Gemeinsame Erklärung der internationalen Akademiker_innen Delegation nach Rojava - PDF


Der Kampf um Kobanê, welcher im Sommer 2014 begann, lenkte die Aufmerksamkeit der Welt auf den kurdischen Widerstand gegen die grausamen brutalen Kräfte, die sich selbst als Islamischer Staat (IS oder ISIS) bezeichnen. Entgegen der Erwartung von Vielen, waren die Verteidigungskräfte von Rojava erfolgreich dabei, sich nun mehr als zweieinhalb Jahre nicht nur gegen die Angriffe von ISIS, sondern auch gegen die Al Nusra Front und das Assad Regime zu verteidigen. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass die Bewohner_innen der vor allem von Kurd_innen besiedelten Regionen im Norden und Nordosten Syriens, eine neue politische Einheit, genannt Rojava etabliert haben. Rojava besteht aus drei Kantonen, von denen einer Kobanê ist. Sie haben in jedem Sinne eine soziale und politische Revolution begonnen, die von bemerkenswerten Bemühungen um Geschlechterbefreiung und direkter demokratischer Selbstverwaltung geprägt ist.

Im Dezember 2014 reisten wir als eine Delegation von Wissenschaftler_innen aus Europa, der Türkei und Nordamerika nach Rojava, um mehr über die Ideale und Praktiken dieser Revolution zu erfahren und in einem der Kantone direkt die Ansprüche der Realisierung von Geschlechterbefreiung und demokratischer Selbstverwaltung zu untersuchen. Leitfragen waren: Stellt die dortige Praxis wirklich eine Revolution dar? Entspricht die Praxis den demokratischen Idealen? Welche Rolle spielen Frauen tatsächlich?

Am 1. Dezember überquerten wir den Tigris von der Autonomen Region Kurdistan (KRG) im Nordirak aus und betraten den Kanton Cizîre. Während der folgenden neun Tage, besuchten wir sowohl dessen größere Städte, wie auch kleinere Dörfer in ländlichen Regionen. Wir nahmen an einem Treffen eines Volksrats der Selbstverwaltung in einem Bezirk von Qamişlo teil und sprachen mit Repräsentant_innen von TEV-DEM, der breiten Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft, welche die Institutionen der Selbstverwaltung aufgebaut hat.

Wir trafen uns mit Journalist_innen, mit Vertreter_innen von Parteien, wie der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) und anderen.

Wir trafen Frauen aus allen Lebensbereichen, einschließlich Vertreterinnen der Frauendachorganisation YekîtiyaStar. Wir trafen uns ebenfalls mit den Vorsitzenden der Union der syrianischen Frauen und besuchten eine Frauenakademie in Rimelan.

Außerdem trafen wir uns mit Zuständigen für ökonomische Entwicklung, Gesundheit und Außenbeziehungen in den Selbstverwaltungsstrukturen. Wir besuchten die Akademie für Wirtschaft und besuchten neuaufgebaute Kooperativen, im Sektor Molkerei, Bau und Gewächshauslandwirtschaft, wie auch eine Frauenkooperative, die Textilien produziert. Wir besuchten eine Getreidemühle und eine Raffinerie, beides überlebenswichtige, ökonomische Einrichtungen. Vor der Revolution befanden sich alle ökonomischen Aktivitäten im Staatsbesitz und Getreidemühlen gab es nur in Regionen außerhalb von Rojava, wie Aleppo oder Raqqa.

Wir besuchten Nachbarschaftsgesundheitszentren, ein Krankenhaus und ein Rehabilitationszentrum, weiterhin ein kulturelles Zentrum und eine Jugendorganisation.

Wir waren zu Gast an der großen Mesopotamischen Akademie für Sozialwissenschaften in Qamişlo, wo wir uns auch mit der Lehrer_innenvereinigung trafen. Vor der Revolution wendete der syrische Staat eine strenge Assimilations- und Arabisierungspolitik auf die kurdische Bevölkerung an. Dieser war nicht erlaubt ihre Sprache zu sprechen, ihren Kindern kurdische Namen zu geben, Läden mit kurdischen Namen zu eröffnen, private kurdische Schulen einzurichten oder Bücher oder Schriften auf Kurdisch zu publizieren. In den Regionen, die vorwiegend von Kurd_innen bewohnt werden, war es nicht möglich eine öffentliche Universität einzurichten. Um zu studieren mussten die Jugendlichen nach Aleppo, Deir al Zor, Hama oder Homs gehen. Nun aber hat die Selbstverwaltung von Rojava erste Schritte eingeleitet, um eine Universität in Qamişlo aufzubauen. Die Mesopotamia Akademie für Sozialwissenschaften in Qamişlo braucht jedoch internationale Solidarität, Austausch, Erfahrung und materielle Unterstützung, um erfolgreich zu sein. In diesem Sinne möchten wir hiermit auch den Appell an Dozent_innen weitergeben, die einige Zeit zum Lehren dorthin kommen können. Des weiteren braucht die EInrichtung Computer, Mikrofone undProjektore. Vor allem werden Bücher benötigt, um die Bibliothek zu erweitern. Das Endziel ist eine mehrsprachige, multidisziplinäre Bibliothek, aber im Moment betonten die Lehrenden, dass zu diesem Zeitpunkt Bücher auf Kurdisch, Arabisch und Englisch am wichtigsten seien. Diejenigen, die eine Spende machen wollen, können für weitere Informationen die Facebookseite „PirtûkekboAkademiyaMezopotamyayê - Donate a booktoMesopotamia Academy“ besuchen.

