allah beten. Ja, und die Frauen müssen sich verschleiern. Dadurch sind viele Menschen sehr verschlossen und zurückgeblieben. „

Die Islamische Republik Iran ist ein Vielvölkerstaat: Perser, Kurden, Belutschen, Azeris, Loren, Turkmenen und Araber leben dort. Eigentlich müßte das Zusammenleben ohne größere Konflikte von staatlicher Seite aus möglich sein, denn der Islam kennt keine nationalen Unterschiede. Doch die Realität sieht anders aus. Der Staat wird klar von den Persern dominiert, die immer wieder die anderen Nationalitäten gegeneinander ausspielen.

Heval Bese: „ln der Gegend, aus der meine Familie stammt, war es so, daß sie immer wieder Kurden gegen Azeris - und umgekehrt - aufgehetzt haben. Sie selber stellten sich dann als Freund dar, der schlichtet. Gerade so als hätten sie nichts gemacht. „

Die Situation für die kurdische Bevölkerung stellt sich so dar: Kultur und Sprache sind nicht verboten. Letztere ist dem Farsi (Persisch) sehr nahe verwandt. Allerdings führen das Schulsystem - die Unterrichtssprache ist Persisch - und vor allem die Medien zur Assimilation. Die Sprache verschlechtert sich dadurch. Sie wird weniger gesprochen. Gleichzeitig wird das Persische als das Moderne dargestellt. Sich als Kurden zu bezeichnen wird oftmals als negativ empfunden. Dies ist ähnlich wie es z.B. in der Türkei der Fall war - ein Zeichen für die Entfremdung von der eigenen Identität. Kurdisch sein wird assoziiert mit barbarisch und schmutzig sein. Heval Kawa: „ Wenn man sagt: 'Ich bin Kurde' wird man nicht mehr respektiert und beachtet. Deshalb bezeichnen sich fast alle Kurden, die in den Metropolen leben, nicht als Kurden. Sie verleugnen ihre eigene Identität. Sie sprechen nicht mehr ihre eigene Sprache und ziehen auch keine kurdische Kleidung mehr an. Die Perser sagen andauernd: 'Es gibt keinen Unterschied zwischen Kurden und Persern. Beide Völkerschaften sind gleichen Ursprungs. Die Sprachen sind auch sehr eng verwandt. ' So sollen die Kurden nicht suchen, daß sie Kurden sind. „

Die Vormachtstellung der Perser drückt sich auch auf anderen Gebieten aus. Industriell ist Ostkurdistan sehr schwach entwickelt. Und die wenigen Fabriken, die es gibt, sind unter persischer Kontrolle. Es gibt keine kurdische Industriellenschicht. Kurden sind in diesen Fabriken als Arbeiter beschäftigt. Insgesamt jedoch ist die hohe Arbeitslosigkeit sehr drückend, und allein die 'Armee' der Saisonarbeiter umfaßt Hunderttausende. Im Frühling und Sommer wandern diese Arbeiter mit der Hoffnung auf Beschäftigung in die iranischen Metropolen. Hauptwirtschaftszweig ist die Landwirtschaft, in der noch in hohem Maße traditionelle Handarbeit vorherrscht.

Das feudale Agha-System ist in einigen Gebieten zerschlagen. Heval Kawa: „Das Agha-System gibt es in unserem Gebiet nicht mehr. Es existiert jedoch noch an anderen Orten. Als Khomeini die Macht errungen hatte, spaltete er die Bevölkerung und spielte Gruppen gegeneinander aus. Dabei stützte er sich auf die Feudalherren. „

Unter dem Schah war es zur sogenannten 'Weißen Revolution' gekommen: dies war eine Bodenreform mit anti-feudalistischer Stoßrichtung zur Einführung kapitalistischer Strukturen im Rahmen der Öffnung des Landes für ausländisches, vor allem US-Kapital.

