"Wir betreiben keine Politik, die einseitig im Interesse einer Nation steht"

Gemeinsam für Demokratie und Freiheit

Interview mit Muzaffer Ayata, Mitglied im Exekutivrat der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), über das Ende des „Friedens“-Prozesses in der Türkei, über die erneut aufgenommenen kriegerischen Auseinandersetzungen und über Aspekte des Kampfes der kurdischen Freiheitsbewegung für die demokratische Autonomie.

In den letzten zwei Jahren gab es die Friedensgespräche und -verhandlungen. Wie sahen die aus und weshalb sind sie gescheitert?

Im Wesentlichen wurde der Prozess mit der Regierung geführt. Die Opposition konnte sich der Verhandlungen nicht annehmen. Die MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) ist eine rassistische Partei und gegen jede Annäherung. Sie ist für einen Vernichtungskrieg. Die CHP (Republikanische Volkspartei) hat es nicht geschafft, sich vom starken Einfluss des kemalistisch-nationalistischen Flügels zu befreien, und somit keinen demokratischen oder sozialdemokratischen Kurs eingeschlagen. Die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ist seit dreizehn Jahren allein an der Regierung. Ihre Ideologie ist an eine türkisch-islamische Synthese angelehnt, in Wirklichkeit aber nationalistisch und etatistisch. Umso mehr sie den Staat okkupierte, umso weiter entfernte sie sich von der Demokratie und dem Bestreben, eine neue Verfassung zu formulieren, welche die 1982er Verfassung der Putschisten ersetzt.
Als die kurdische Frage ein großes und alles bestimmendes Problem in der Türkei wurde, scheiterten die Regierungen von Turgut Özal, Tansu Çiller, Mesut Yılmaz, Bülent Ecevit. Sie gingen an den Kriegsbedingungen zugrunde, ihre Parteien haben sich nach und nach aufgelöst, sind heute nicht mehr existent.
In diesem Vakuum bildete sich die AKP. Anfangs hatte sie die Unterstützung der Europäischen Union und vieler anderer. Sie sagten, sie wollten in die EU eintreten und würden Reformen in die Wege leiten. Als sie ankündigten, die kurdische Frage lösen zu wollen, hat die kurdische Seite ihre Verantwortung gesehen und war nicht abgeneigt. In der Öffentlichkeit war dieses Thema in den letzten zwei Jahren viel präsenter, weil die AKP offiziell erklärt hatte, mit der PKK und deren Vorsitzenden Abdullah Öcalan im Dialog zu stehen. Von der Öffentlichkeit hat dieser Prozess zunehmend positive Reaktionen erfahren, zum ersten Mal gab es in der Türkei keine militärischen Zusammenstöße und eine Friedensphase, was der Bevölkerung zugutekam. Die will auch keinen Krieg mehr, sie hat ihn satt und ist kriegsmüde.
Die Türkei hat mit Bombardements, Folter, Massakern, Dorfverbrennungen, Vertreibung nichts erreicht. Die Kurden haben Widerstand geleistet.
Die Bevölkerung sagte, wenn das Problem durch Gespräche mit dem PKK-Vorsitzenden zu lösen ist und keine Särge mehr nach Hause kommen, dann habt ihr unseren Segen. Sie gab der Regierung sozusagen Vertrauensvorschuss. Die kurdische Bevölkerung wollte sowieso Frieden; es war einfacher, sie zu überzeugen. Denn sie war ein Teil des Konflikts, sie musste viel Leid erfahren und hatte viele Opfer zu beklagen. Die Führung der kurdischen Bewegung näherte sich der Phase auch positiv an. Und als das Gesamtbild abzusehen war, entstand zum ersten Mal ein gesundes und objektives Umfeld für Frieden und Dialog.
Aber in dieser Situation kam keine ausreichende Unterstützung von außen. EU und USA hatten sich positiv zur Friedensphase geäußert, doch dem folgten keine Taten. Diese Gespräche, das Ende der Zusammenstöße und der Frieden fanden keine gesunde Stütze auf internationaler Ebene. Es gab keine Vermittler oder internationale Beobachtungsdelegationen, die diese Phase hätten unterstützen können. Und die Türkei – also, die war immer gegen eine Begleitung oder gar eine Aufsicht des Prozesses durch Dritte.
Das haben wir von Anfang an als Risiko und Gefahr gesehen, sozusagen als die Schwäche des Prozesses.
Die Türkei hatte zuletzt vor der Wahl der Gründung einer Beobachterdelegation zugestimmt. Und in diesem Rahmen legte unser Vorsitzender Öcalan ein Zehnpunktekonzept zur Veränderung und Demokratisierung der Türkei vor. Die Regierung hat das Konzept anfangs akzeptiert und vom Dolmabahçe-Palast aus wurde es durch Delegierte der HDP (Demokratische Partei der Völker) und der Regierung der Öffentlichkeit vorgestellt. Nach der Bildung einer Beobachterdelegation, die sich mit Öcalan getroffen und den Beginn der Gespräche beaufsichtigt hätte, hätte die PKK aufgerufen werden sollen, die Waffen nicht mehr gegen die Türkei einzusetzen. Und die PKK hätte auf einem Kongress beschlossen, den bewaffneten Widerstand gegen die Türkei einzustellen.