Wir besuchten das Newroz Flüchtlingslager, wo Ezid_innen aus demSindschar-Gebirge ihren Wunsch nach Selbstverwaltung und Selbstverteidigung betonten und internationale Unterstützung forderten. Die Flüchtlinge hoben besonders hervor, dass sie unter dem Embargo gegenüber Rojava litten und aufgrund dessen nicht einmal ihre Grundbedürfnisse erfüllt werden könnten. Die Ezid_innen erklärten uns gegenüber, dass ihr Leid von Einheiten wie der Kurdischen Regionalregierung (KRG), verschiedenen Staaten, einschließlich der sogenannten Anti-IS Koalition und auch von internationalen Organisationen wie den UN instrumentalisiert würde, demgegenüber betonten sie, dass sie von der YPG (Volksverteidigungseinheiten) und der YPJ (Frauenverteidigungseinheiten), wie auch den Guerillas der PKK vom Sindschar-Gebirge im August 2014 gerettet worden seien und sie von diesen seitdem trotz des Embargos und des Krieges um Kobanê versorgt würden.

Überall im Kanton konnten wir die Spuren der Jahrzehnte der Unterdrückung, wie auch der gegenwärtigen Kämpfe mit al Nusra und ISIS beobachten.

Wir verbrachten ebenfalls Zeit mit Vertreter_innen der Verteidigungskräfte von Rojava. Wir trafen uns mit dem Militärkommando der YPG in Serekaniye und mit einemBatallion der YPJ in Amûde. Wir besuchten die Akademie der Sicherheitskräfte (Asayîş)in Rimelan.

Die Rolle der Türkei beim Aufstieg von al Nusra und ISIS wurde explizit von fast allen, die wir getroffen haben, betont. Menschen aus allen Bereichen des Lebens berichteten uns von Zusammenstößen in der Nähe der türkischen Grenze, bei denen die Türkei militärische, logistische und auch finanzielle Unterstützung besonders für die beiden genannten Gruppen zur Verfügung stellte.

Obwohl wir verschiedene Hintergründe haben, so teilen wir doch einige Eindrücke unserer Reise.
Wir sind davon überzeugt, dass in Rojava echte demokratische Strukturen etabliert worden sind. Nicht nur, ist das Regierungssystem der Bevölkerung gegenüber rechenschaftspflichtig, es springt selbstausneuen Strukturen hervor, welche direkte Demokratie möglich machen: Volksversammlungen und demokratische Räte. Frauen nehmen auf allen Ebenen auf gleicher Basis zusammen mit Männern an den Strukturen teil und organisieren sich ebenfalls in autonomen Räten, Versammlungen und Komitees um ihre spezifischen Anliegen zu vertreten und zu lösen. Die Frauen, die wir trafen, verkörperten die Entschlossenheit, das Selbstvertrauen und den Stolz, den Frauen jetzt in Rojava errungen haben. Wir sahen Transparente mit der Parole „Die Revolution von Rojava ist eine Revolution der Frauen“ - und sie ist es wahrhaftig.

Wir meinen, dass Rojava eine alternative Zukunft für den Mittleren Osten aufzeigt, eine Zukunft in der Menschen verschiedener Ethnizität und Religion zusammen, vereint durch gegenseitige Toleranz und gemeinsame Institutionen, leben können. Kurdische Organisationen haben den Weg gezeigt, aber sie gewinnen zunehmende Unterstützung von Araber_innen, Assyrer_innen und Tschetschen_innen, die an dem gemeinsamen System der Selbstverwaltung teilnehmen und sich autonom organisieren.
Wo immer wir auch hingegangen sind, die Mitglieder der Selbstverwaltung und der bewaffneten Kräfte, betonten immer wieder, dass eine lebensfähige politische Alternative für die Region nicht auf Rache, sondern auf gemeinsamen Interessen und gegenseitigem Vertrauen basieren muss. Wir haben Mitglieder des Asayîş, wie auch von YPG und YPJ getroffen, die Kurd_innen, Tschetschen_innen, Suryoye oder Araber_innen waren, sie alle betonten, dass sie eine gemeinsame Lösung für alle Völker der Region suchten. Sie stehengewaltigen Herausforderungen gegenüber, aber wir sind überzeugt davon, dassihr Ansinnen aufrichtig ist.