Ein Höhepunkt kurdischen Widerstandes ist die Ausrufung der Republik von Mahabad 1946. Auch wenn sie nur kurzzeitig Bestand hatte (Januar-Dezember 1946) und den Grenzfestlegungen bzw. dem Abstecken der Einflußbereiche der Siegermächte des II. Weltkrieges zum Opfer fiel, so ist sie dennoch für die Kurden von großer Bedeutung. Gegen das USA gesteuerte Schah-System kämpften auch die Kurden. Sie trugen mit zu dessen Sturz bei. Es sind vor allem zwei Organisationen, deren Namen in diesem Zusammenhang hier zu nennen sind: die KDP-I, Kurdische Demokratische Partei-lran, und Komela. Beide setzten auch nach dem Sturz des Schah den Kampf gegen das neue Regime der Mullahs fort. Dabei spielen die beiden Organisationen heute auch für das Volk weniger eine Rolle denn je. Heval Bese: „Der Kampf der KDP-I ist seit langem am stagnieren bzw. zurückgehen. Sie hat sich dadurch vom Volk entfernt. In den letzten Jahren ist es soweit gekommen, daß die KDP-I Kämpfer alles nur noch für den eigenen Stamm oder die eigene Familie tun. Dadurch kam es auch zu Übergriffen auf die Bevölkerung. Oft wurden Frauen entführt und auch sexuell mißhandelt. „

Die KDP-I stellte in ihrem Programm die Forderung nach Demokratisierung des Iran und damit verbunden die Forderung nach Autonomie für die Kurden auf. Die Kurdenfrage reduziert sie zu einem innenpolitischen Problem. Daraus folgt, daß sie keine Beziehungen zu kurdischen Parteien oder Organisationen in anderen Teilen Kurdistans unterhält, jedoch zu anderen iranischen Oppositionsgruppen. Diese Linie führte zur Spaltung der Partei.

Die Abspaltung KDP-I (Revolutionäre Führung) setzt sich für das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes ein, d.h. die Kurdenfrage wird international betrachtet. Sie unterhalten Kontakte zu anderen kurdischen Parteien mit demselben Ziel.

Die alte Organisation Komela ging 1945/46 in der KDP-  auf. Ende der 70er Jahre kam es zu einer Neugründung dieser Organisation. Sie ist marxistisch orientiert und war lange Zeit Teil der KP Iran, aus der sie vor einigen Jahren wieder ausgetreten ist. Komela verfügt über einige Stützpunkte in Südkurdistan.

Die genannten Parteien haben heute keinen großen Einfluß mehr. In Ostkurdistan ist ein Vakuum an Organisierung und Führung entstanden. Heval Kawa: »Es ist wirklich sehr schwierig, der Bevölkerung wieder Vertrauen zu geben. Durch ihre Praxis hat die KDP-I in all den Jahren nur bewirkt, daß sich in der Bevölkerung Hoffnungslosigkeit festsetzte. Von vielen Familien sind Söhne im Krieg der KDP-I gefallen. Und weil es keine Ergebnisse gibt, haben sie das Vertrauen verloren. Es ist für die PKK sehr schwierig, das Volk wieder zu überzeugen. Die Kader arbeiten daran, aber es ist sehr schwierig. „

Die PKK arbeitet seit 1985 in Ostkurdistan. Mit den traditionellen Parteien wie der KDP-I werden keine Kontakte unterhalten. Bis 1992 war die Arbeit sehr schwach. Dies lag vor allem an einem Mangel an Kadern. Die Kader sind gezwungen, illegal zu arbeiten. Es gibt keine bewaffneten Aktionen. Sie dürfen offiziell keine Beziehung zum Volk aufnehmen. Der Staat versucht dies sehr streng zu kontrollieren. Es ist ihnen erlaubt, Dinge für die eigene Logistik, wie z.B. Medikamente, Kleidung oder Schuhe, einzukaufen.

Iran hat ein taktisches Verhältnis zur PKK. Dies resultiert aus der Feindschaft gegenüber der Türkei. So wird den Parteikadern in geringem Maße ein kontrollierter Bewegungsraum gelassen, andererseits finden immer wieder Verhaftungen von Sympathisanten und Kadern statt.

Die PKK ist eine Partei, die im Zustand der Unterdrückung und Verfolgung groß geworden ist. So gelang es ihr auch, in Ostkurdistan eine Basis zu organisieren. Mittlerweile beteiligt sich die Bevölkerung z.B. sehr stark an der finanziellen Unterstützung der Partei. Jedoch aus Vorsicht vor staatlicher Repression nicht offen.
 