Nach der Erklärung von Dolmabahçe äußerte Erdoğan, dieses Konzept nicht zu akzeptieren, es sei falsch und unnötig. Was denken Sie, weshalb?

Das war während des Waffenstillstands die kritischste oder auch tragischste Phase, denn sowohl in der Türkei, in Kurdistan, dem Mittleren Osten als auch weltweit hat jeder auf den Frieden geschaut, als wäre der mit Händen zu greifen, wenn man nur die Arme ausgestreckt hätte. Als eine Stabilisierung und erste Erfolge zu erkennen waren, erklärte Erdoğan, Öcalan nicht legitimieren zu wollen, es gäbe keine Kurdenfrage, und die Beobachtungsdelegation und die Dolmabahçe-Erklärung und die ganze Phase seien falsch und nichtig. Er hat somit dem Prozess den Todesstoß versetzt und dadurch alles beendet.
Er war zu der Zeit Präsident und seine Partei, die AKP, an der Regierung. Letztere hatte die Gespräche geführt und trug die Verantwortung, sie hatte der Beobachtungsdelegation zugestimmt und es wurden auch schon Namen gehandelt. Aber Erdoğan konnte diese Regierung nicht standhalten, musste sich ihm so beugen und nach ihm richten. Auf diese Weise wurde die Friedensphase beendet, und zwar damals und nicht jetzt, wo die Gefechte stattfinden. Der Frieden wurde damals offiziell beendet, doch real ist der Krieg erst mit der Zerstörung, Verbrennung und Bombardierung Kurdistans geworden.

Aber Erdoğan sagt, die PKK sollte sich zurückziehen, habe dies aber nicht getan. Sie würde alles verzögern und tun, was sie wollte. Das sei der Grund für das Ende des Friedens.

Das ist eine simple Lüge. Die Europäer z. B. während der Konflikte im Baskenland, in Irland oder anderer bewaffneter Konflikte, wie hätten sie denn ohne Abmachungen, ohne Einleitung eines ernsthaften Annäherungsprozesses und vertrauensbildende Maßnahmen und insgesamt einen bestimmten Fortschritt ihre Waffen niederlegen können?
Denn die Waffen wurden ja nicht erst gestern in die Hand genommen, sie sind ein Bestandteil dieses schweren Konfliktes. Wenn dieser schwere Konflikt, der auch ein geschichtlicher und gesellschaftlicher Konflikt ist, nicht entspannt wird, wenn also kein Vertrauen aufgebaut wird und weder verfassungsmäßige noch internationale Rechte verankert werden, wie sollten denn die beiden Seiten das akzeptieren? Warum hat die Türkei z. B. die Verfassung nicht geändert?
Die PKK hatte den Rückzug beschlossen und in die Tat umgesetzt, viele Guerillakämpfer waren aus der Türkei abgezogen. Damit sollte die Verfassung geändert werden, so war die Abmachung. Aber Monate waren vergangen, trotz Guerillarückzugs bewegte sich die türkische Seite überhaupt nicht. Sie verhielt sich, als gäbe es ein solches Abkommen nicht. Als Reaktion darauf stoppte die Führung von PKK und KCK den Rückzug. Die PKK hatte zuvor die Öffentlichkeit gewarnt, wenn ein Waffenstillstand eingegangen wird, dann werden die Positionen der beiden Parteien gehalten oder es gibt einen gewissen Rückzug zur Entspannung der Situation. Aber die Türkei hat ständig genau das Gegenteil davon getan. Für militärische und Kriegszwecke wurden überall Militärstützpunkte gebaut, besonders gesicherte. Es wurden Staudämme gebaut, Straßen fürs Militär, kurdische Regionen überflutet, um die Guerilla einzukreisen, damit sie keine Bewegungsfreiheit mehr hat. Das sind militärische Vorbereitungen. Trotz allem hat die PKK am Rückzug festgehalten, ihn vorangetrieben und sich an die Abmachungen gehalten. Niemand kann behaupten, dass von der PKK während der Friedensphase militärische Angriffe ausgegangen seien. So etwas gab es nicht. Die PKK hat viele Jahre gekämpft. Der Konflikt hat den Punkt erreicht, an dem er gelöst werden muss. Er ist reif für eine Lösung, aber militärisch geht es nicht.