Als Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen, verließen wir alle Rojava mit tiefem Respekt und großer Bewunderung der Bevölkerung, ihrem progressiven politischen Programm und ihren gegenwärtigen gesellschaftlichen Errungenschaften gegenüber. Sie haben durch die demokratische Selbstverwaltung einen Weg gefunden, ihre eigenen Probleme zu lösen. Es bleibt aber auch festzuhalten, dass Rojava unter schweren Bedingungen leidet, deren Ursache außerhalb der Kontrolle derBürger_innen liegt.

Deshalb schließen wir mit folgenden Empfehlungen, die so schnell wie möglich umgesetzt werden sollten:
Erstens, Rojava steht unter einem politischen und ökonomischen Embargo, welches von seinen Nachbarn, der Türkei und der Kurdischen Regionalregierung (KRG) im Irak ausgeübt wird. Die Wirtschaft, die Infrastruktur und die Verteidigung der Region werden durch diese Isolation geschädigt.
Auch wenn die KRG den Grenzübergang bei Semalka (Fishkabour/Peshkabour) für begrenzten Handel und Personenverkehr nach dem Abkommen von Duhok im Oktober 2014 geöffnet hat, wird immer noch willkürlich über Grenzübertritte entschieden und humanitäre Hilfe für Rojava, einschließlich der Flüchtlinge im Newroz Camp, zurückgehalten. Nicht einmal die Bücher für die Mesopotamia Akademie können über die Grenze gebracht werden. Das Embargo erstickt sogar die Möglichkeiten der Selbstverwaltung die Bevölkerung mit medizinischer Hilfe und den einfachsten humanitären Gütern zu versorgen. Es ist unabdingbar, dass das Embargo aufgehoben wird. Es muss internationaler Druck insbesondere auf die Türkei ausgeübt werden, damit sie ihre Grenzen öffnet, so dass Nahrungsmittel, Medikamente, Hilfe und Güter passieren können.

Zweitens, die andauernden Konflikte in Syrien und im Irak haben eine Vielzahl von Flüchtlingen geschaffen, die gerade von der Selbstverwaltung versorgt werden. Diese Flüchtlinge brauchen dringend medizinische Hilfe, Medikamente und Krankenhausausstattung. Es wurden ebenfalls viele Menschen im Krieg verletzt, die eine angemessene Versorgung benötigen, welche durch das Embargo nicht möglich ist. Die internationale Gemeinschaft muss dafür eintreten, dass Hilfe für diese Menschen im Dialog mit den Institutionen der Selbstverwaltung nach Rojava gelangen kann.
Drittens, rufen wir zur internationalen Anerkennung von Rojava auf, dabei schließen wir die Anerkennung durch NGOs ein. Rojava strebt nicht danach ein unabhängiger Staat zu werden, sondern bemüht sich darum zum Aufbau eines aufrichtig demokratischen Syriens beizutragen und Teil davon zu werden. Das einzigartige System der Selbstverwaltung verdient Anerkennung als ein mögliches Lösungsmodell für die vielen ethnischen und religiösen Konflikte, die die Region verwüsten.
Aller Erwartungen zum Trotz hat die Bevölkerung von Rojava ein mutiges Programm von gesellschaftlicher Toleranz, Geschlechterbefreiung und direkter Demokratie vorangetrieben. Dafür verdient es den Respekt und die aktive Unterstützung der Welt.


15. Januar 2015
Oktay Ay, Wissenschaftler, Istanbul Bogazici Universität
Janet Biehl, Autorin, USA
Devris Cimen, Journalist, Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., Deutschland
Rebecca Coles, Wissenschaftlerin, Universität von Nottingham
Antonia Davidovic, Dozentin für Ethnologie, Universität Kiel
DilarDirik, Ph.D. Studentin, Universitätvon Cambridge
EirikEiglad, Editor, New Compass Press, Norwegen
David Graeber, Professor fürAnthropologie, London School of Economics
LokmanTurgut, Journalist und Wissenschaftler, Kurd-Akad, Herausgeber von Studia Kurdica Journal, Deutschland
Thomas Jeffrey Miley, Dozent für Soziologie, Universität von Cambridge
Johanna Riha, Ph.D. Studentin, Universität von Cambridge
NazanÜstündag, Professorin für Soziologie, Istanbul Bogazici University
Christian Zeller, Professor für Wirtschaftsgeographie, Universität von Salzburg

Kontakt: Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.
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