 
 

Südwest-Kurdistan (Syrien)

Prozentual gesehen hat die Partei die stärkste Basis im 'Kleinen Süden', in Syrisch-Kurdistan. 1979/80, kurz vor und nach dem Militärputsch in der Türkei, zog die Parteiführung sich selbst und eine Reihe Kader aus der Türkei nach Südwest-Kurdistan und Libanon ab.

Ein Prinzip der PKK ist es, sich auf die eigene Kraft, auf die Organisierung der eigenen Bevölkerung zu stützen. So ist es auch im 'Kleinen Süden', „wo die Partei aufgenommen, von der Bevölkerung anerkannt und in die Arme genommen wurde« (Heval Lokman).

In Syrien wird die Partei in sehr begrenztem Umfange toleriert. Der syrisch Staat gesteht eine Art Asylrecht zu, jedoch duldet er keine politischen Aktivitäten. Dadurch ist die Situation für Patrioten sehr schwierig.

Anders als in der Türkei, Irak oder Iran hat es in Syrien von Seiten der Kurden nie Aufstandsversuche gegeben. Dies mag mit der relativ geringen Bevölkerungszahl der Kurden zusammenhängen. Vom syrischen Staat aus wird zudem eine weiche Assimilierungspolitik betrieben. Viele Kurden leben ohne Ausweispapiere in Syrisch-Kurdistan. Sie gelten im eigenen Land offiziell als geduldete Flüchtlinge, auch wenn sie z.B. schon 30 Jahre dort leben, Haus und Familie besitzen; ihr Bewegungsraum ist durch diesen Status sehr eingeschränkt. Eine Diskriminierung der Kurden findet beispielsweise im Bereich der Ausbildung und der Berufschancen statt. Heval Sozdar: »Die Schulbildung findet auf Arabisch statt. Sie ist tiefer als in der Türkei. Die Kinder gehen zur Schule, doch da, wo sie einen wirklichen Schritt machen können, in der Berufsausbildung oder Weiterbildung, da stockt es. Ausrede ist der Asylstatus. Oder sie fallen durch die Prüfung, obwohl sie gut gearbeitet haben. Da, wo es dreckige Arbeit gibt, wird sie von den Kurden gemacht.  Die Bevölkerung ist sehr arm. Die Menschen leben vor allem von der eigenen Landwirtschaft. „

Die feudalistischen Strukturen sahen bis vor kurzem noch ähnlich wie in den anderen Teilen aus. Vor zehn Jahren noch gab es einen mächtigen Stamm namens 'Mala Haco'. Früher gehörte diesem Stamm das Land und die Dörfer. Heval Sozdar: „Der Stammesführer wurde ´überredet', das Land abzugeben. So gibt es heute viele Landlose. Häuser und Felder wurden enteignet und Arabern übertragen. Dadurch vermengten sich die kurdischen, christlichen und arabischen Bevölkerungsgruppen. Dies hat der syrische Staat bewußt bezweckt, damit die Kurden nicht zu ihrer eigenen Kraft finden. Doch auch diese nicht kurdischen Bevölkerungsgruppen haben unsere Partei kennengelernt und sympathisieren mit uns ... Nehmen wir z.B. das Dorf, in dem meine Verwandten leben. Denen ist gutes Ackerland genommen worden; dafür haben sie ein Stück Land erhalten, das ca. 100 km entfernt liegt und sich zur Bearbeitung nicht eignet. „

Nicht nur durch diese Bodenpolitik des Staates befindet sich die feudale Struktur in einem Zerfallsprozeß. Auch dort, wo die Partei großen Einfluß hat, sind Veränderungen unübersehbar. Heval Mischar: „ln manchen Dörfern gibt es noch kleine Aghas oder auch Bürgermeister mit der Aufgabe, das Dorf zu regieren. Früher war es so: was die Aghas gesagt haben, wurde gemacht. Es wurde nicht diskutiert 'Soll ich das machen oder nicht? - Ist das gut oder nicht?' Es war Befehl für die Bevölkerung. Jetzt kann man sehen, daß die Bevölkerung keinen Wert mehr darauf legt. Wenn heute ein Stammesführer oder Agha etwas sagt, wird das so gesehen: 'Das hat der für sich gesagt, das kann er ruhig sagen.' Es wird nicht als Befehl anerkannt. Dagegen kann man sehen, daß der Wille der Befreiungsbewegung anerkannt wird."

