Erdoğans Krieg gegen die Toten

Seit Mitte des Jahres herrscht wieder ein offener Krieg in Nordkurdistan (Süd-Osttürkei). Ein Krieg des türkischen Staates gegen die Minderheiten, besonders gegen die Kurd_innen. Doch seit 1984 ein Krieg, der auf einen erfolgreichen Widerstand stößt. 1984 erklärte die kurdische Arbeiter_innenpartei den bewaffneten Kampf gegen das türkische Regime. Seit dem gingen viele Jahre ins Land und viele Menschen wurden vertrieben, ermordet oder sind im Kampf gefallen.
Wer sich der kurdischen Guerilla, den Volksverteidigungskräften (HPG) anschließt lässt alles hinter sich und führt ein Leben in Opferbereitschaft und Hingabe für ein freies kurdisches Volk in einem demokratischen Mittleren Osten. Fällt jemand von ihnen im Kampf, so werden sie als Märtyrer (kurdisch: Şehîd) gesehen, als Menschen, die ihr ganzes Leben für die Sache des Volkes eingesetzt haben und bis zum Letzten für Frieden und Freiheit einstanden.

Lange Zeit war es der kurdischen Bevölkerung nicht möglich ihre Gefallenen angemessen zu bestatte, da der türkische Staat dies gewaltsam verhinderte und viele Toten unter der Erde alter Kriegsgebiete verscharrt wurden.

In den letzten Jahren hat sich das kurdische Volk jedoch Stück für Stück befreit von der erdrückenden Angst vor dem Staat und der Knechtschaft unter dem türkischen Militär, immer mehr Märtyrer_innenfriedhöfe (kurdisch: Şehîdgeh) wurden erbaut.

Ein paar dieser Friedhöfe besuchte ich mit einer Delegation im Frühjahr während Newroz (dem Neujahrsfest), einer davon liegt bei Pîran (türkisch: Liçe), nordöstlich von Amed (türkisch: Dıyarbakır).
Der Besuch dieses Friedhofes war ein besonderer Moment. Wir waren auf dem Plateau einer Berglandschaft, zwischen diesen grünen Felsen erhob sich der Eingang dieses Ortes. Şehîdgeh a Ş.Amed û Ş.Hevîdar stand auf Eingangsportal – Märtyrer_innenfriedhof der Märtyrer Amed und Hevîdar.

Wir gingen also hindurch und betraten den Friedhof. Unser Ziel waren zwei Gebäude weiter oberhalb der Gräber. Kurdische Gräber, zumindest die der Gefallenen sind oberirdisch, dazu werden aus Marmorplatten so etwas wie feste Särge gebaut, die dann von oben mit Erde aufgefüllt und bepflanzt werden.
Auf halbem Weg, Mitten zwischen den Gräbern, stand ein einzelner noch vom nahen Frühling unberührter Baum. An ihm hingen Bänder und Tücher und man erklärte uns, dass es quasi auf jedem Märtyrer_innenfriedhof solch einen Baum gibt und dass die Menschen am Baum Andenken und Wünsche befestigen, als weitere Verbindung zu ihren Liebsten. Dazu ist es wohl wichtig zu verstehen, dass fast jede kurdische Familie jemanden hat, der in der Guerilla oder gefallen ist. Solche Orte der Erinnerung und des Gedenkens sind daher keine individuelle, sondern eine kollektive, gesamtgesellschaftliche Wichtigkeit.

Wir kamen schließlich bei den beiden Gebäuden an und wurden dort von einigen Müttern gefallener Kämpfer_innen in Empfang genommen. Sie nahmen uns mit in ein kreisrundes Haus, das als Begegnungsstätte genutzt wird. Sie erzählten von ihrem Leid und den Erfahrungen, die sie gemacht haben.
Der Friedhof wurde erst ein halbes Jahr vor unserer Delegationsreise erbaut und viele Familien haben seit den 90er Jahren das erste Mal die Möglichkeit, die Überreste ihrer Liebsten angemessen zu betrauern.

Anschließend durchstreifte ich den Friedhof, ging die Gräber ab mit all ihren Namen, Geburtsorten, Sterbedaten. Ich besuchte das andere Gebäude, in dem die Wände von oben bis unten vollkommen bedeckt waren mit Fotos der Gefallenen. Es war ein Raum des Gedenkens und des bewusst-werdens. Eine sehr tief gehende Zeit.