In der Türkei gab es die Parlamentswahl und die Wahlkampfphase. Die HDP erzielte mehr als zehn Prozent der Stimmen. Wie bewerten Sie das?

Das ist auch einer der Gründe, weshalb die Friedensphase beendet wurde. Bei den vorigen Wahlen hatte Erdoğan die PKK jedes Mal um einen taktischen Waffenstillstand fast schon angefleht. Weil in unruhigen Zeiten keine vernünftige Wahl abgehalten werden kann, wodurch sie dann ihre Macht behalten könnten. Bei der jüngsten Wahl, nach der Dolmabahçe-Erklärung, führte die Regierung Umfragen durch, wonach abzusehen war, dass die AKP einen wichtigen Teil ihrer Stimmen verlieren würde.
Die AKP war zermürbt, sie konnte ihre Versprechen nicht mehr halten, zunehmend entfernte sie sich von der Demokratie, wurde autoritärer. Nach der Wahl Erdoğans zum Präsidenten beharrte er verstärkt auf einem Präsidialsystem, er forderte es von der Bevölkerung. Er wollte wie früher Regierung und Staat selbst lenken.
Und als er sah, dass die AKP Stimmen verliert, begann er eine Kampagne, damit die HDP unter der Zehnprozenthürde bleibt. Die AKP trat zur Wahl an und führte den Wahlkampf als Partei und Erdoğan, als Präsident, zog ebenfalls wie eine Partei in den Wahlkampf. Öffentlich sagten sie, die HDP müsse unter der Zehnprozenthürde bleiben. Diese Hürde ist ohnehin undemokratisch, nirgends existiert eine solche. Und die HDP und ihre Vorgängerparteien waren sowieso schon, um nicht an der Hürde zu scheitern, mit unabhängigen Kandidaten angetreten. Aber dieser Zustand musste geändert werden, eine Ausnahme war in der Türkei zur Regel geworden.
Die HDP berücksichtigte die ganze Bevölkerung der Türkei, also die demokratischen Kräfte, die Arbeiter, die Aleviten und alle anderen Minderheiten. Mit einem wirklichen demokratischen Programm. Mit einem wirklichen Projekt, das alle Gesellschaften der Türkei mit einschließt.
Mit dem Bekanntwerden des Ganzen stand die AKP unter Druck. Und sie begann, die HDP anzugreifen. Trotz all dieser Angriffe erhielt die HDP 13 Prozent der Stimmen, ein Riesenerfolg. Das konnten sie nicht ertragen. Heute bombardieren die türkischen Flugzeuge die Berge Kurdistans, aber die wirklich tragischen Angriffe muss die HDP ertragen.
Stellen wir uns einmal vor, unter einer Militärregierung werden an einem Tag 500, gar 1000 Menschen verhaftet. Aber die Türkei hat in ein, zwei Tagen mehr als 1300 HDP-Mitglieder, die Führung und Mitarbeiter verhaftet. Terrorisieren, verhaften, kriminalisieren, unter Druck setzen und die Menschen nicht mehr arbeiten lassen, so versuchen sie die HDP zu zermürben, sie ohne Menschen dastehen zu lassen. Das allein zeigt schon, dass die