Hier vollzog sich ein Wechsel der Autoritäten. Und mit diesem ein Wechsel der Werte. Im praktischen Alltag drückt sich das so aus: „Die Partei setzt ja neue Lebensmaßstäbe und versucht, neue Lebensstrukturen zu geben. Die Bevölkerung gibt sich viel Mühe und versucht, danach zu leben. Natürlich ist es momentan noch ziemlich schwierig, die ganze Gesellschaft auf dieser neuen Lebensform zu organisieren. In den Dörfern gibt es mehr kollektive Arbeit als in den Großstädten. Wenn es auf den Dörfern Arbeit gibt, leistet man sich gegenseitig Hilfe. Man arbeitet kollektiv. In den Großstädten ist es nicht so häufig, daß eine Familie von sich aus der anderen hilft. Nur wenn die Partei es sagt, wird es gemacht. Das ist noch ein Manko." (Heval Sozdar)

Gerade die Persönlichkeit, die den eigenen Egoismus in den Vordergrund stellt, die nur an sich und die Familie denkt, soll überwunden werden. Die Menschen sollen wieder zusammenkommen. Und der Kampf bzw. die Organisation, die ihn führt, bewirkt Schritte in diese Richtung. Heval Rahsan: „ Einmal im Jahr gibt es die Linsenernte. Die Partei hat größere Felder gepachtet. Zur Erntezeit wird nun ein Tag festgelegt, an dem die Bevölkerung zusammengerufen wird. Dann begeben sich alle, ob Arzt, Taxifahrer oder Hausfrau, gemeinsam zu den Feldern, um die Linsenernte einzubringen. Auch andere Arbeiten für die Partei werden ähnlich organisiert. „

Auch in größerem Maßstabe wurde Trennendes bereits überwunden. Noch vor einigen Jahren war es so, daß man zu Kurden aus dem Norden oder dem 'Großen Süden' nicht offen war. Man sah sich als 'syrische' Kurden, und die anderen waren eben türkische oder irakische Kurden. Diese Sichtweise ist verschwunden. Die PKK hat ein gemeinsames nationales Bewußtsein in allen vier Teilen geschaffen.

Es gibt jedoch auch weiterhin charakteristische Merkmale der Kurden aus dem kleinen Süden. Im Guerillakrieg zeigen sich diese offen. Heval Mahmut: „Viele Freunde aus dem kleinen Süden, die in der Guerilla kämpfen, haben die erste Zeit eine gewisse Bequemlichkeit an sich. Sie wollen nicht so viele Strapazen auf sich nehmen und den leichteren Weg gehen. Diese Bequemlichkeit, die aus den ruhigen, sicheren Verhältnissen in Syrien herrührt, unterscheidet sie von den Kurden aus Nordwest-Kurdistan. „

Mit dem Wachsen des Kampfes werden auch diese Unterschiede immer kleiner und nichtiger. Von zentraler Wichtigkeit ist die schon oben genannte Tatsache, daß es der Arbeiterpartei Kurdistans gelungen ist, in allen Landesteilen ein gemeinsames nationales Bewußtsein in der Bevölkerung zu verankern.

Südkurdistan (Irak)

In Südkurdistan gehen zur Zeit große Veränderungen vor sich. Im August 1995 hatte die Guerilla eine Offensive gegen die Kräfte der feudalistischen KDP gestartet, die sich unter der Führung von Mesud Barzani befinden. Dieser hatte immer wieder in Zusammenarbeit mit der Türkei und unterstützt von den imperialistischen USA kleinere südkurdische Parteien und zuletzt auch mehrmals Kräfte der PKK angegriffen.
Abdullah Öcalan: „Die Aktion richtet sich gegen den traditionellen rückschrittlichen Nationalismus. Es ist ein Kampf gegen die Kollaborateure, die mit ihren falschen Spielen den Befreiungskampf in Kurdistan behindern.
Wir wollen damit die Spiele und Interessen des türkischen Staates und der USA in Kurdistan bloßstellen. Es ist wichtig, um Freund und Feind voneinander zu trennen. Vielleicht ist der Schritt etwas verspätet, aber an der Zeit. Wir wollen in diesem Gebiet, in dem das Volk demoralisiert und in einer sehr schlechten Situation ist, dieses wieder aufleben lassen. Der türkische Staat hat mit der letzten Operation versucht, diese Entwicklung zu verhindern. Damals sind wir noch nicht bereit gewesen, darauf zu antworten.
Unser Ziel ist es, eine Föderation in diesem Gebiet zu verwirklichen und dort eine Demokratie aufzubauen. Dieser Schritt ist gleichzeitig auch ein weiterer Schritt zum Nationalkongreß und der Bildung staatlicher Organisationen. „