Später wurden wir gefragt, ob jemand von unserer Gruppe über Nacht bleiben will, so dass ein Teil unserer Delegation vor Ort blieb, während der Rest sich auf den Weg Richtung Amed machte.

Wir kehrten bei Anbruch der Dunkelheit zurück in das kreisrunde Haus und aßen zusammen. Nachdem wir alle versorgt waren, zeigte uns ein Heval (deutsch: Genosse oder Weggefährte, ein politischer Aktivist) ein Video, in dem festgehalten wurde, wie der Friedhof im Winter durch das türkische Militär mit Panzern angegriffen wurde.
Gerade dieser Friedhof stellte für die türkische Regierung eine Provokation dar, nicht nur das hier Kämpfer_innen der HPG und PKK lagen, nein, hier wurde auch eine mehrere Meter hohe Statur von Mahsum Korkmaz, einem gefallenem Kommandeur der Guerilla aufgestellt.
Die Armee kam also aus ihren befestigten Kasernen und griff mit Panzern den Friedhof und die Statur an.

Was uns relativ schnell auf fiel, war dass die Panzer deutsche Panzer waren. Die Helme der Soldaten deutsche Helme und die Gewehre zum Teil auch deutsche Gewehre waren. Das verwundert natürlich nicht angesichts dessen, dass die Türkei Mitglied der NATO ist und eine der wichtigsten Handelspartnerinnen Deutschlands dazu.
Was uns jedoch schockierte, war zu sehen wie Dinge, die in unserer Heimat produziert werden, hier Menschen unterdrücken und töten. Natürlich war uns allen klar, dass so etwas Realität ist, aber hier sahen wir es.

Wir sahen wie die türkische Armee mit deutschen Panzern diesen Friedhof angriff, die Statur zerstörte, die beiden Gebäude beschoss und wie zwei Männer, die versuchten gegen den Angriff Widerstand zu leisten getötet wurden, wie ihnen in den Kopf geschossen wurde.

Danach ging ich vor die Tür, ich brauchte einen Moment für mich. Ich ging zu dem Gebäude mit den vielen Bildern der Gefallenen und sah etwas, was mir vorher nicht aufgefallen war. Überall in der Außenwand befanden sich Einschusslöcher. Ich ging weiter zu dem Sockel der Statur und sah die Beschädigung und die Spuren der Panzer auf den Marmorplatten.
Das war kein Film, das war echt. Was eben noch in einem Fernseher lief, in dem wir uns so oft Actionfilme und sonst was ansehen und der uns immer zu allem eine Distanz gibt, war hier plötzlich spürbar und ganz nah.

Wir redeten noch lange und teilten uns untereinander mit, bis wir schließlich einschliefen. Wir alle, unsere Delegation, die Mütter und Familien, die kurdischen Aktivist_innen, wir alle schliefen zusammen in diesem kreisrunden Raum. Zu viert teilten wir uns eine schmale Matratze und eine Decke, wir lagen direkt auf dem Boden und dennoch habe ich dort so gut geschlafen wie schon lange nicht mehr, es war ein Raum der Gemeinschaft und des Zusammenhalts.

Heute habe ich in den kurdischen Nachrichten einen Artikel gelesen, einen Artikel über die Zerstörung der Märtyrer_innenfriedhöfe. Über die Zerstörung eines Märtyrer_innenfriedhofs bei Liçe. Und ich stockte beim Anblick der Bilder, den es war eben jener Friedhof, der für mich eine besondere Bedeutung erlangt hat.

Erdoğan zeigt, das es ihm nicht darum geht den bewaffneten Widerstand der Guerilla zu brechen, sondern den Willen und das Aufbegehren des kurdischen Volkes zu zerschlagen. Seine Äußerungen fallen zurück und machen die wertvolle Arbeit des Friedensprozesses zu Nichte, wenn er behauptet: „Es gibt keine Kurdenfrage“. Er will keinen Frieden, er will Macht und ein Teil dieser Macht ist die Selbstbestimmung der Minderheiten zu vernichten und dafür ist Erdoğan auch bereit einen Krieg gegen die Toten zu führen.

Doch eins ist wohl allen bewusst, auch wenn die Orte des Gedenkens zerstört werden, so bleiben die Erinnerungen bestehen, denn die Märtyrer_innen sind unsterblich! Şehîd namirin!

Florian Holz
Hamburg, den 21. Oktober 2015