AKP und Erdoğan keinen echten Frieden, keine echte Demokratie auf ihrer Agenda haben. Davor hatten sie die PYD (Partei der Demokratischen Einheit) bedroht und nach dem Fall von Girê Spî (Tall Abyad) bekundete Erdoğan erneut, keine kurdischen Kantone und Regierungen zu dulden und sie, koste es was es wolle, zu verhindern. Die Welt weiß, dass tausende Kämpfer von DAIŞ [aus dem Arabischen übernommene Abkürzung für den Islamischen Staat (IS)] über die Türkei in die Kampfgebiete ziehen und die Türkei als sicheres Rückzugsgebiet nutzen, um unter anderem auch ihre Kämpfer zu behandeln. Sie konnten dort ungehindert agieren, sich versammeln und organisieren. Es entstand ein DAIŞ in der Türkei neben dem in Irak und Syrien. Die Sprengstoffanschläge, z. B. im Wahlkampf in Amed (Diyarbakır) oder zuletzt in Pîrsûs (Suruç), als mehr als dreißig Menschen ermordet wurden, das alles kam nicht aus dem Nichts. Als die Türkei einerseits im Norden den Friedensprozess führte, unterstützte sie DAIŞ finanziell, militärisch, mit Ausrüstung, ließ sie sich organisieren und in Rojava gegen die Kurden kämpfen. Tausende Kurden wurden so verletzt und umgebracht, mussten ihre Dörfer verlassen und DAIŞ zerstörte alles, was übrig blieb. Aber als DAIŞ zurückgedrängt wurde und Verluste einstecken musste und die USA mit der internationalen Koalition und in Zusammenarbeit mit YPG und YPJ (Volksverteidigungs- und Frauenverteidigungseinheiten) DAIŞ angriff, störte das die Türkei. Die Türkei hatte immer wieder gemahnt, die PYD sei schlimmer als DAIŞ; hier geht es um Hass auf Kurden.
Auf einem kleinen Territorium in Syrien wollen einige wenige Millionen Kurden eine Selbstverwaltung aufbauen, in den Gebieten, in denen sie bereits leben. Das hat DAIŞ nicht gefallen und deshalb haben sie angegriffen. Warum sollten sie das denn tun? Aus welchem Grund? Wenn sie einen islamischen Staat gründen wollen, dann wäre es sinnvoller, sie gingen nach Bagdad oder nach Damaskus. Aber sie sind nach Rojava gekommen und haben es angegriffen. Das ist mit Sicherheit ein Projekt der Türkei. Deren Zusammenarbeit mit DAIŞ hat die ganze Welt mitbekommen. Dokumente, die das belegen, wurden veröffentlicht. Und jetzt, wo sie gezwungen ist, gegen DAIŞ zu kämpfen, positionierte sie sich kurz gegen DAIŞ und versteifte sich tatsächlich aber auf die PKK. Die PKK sei gefährlicher, und viel zahlreicher. Indem sie die PKK angreift, ermöglicht sie DAIŞ aufzuatmen. Sie geht über zur aktivsten Unterstützung für DAIŞ, denn indem sie die PKK angreift, verdrängt sie DAIŞ aus der öffentlichen Wahrnehmung. Dadurch können die viel besser agieren und sich erholen.