Seit 1991 steht Südkurdistan, genauer: die Gebiete nördlich des 36. Breitengrades, unter dem Schutz der Vereinten Nationen. Die beiden größten Parteien in Südkurdistan, die Patriotische Union Kurdistans PUK unter Celal Talabani und die Demokratische Partei Kurdistans KDP unter Mesud Barzani, gründeten damals ein Parlament und eine Regierung. Sie teilten die Sitze untereinander im Verhältnis 50:50 auf. International wurde diese Föderation nicht anerkannt. Sie ist gekennzeichnet durch innere Schwäche und Instabilität. KDP und die PUK verfolgen nur sehr kurzfristige Eigeninteressen, sie sind nicht willens und nicht fähig, den Willen der Bevölkerung auszudrücken. Von daher verwundert es auch nicht, wenn immer wieder Kämpfe zwischen bewaffneten Kräften beider Parteien ausbrechen.

Diese chaotischen Zustände haben zu einem Machtvakuum geführt. Südkurdistan wurde so zum Tummelplatz der Geheimdienste der angrenzenden Länder sowie imperialistischer Staaten.

Diesen Zustand durch den Aufbau einer demokratischen Front zu überwinden und der Bevölkerung wieder eine Perspektive zu geben, ist eine Aufgabe in dieser Zeit.

 Bis 1970 gab es in Südkurdistan keine andere Bewegung als die KDP und ihre Peschmergas. Diese Partei, überhaupt das Leben, waren sehr stark durch feudale Strukturen geprägt. Das heißt, es war und ist eine stammartige Organisationsform. Jeder Stamm hat einen Anführer. Diese haben immer für die eigene Familie gekämpft und in die eigene Tasche gewirtschaftet. Es ging ihnen nicht um nationale Unabhängigkeit, auch wenn es im Kampf gegen Saddam zeitweise so aussah. Als politisches Ziel gaben sie immer die Autonomie innerhalb des Irak an. Diese Stammesstruktur hat sich auch nicht weiterentwickelt, sie vermag es von sich aus auch nicht.
Weil sich Barzani nie auf die eigene Kraft gestützt hat, sondern immer auf die Hilfe imperialistischer Mächte oder von Regionalstaaten wie z.B. Iran, so hat er immer große Niederlagen erlitten, wenn diese Unterstützung eingestellt wurde, wie z.B. 1974 von Iran und 1991 von den USA. Die Folge davon waren immer unzählige Tote der Zivilbevölkerung, riesige Flüchtlingsströme, größtes Leid.

In seinem Territorium hat Barzani nie eine andere Organisation akzeptiert. Er setzte seine Stellung wie ein mittelalterlicher Territorialfürst ohne Erbarmen durch.

In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die Patriotische Union Kurdistans PUK unter der Führung von Talabani zur zweitgrößten Kraft nach Barzani entwickelt. Heval Orhan: „Wo Mesud (Barzani) die Autorität hat, spielt sich das Leben in den alten traditionellen Strukturen ab. Wo Talabani Einfluß hat, ist eine kleinbürgerliche Lebensart entstanden. Dies geschah in Anlehnung an die europäische Kultur. Dort, in Europa, hatten viele Schule und Universität besucht oder einen Beruf erlernt. „

Die ökonomische Lage und die Versorgung der Bevölkerung ist sehr schlecht. Viele Menschen hungern. Eigentlich könnte mit der Unterstützung, die Barzani von den USA und der Türkei erhält, die Grundversorgung der Bevölkerung bei richtiger Verteilung sichergestellt werden. Zugleich wird keine Möglichkeit eröffnet, daß die Bevölkerung sich wirtschaftlich entwickelt und sich somit selbst versorgen kann. Dies wird bewußt nicht zugelassen, um das Volk stärker an sich zu binden und in Abhängigkeit zu halten. Ein anderes Beispiel verdeutlicht dies nochmals: Nach der Einrichtung der UN-'Schutzzone' fielen auch viele Bau- und landwirtschaftliche Maschinen in kurdische Hände. Aber anstatt diese für die Bewirtschaftung und den Wiederaufbau des Landes einzusetzen, wurden sie von den Cliquen um die Stammesfürsten in den Iran verkauft. Das Geld wanderte in die eigenen Taschen.

Der Unterschied zwischen arm und reich ist evident. In den Städten herrscht große Armut, und auch auf dem Land gibt es eine Reihe von Dörfern, deren Bewohner sich nicht selbst ernähren können. Heval Orhan: „Die Aghas und Stammesfürsten haben zum Teil Paläste, die es nicht einmal in Europa gibt. „

Die katastrophalen Zustände in Südkurdistan werden im Westen nur mit dem 'doppelten Embargo' zu erklären versucht. Zum einen ist es das Embargo, welches die UN nach dem 11. Golfkrieg gegen den Irak verhängt hat, zum anderen das von Saddam Hussein gegen den kurdischen Norden des Irak vollzogene Embargo. Doch diese Begründung verschleiert mehr, als daß sie die wahren Ursachen aufzeigt: die überkommenen gesellschaftlichen Strukturen. Heval Orhan: „lhren Reichtum haben die Stammesfürsten und Aghas vor allem durch ihre Kollaborationstätigkeit angehäuft ... Es ist sogar soweit gekommen, daß sich Teile der Bevölkerung nach Saddams Zeiten zurücksehnen, weil die ökonomische Situation besser war, im Gegensatz zu heute, wo sie sich nicht mehr ernähren können. „

Gerade in dieser Einstellung wird die ganze Dramatik der Situation der Bevölkerung in Südkurdistan deutlich.

Viele können sich keine positive Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse vorstellen. So greifen sie zurück auf ihre Erfahrungen. Und die besagen, daß Saddam -trotz der von ihm ausgeübten Greuel, Massaker und Giftgasangriffe - scheinbar doch das kleinere Übel ist, zu dem man zurückkehren könnte.

In dieser Situation hat ein rapider Verfall der sozialen und kulturellen Werte stattgefunden. So kann man Kurden finden, die für wenig Westwährung bereit sind, jemanden zu töten. Ebenso hat in einigen großen Städten die Prostitution zugenommen.
Sogar in der ARGK gibt es Fälle, die Ausdruck dieses Werteverlustes sind. Die Zahl der irakischen Kurden, die sich der Guerilla anschließen, hat ein hohes Maß erreicht. Betrachtet man die Fälle von Desertation und untersucht dabei die Herkunft der Deserteure, so fällt direkt ins Auge, daß die meisten von ihnen aus Südkurdistan stammen. Diese haben sich freiwillig gemeldet, bleiben 10-20 Tage bei der Guerilla, um dann mit Waffe und Ausrüstung wegzulaufen und diese zu verkaufen. Mit einer gewissen Bauernschläue versuchen sie, die Partei, die Befreiungsbewegung zu hintergehen, um an ein bißchen Geld heranzukommen. Ein waghalsiges Spiel im Kriege!

Oftmals hat die KDP in den letzten Jahren versucht, die in Not lebende Bevölkerung mit einem Sack Mehl zu kaufen, um sie dann auf die PKK zu hetzen.