In Rojava gab es Fortschritte für die Kurden, die Wahlen in der Türkei waren für sie ebenfalls ein großer Erfolg und natürlich hatte die kurdische Bewegung während der Friedensphase einen Riesenerfolg zu verzeichnen. Sie sagen, die Türkei zerstört alles. Was wird die Antwort der PKK darauf sein?

Die westliche und vor allem die europäische Öffentlichkeit müssen sich fragen, was eigentlich Terrorismus ist. Das hat DAIŞ hinreichend gezeigt meiner Meinung nach.
Die PKK hat auf ihrem Boden für das Recht ihres Volkes gekämpft. Es gab keine Angriffe auf irgendwelche Staaten, internationales Recht wurde nicht verletzt. Aber die Türkei hat ihren Einfluss aufgrund ihrer NATO-Mitgliedschaft ausgenutzt und dadurch die PKK zur Terrororganisation erklärt, und darauf gestützt konnte sie ein Bündnis mit DAIŞ eingehen, die Feinde aller menschlichen Werte sind und die Geschichte der Menschheit zerstören.
Läge die Türkei nicht im Mittleren Osten, hätte sich DAIŞ nicht derart entwickeln können und nicht diese Stärke erlangt, das ist kein Geheimnis. Die Türkei ist in dieser Frage schuldig. In dieser Situation müssen die westliche Öffentlichkeit und besonders die Demokratiekräfte dort auf die richtige Art und Weise mit der Türkei sprechen. Sie müssen mit den Kurden ernsthafte Beziehungen aufbauen. Wir stehlen nicht die Freiheit eines Menschen oder eines Volkes, wir tun das genaue Gegenteil. Wir wollen einen Mittleren Osten, der frei und demokratisch ist, der föderal ist.
Die Türkei greift das an, mit Raketen, mit Einschüchterungsversuchen. Sie haben es sehr oft versucht. Die PKK ist fest verwurzelt in den Bergen Kurdistans, sie leistet seit dreißig, vierzig Jahren Widerstand. Die Drohungen der Türkei können sie nicht einschüchtern. Ihre kämpferischen Fähigkeiten und Möglichkeiten und das Gebiet, in dem sie sich bewegen kann, sind größer als je zuvor.
Die Türkei hat den Krieg allein begonnen, aber den Krieg kannst du nicht einseitig beenden. Von nun an hängt der Verlauf des Krieges von der Haltung und den Fähigkeiten der PKK ab.
Wir wollten keinen Krieg. Die Menschen sollten nicht von Neuem sterben, sie sollen miteinander reden, miteinander diskutieren können. Heute haben wir eine achtzigköpfige HDP-Fraktion im Parlament, die sollten eine neue Verfassung in Kraft setzen. Sie sollten sich für Frieden und Demokratie verantwortlich fühlen. Die PKK hat das mit allen Mitteln unterstützt. Aber die AKP antwortet weiter wie bisher mit Krieg und Mord. Neben allem bereits Genannten führt sie auch einen Medienkrieg. Sie hat ein großes Medienimperium aufgebaut und nutzt die staatlichen Fernsehkanäle und führt einen unerbittlichen Medienkrieg gegen uns, viel intensiver als die Luftschläge. Die Bevölkerung wird gegeneinander aufgehetzt, eine Flut von Falschmeldungen hindert die Menschen daran, richtige Informationen zu erhalten. Medienunternehmen werden bedroht, viele von ihnen trauen sich keinen objektiven Journalismus mehr, sie können nicht einmal Nachrichten veröffentlichen. Eine solche düstere Türkei wurde geschaffen.
Aber wir werden das alles überwinden. Dieses Volk und diese Bewegung werden Widerstand leisten. Genauso wie all die anderen Parteien in der Bedeutungslosigkeit versunken sind, wird auch die AKP von diesem Schicksal ereilt werden. Alle Spielchen Erdoğans haben die Türkei in ein solches Chaos geführt. In diesem Chaos werden sie Neuwahlen anstreben und sollte die AKP nicht erneut die absolute Mehrheit im Parlament erreichen, dann wird Erdoğan nicht mehr so viel Einfluss auf die Regierung haben. Deshalb haben sie den Krieg angefangen, um zu sagen, dass die Türkei in einem solchen Chaos nicht von einer Koalition regiert werden könne, um ein paar mehr Prozente Stimmanteil zu bekommen und anschließend die Regierung allein zu stellen. Erdoğan strebt erneut die absolute Mehrheit an, indem er die Bevölkerung zwingt, ihr Blut zu vergießen, indem er einen Krieg führt. Sie versuchen es nicht durch Demokratie. Sie wollen durch ein Komplott an die Macht kommen.
Die Wahl am 7. Juli hatte ein Ergebnis, nach dem eine Regierung zu bilden war. Aber Erdoğan hat, indem er den Krieg begonnen hat, dieses Ergebnis für nichtig erklärt. Er sagt, Neuwahlen seien unumgänglich.
Die Wahl war ein Riesenaufwand, überschattet von sehr viel Gewalt. Und nur möglich durch einen monatelangen Wahlkampf.
Bisher hat sich Erdoğan immer auf den Willen der Bevölkerung berufen. Aber jetzt, wo die AKP nicht mehr allein regieren kann, zählt dieses Argument nicht mehr. Seine Reaktion darauf ist Krieg.
AKP und DAIŞ ähneln sich in ihrer Weltanschauung sehr. Nur weil sich die AKP einen bereits existierenden Staat einverleiben konnte, muss sie nicht auf dieselbe Art und Weise Gewalt einsetzen wie DAIŞ.

In den letzten zwei Wochen finden wieder verstärkt Gefechte statt, in Südkurdistan werden die Meder-Verteidigungsgebiete bombardiert. Können Sie uns sagen, welche Auswirkungen das hatte?

Die Natur wurde zerstört, viele Wälder brennen, sowohl in Süd- als auch in Nordkurdistan. Die Bombardierungen finden unkontrolliert, ohne Regel statt, große Gebiete werden bombardiert. Und sie verkünden dann, die PKK hätte keine Rückzugsgebiete mehr, ihre Unterkünfte und alles Mögliche seien zerstört. Es gibt für diese Bombardierungen kein Recht, weder ein nationales noch ein internationales, niemanden, der es kontrolliert, und keinen, der fragt. Sie lassen ihre Flieger aufsteigen und zerstören alles.
Zuletzt haben sie im Dorf Zergelê acht Zivilisten getötet. Obwohl sie genau wissen, dass dort ein Dorf ist, bombardieren sie es. Fünf Wohnhäuser wurden dem Erdboden gleichgemacht. Dass dies kein militärisches Ziel und kein militärisches Gebiet ist, wissen wir alle. Wer kann das denn nicht wissen? Es war die Mitte des Dorfes. Diesem Massaker fielen Zivilisten zum Opfer.
Die Guerilla hat große Kriegserfahrung, sie weiß, wie sie sich zu verhalten hat, wenn Kampfjets mit ihren Raketen kommen. Wir haben insgesamt weniger als fünf Personen, die ihr Leben lassen mussten durch diese Bombardierungen. Militärisch werden sie damit keine Erfolge erzielen. Sollte die Guerilla sich einmal in Bewegung setzen und sich mit all ihren Kapazitäten am Kampf beteiligen, dann wird die Türkei keinen Schritt tun können. Es ist bereits bekannt, die türkischen Soldaten können nicht auf dem Boden kämpfen. Es gibt auch kein Militär, das vom Sieg überzeugt ist. Die Türkei hat in der Vergangenheit bereits alles versucht. Sie haben militärisch nur einen Vorteil, und zwar in der Luft. In Verbindung mit dem medialen Krieg versuchen sie, einen psychologischen Vorteil zu schaffen, indem sie alle bedrohen und auf Linie zu bringen versuchen. Im Grunde geht es nur darum, den Staat wieder unter Kontrolle zu bekommen. Das türkische Militär ist nur ein Werkzeug für die eigentlichen Ziele, und das Militär hat keine eigene Haltung, es ist schwach.

Sie sagen, in dieser Situation hat sich die Guerilla noch nicht wirklich in Bewegung gesetzt. Meinen Sie, der Krieg wird ausgeweitet?

Der Krieg hat sich bereits ausgebreitet, er ist bis nach Zergelê, bis nach Kandil ist er schon gekommen. Kandil ist mehr als 300 km von der türkischen Grenze entfernt. Der Krieg wird auch bereits in Rojava ausgetragen. Mischt sich die Türkei denn nicht bei den Angriffen auf Rojava mit ein? Wäre es möglich, dass DAIŞ sich so lange auf den Beinen halten und sich stärken kann ohne die Unterstützung der Türkei? Welches Land musste denn die ganzen Kader des Islamischen Staates die Grenze überqueren lassen, damit sie in die Kriegsgebiete gelangen konnten? Von überall her wurden Kämpfer angeworben und nach Syrien geschickt. Über welches Land gelangten sie denn nach Syrien? Über die Türkei natürlich.
Einige DAIŞ-Kämpfer sind während der Kämpfe in die Türkei geflohen und haben sich dort ergeben. Warum sind sie in die Türkei? Weil sie sich dort wohlfühlen, es ist ein sicheres Land für sie. Was mussten denn die Dschihadisten in der Türkei über sich ergehen lassen, nachdem sie sich ergeben hatten? Nichts mussten sie, weil es für sie kein Gefängnis gibt.

Sie haben von Rojava gesprochen. Wie sieht die Situation dort aus? Können Sie uns etwas dazu sagen?

Die Kräfte in Rojava haben ihre eigene Planung. In dem Rahmen leisten die Kräfte der PYD gemeinsam mit YPG und YPJ Widerstand. Rojava hat einen starken Einfluss auf die Opposition im Rest des Landes. Mit vielen demokratisch-oppositionellen Gruppen agiert die PYD gemeinsam. Sie ist bestrebt, eine syrische Front mit demokratischen arabischen Kräften aufzubauen, damit ganz Syrien demokratisiert wird. Die Probleme in Syrien sind nicht allein durch die Kurden zu lösen. Es bedarf breiter demokratischer Bündnisse und Gruppen in Syrien. Die Türkei hat bis jetzt immer versucht, dies zu verhindern. Ihr Bestreben lag darin, arabische Gruppen zu kontrollieren und die Kurden auszugrenzen, gleichzeitig aber auch DAIŞ gegen alle kämpfen zu lassen. Sie engagierte sich dafür, dass DAIŞ und Al-Nusra große Gebiete kontrollieren konnten. Die PYD und ihre Verbündeten können jetzt weit effektiver und auf breiter Front dagegen ankämpfen. Die Weltöffentlichkeit akzeptiert sie, sie haben eine solche Legitimation. Diese wird sich hoffentlich weiter ausweiten.