Die PKK hat erst seit '92 allmählich eine Basis unter dem Volk in Südkurdistan finden können. Vorher war sie der Bevölkerung in den meisten Regionen einfach nicht bekannt. Es gab fast keine Kader oder Sympathisanten, die sie hätten bekannt machen können. Bis 1990 besaß die PKK nur Basen im unmittelbaren Grenzgebiet Irak-Türkei. Bekannter wurde sie allerdings durch die ständigen gemeinsamen Operationen der türkischen Armee und von KDP-Peschmergas, durch die massiven Invasionen und Bombardierungen von Seiten des türkischen Staates. Heval Orhan zu dieser Entwicklung: „1990 bis 1992 arbeiteten wir unter der Bevölkerung in Südkurdistan. Wir stellten fest, daß die Menschen unsere Bewegung mit großer Hoffnung betrachteten. Es war allerdings nicht möglich, unter der Bevölkerung Organisationsstrukturen aufzubauen. Die KDP hat immer wieder versucht, uns Hindernisse in den Weg zu stellen. Sie betrieben eine intensive Hetze, in der sie die PKK für alles Schlechte, Böse und Niederträchtige verantwortlich machten. Immer wieder wurden Sympathisanten von Unbekannten erschossen. Die Bevölkerung hatte damals schon keine Verbundenheit mehr mit der KDP. Sie hat dies aber aus Angst von Bestrafung nicht offen gezeigt. Es war eine Zeit des Schweigens. Ab 1992 gab es dann intensive Kontakte und eine erste Organisierung. Die Bevölkerung war durstig nach einer sozialistischen Führung. Deshalb hat die KDP ihre Kollaboration mit der Türkei intensiviert. 1992 gab es dann die erste große Auseinandersetzung, den 'Südkrieg' (6), ein Versuch, unsere Verankerungsarbeit zu unterbinden."

In immer mehr Gebieten entwickelte das Volk Vertrauen zu uns. So verbreiteten sich auch die Gedanken der PKK Immer wenn wir mit der Bevölkerung oder mit den Dorfvorstehern redeten, sagten sie uns, daß wir ihre einzige Rettung wären und sie große Hoffnung in uns hätten. Sie haben uns logistisch unterstützt.

Nach der letzten Operation 1995 (7) hat das Volk gesehen, daß wir eine Kraft sind, die nicht zu überwinden ist. Eine mächtige Kraft, die nicht zerfällt, die uns die Gelegenheit gegeben hat, selbst Dörfer, in die wir früher nicht mal nachts gegangen sind, tagsüber zu betreten und dort mit der Bevölkerung zu sprechen. Nach dieser Operation ist vielmehr die Bevölkerung von der PKK und ihrer Führung beeinflußt. Als die Menschen sahen, daß alle anderen Bewegungen nichts getan haben, haben sie von sich aus gesagt: Alle Organisationen sollen sich mit der PKK vereinigen, sie noch mehr stärken, damit sie eine noch größere Kraft hat. „

Seit 1994 sind Tausende Kurden aus Nordwest-Kurdistan über die Berge nach Südkurdistan geflohen. Es war der umgekehrte Weg, den 1988 - nach Halabja - und 1991 - gegen Ende des 11. Golfkrieges die Menschen aus Südkurdistan nehmen mußten.

Südkurdistan ist auf dem Weg, sich in ein riesiges Flüchtlingslager zu verwandeln. Die Menschen werden durch dosierte Lebensmittellieferungen, medizinische Hilfe und militärischen Schutz in Abhängigkeit gehalten. Eine Reihe westlicher Hilfsorganisationen hatten ihre Vertretungen im Land eingerichtet (8), wo sie auch die Rolle eines politischen Einfalltores für Interessen der westlichen Mächte spielten. Gegenwärtig sind allerdings nur noch US-amerikanische 'Hilfsorganisationen' (US-AID) anzutreffen.

Die Regionalmächte und imperialistische Länder halten sich jeweils verschiedene Gruppierungen in Abhängigkeit, spielen diese gegeneinander aus und versuchen so die Widersprüche für sich und die Erweiterung ihres Einflusses auszunutzen. Unter Einbeziehung der oben geschilderten feudalen Gesellschaftsstrukturen betreiben sie eine klassische Teile -und Herrsche Politik. Es besteht die Gefahr, daß das Volk gänzlich zur Manövriermasse fremder Interessen werden könnte.
Dieses düstere Zukunftsbild kann nur durch die Entwicklung einer starken Macht des kurdischen Volkes, die eigene Ansprüche formuliert, verhindert werden. Diesen Weg hat die PKK eingeschlagen.
 


(6) Invasion türkischer Truppen (20.000 Soldaten), die zusammen mit KDP-Peschmergas gegen ARGK-Einheiten vorgingen.
(7) März-Mai 1995: Invasion von über 35.000 türkischen Soldaten in Südkurdistan-Nordirak.
(8) So haben sie auch diese Krisenregion für sich und ihre Bankkonten erschlossen.