Wie sieht die Situation in Südkurdistan aus? Eine Zeit lang gab es Bestrebungen, einen kurdischen Nationalkongress ins Leben zu rufen. Gibt es sie immer noch?

Diese Bestrebungen bestehen weiterhin. Für die Kurden gab es zum ersten Mal sowohl im Mittleren Osten als auch international eine solche positiv gestimmte Atmosphäre. Alle kurdischen Kräfte waren dafür, alle Freunde Kurdistans ebenfalls. Der Wunsch war, eine gemeinsame Vertretung nach außen zu schaffen, eine gemeinsame Armee und, am allerwichtigsten, einen gemeinsamen Willen. Aber leider hat das die PDK (Demokratische Partei Kurdistans) verhindert. Der Barzanî-Clan besetzt alle Schlüsselpositionen in der kurdischen Autonomieregierung. Die PDK will nicht an dem Kongress teilnehmen, weil dort gemeinsame bindende Entscheidungen getroffen werden. Denn die Regierung Südkurdistans hat zurzeit den unabhängigsten Staat der Welt. Sie sagen zwar, dass sie sich als souverän erklären wollen, aber noch unabhängiger werden können sie im Prinzip gar nicht. Sie sind weder an das internationale Völkerrecht gebunden noch an die Verfassung des Staates Irak. Eine eigene Verfassung haben sie ohnehin nicht. Sie machen also das, was sie wollen.
Und weil es so ist, wollen sie nicht gemeinsam mit den anderen Teilen und mit den Organisationen Kurdistans gemeinsame Abmachungen treffen, die sie dann binden würden.
Sie haben z. B. von Südkurdistan bis in die Türkei hinein eine Erdölpipeline gebaut. Über die verkaufen sie das Öl. Aber niemand kann diese Verkäufe überwachen. Niemand weiß, wohin das Geld geht oder wie viel Öl durch diese Pipeline fließt.
Und weil es so ist, konnte die PDK dieses begrenzte Denken, das nur die eigene Partei, den Barzanî-Clan im Fokus hat, nicht überwinden. Sie konnten nicht ihre Beschränktheit überwinden, sie konnten nicht sagen, dass ganz Kurdistan frei und demokratisch sein soll. Stattdessen haben sie immer nur gesagt, es soll ihres sein, in ihrer Hand und unter ihrer Autorität. Und weil es so ist, ist ein kurdischer Nationalkongress nicht möglich. Wir haben viel Kraft aufgewandt, jahrelang haben wir dazu aufgerufen. Wir haben sogar Mesûd Barzanî den Vorsitz angeboten. Aber trotzdem nähert er sich dem nicht an. Demokratie, ein gemeinsames Rechtssystem und eine gemeinsame Verantwortung würden ihn ersticken, in seiner Bewegungsfreiheit einschränken. Der Einfluss der anderen Bewegungen würde sich festigen. Das will er nicht und wenn er nicht will, dann läuft diese Sache halt nicht.

Es gab eine Stellungnahme von Barzanî zu den aktuellen Angriffen auf die Meder-Verteidigungsgebiete. Er bekundet seine Treue gegenüber der Türkei. Was sagen Sie dazu?

Das ist eine Fortsetzung seiner bisherigen Politik. Genau so sind sie auch mit Rojava verfahren. Sie sind die Verbündeten der AKP. Bei den Parlamentswahlen in der Türkei unterstützte die PDK die AKP. Die anderen Parteien wie Gorran (Wandel) oder die YNK (Patriotische Union Kurdistans) traten öffentlich für die HDP ein, aber die PDK tat das nicht.
Sie schließt andere Kräfte Kurdistans aus. Für sie zählt nur eins: Der Süden gehört uns, hier zählt nur unser Wort, hier zählt nur unsere Macht!
Die Türkei hat Teile Südkurdistans bombardiert, ihr Land, ihre Bevölkerung ist gestorben, ihre Dörfer wurden zerstört. Die PDK hat eine Verantwortung gegenüber diesen Dörfern, sowohl ethisch und moralisch als auch politisch und juristisch. Aber sie haben die Türkei für die Anschläge nicht verurteilt. Ganz im Gegenteil, sie haben die PKK verurteilt.
Natürlich kann es sein, dass die PKK Fehler hat, in manchen Punkten unzureichend ist. Die PKK könnt ihr jederzeit kritisieren, das ist euer natürlichstes Recht. Aber hier greifen euch feindliche Kräfte an und töten die Bevölkerung Kurdistans. Hier ist es ein fatales Signal, eure internen Widersprüche dem Feind auch noch so zu präsentieren.
Als DAIŞ Maxmur angegriffen hatte und in Hewlêr (Arbil) keine Menschen mehr geblieben waren, da kam die Guerilla und kämpfte an der Front gegen DAIŞ. Da begann die Guerilla nicht damit, die PDK zu kritisieren, sondern als Erstes an der kurdischen Einheitsfront zu kämpfen. Ein anderes Kurdistan muss angestrebt werden, in dem die gesellschaftlichen Projekte gegeneinander antreten können. Aber gegen feindliche Kräfte, die uns zu vernichten, zu belagern oder einzukerkern trachten, müssen wir gemeinsam kämpfen.
Doch die PDK hat nicht eine solche Mentalität, aus der wiederum die Türkei Kraft schöpft. Ein weiteres Beispiel dafür ist, dass sich einen Tag vor dem Angriff auf Zergelê türkische Minister mit Barzanî getroffen hatten. Im Anschluss daran wurde das Dorf Zergelê bombardiert und etliche Zivilisten wurden ermordet. Hätte Barzanî eine eigene Haltung, wäre das mit Sicherheit nicht passiert.

Im Verlauf dieses Interviews haben Sie uns einen gewissen Einblick in die aktuelle Lage Kurdistans verschafft. Wenn sich die PKK das alles vor Augen führt, wie wird sie dagegen ankämpfen? Wie wird der Kampf dagegen aussehen?

Legal, militärisch, diplomatisch, politisch und zusammen mit der Gesellschaft werden wir diesen Kampf fortsetzen. Mit den linken und demokratischen Kräften aus der Türkei, aus Europa, aus der ganzen Welt und mit den fortschrittlichen Kräften aus dem Mittleren Osten. Wir sind für ein Miteinander der Gesellschaften, die Demokratie, und das für die ganze Welt. Wir betreiben keine Politik, die einseitig im Interesse einer Nation steht. Wir sind bereit, gemeinsam mit allen Menschen, die nach Demokratie und Freiheit streben, in allen Lebenslagen und an allen Fronten gegen Faschismus, Rassismus und gegen autoritäre Ansichten zu kämpfen.

Möchten Sie zum Schluss noch einige Worte an die europäische Öffentlichkeit richten?

Europa sollte auf seine Kultur der Demokratie und seine Erfahrung mit der Demokratie achtgeben.
Und die in Europa lebenden Menschen aus Kurdistan sollten auf ihre Freiheit, auf ihre Heimat und auf ihre Einheit achtgeben und sie verteidigen. Sie werden ihre Befreiung und Freiheit nicht erlangen, wenn sie ihre Hoffnung in die Hände anderer legen. Nach Europa zu gehen und dort zu sagen, wir sind gerettet und leben nun in Freiheit, ist ein Fehlschluss. Wenn wir einen Preis als Volk zahlen müssen, dann müssen wir ihn alle zahlen. Alles auf ökonomische Beziehungen zu reduzieren oder das zu einer Identität zu machen und so in einem engen und egoistischen Familienverhältnis zu leben, reicht nicht aus. Die Welt ist groß und wir müssen unser Schicksal an das unseres Volkes knüpfen und so leben. In großem Umfang haben die Kurden in Europa die Bewegung immer unterstützt, haben dieser Bewegung nicht den Rücken gekehrt, haben sie finanziert, Öffentlichkeit geschaffen und den Kampf dieser Bewegung weitergeführt. Ab diesem Zeitpunkt ist es nötig, das alles viel bewusster, viel umfangreicher und weitreichender zu machen, denn wir sind der Freiheit und dem Sieg viel näher gekommen.

August 2015, ISKU