Die Akademie Nuri Dersimi in Rimelan: „Während andere eine militärische Revolution erschaffen, erschaffen wir eine Revolution des Bewusstseins.“

In jeder größeren Stadt Rojavas gibt es eine Nuri Dersimi Akademie. An diesen Akademien engagieren sich LehrerInnen ehrenamtlich für die Bildung der Bevölkerung. Sie sind nach dem kurdischen Intellektuellen Nuri Dersimi benannt. Nuri Dersimi wurde 1893 in Dersim geboren und starb 1973 in Aleppo. Er organisierte kurdische Aufstände in Nordkurdistan, den Kocgiri-Aufstand und nahm am Dersim-Aufstand teil. Nach dessen Beginn musste er 1937 nach Jordanien und Syrien fliehen. Er kämpfte sein Leben lang für die Rechte, die Kultur und Sprache des kurdischen Volkes und hatte sich auch niemals der Verfolgung und Repression des Baath-Regimes gebeugt. Sein Grab befindet sich im kurdischen Kanton Afrin.

Am 16.05.2014 besuchte unsere Delegation die Akademie Nuri Dersimi in Rimelan. Rimelan ist eine Kleinstadt mit etwa 50.000 EinwohnerInnen, etwa die Hälfte der BewohnerInnen sind arabischer Herkunft. Im Umland heißt das, dass sie mit der Umsiedlungspolitik des Baath-Regimes in den 60er Jahren hier angesiedelt wurden. Die kleine Stadt ist das Ölzentrum von Rojava, daher leben hier zahlreiche Ölarbeiter, Ingenieure und Fachleute aus den arabischen Regionen in Damaskus, Dere Sor und Latakya. Rimelan ist eines der wichtigsten Ölförderzentren Syriens, doch die Pumpen stehen im Moment still, Rojava produziert aufgrund des Embargos nur Öl und Gas für den Eigenbedarf. Mit Hilfe des Gases wird Strom hergestellt, der einen Teil des Bedarfs von Rojava abdeckt. Von fünf Turbinen sind jedoch zwei außer Betrieb aufgrund des Embargos und fehlender Ersatzteile. Deshalb hat Rojava mit starken Energieproblemen zu kämpfen und Strom oder auch Wasser stehen häufig nur stundenweise zur Verfügung.

Die Beamten des Regimes sind mit dem Regime geflohen, als die islamistischen Banden anrückten um Kontrolle über die Region zu erlangen. Die Bevölkerung erhob sich und die Reste des Regimes zogen nach Qamislo und Heseke ab. Die YPG verteidigte Rimelan entschlossen gegenüber den Banden. Die Stadt war zuvor 28 Tage von den Terrorgruppen belagert worden. So kommt es, dass dieses Stadt zu einem wichtigen Teil des Kantons Cizire wurde, mit einer ausgeprägten Struktur von Kommunen, Räten, Frauenbewegung und anderen Einrichtungen.

Lange Zeit war Rimelan eine besonders umkämpfte Region. Zunächst versuchte die Al-Nusra-Front und dann ISIS die Region zu erobern. Sie scheiterten am Widerstand der YPG und wurden weit zurückgeschlagen. Im Moment befindet sich die Front in einer Entfernung von etwa 65–70 km.

Die Akademie Nuri Dersimi in Rimelan – Symbol der Revolution

Im mondänen Direktorat der staatlichen Ölfördergesellschaft befindet sich nun die Volksakademie Nuri Dersimi, ein deutlicher Ausdruck der Revolution, in dem systematisch Orte der ehemaligen gesellschaftlichen Machteliten zu Kulturzentren, Volkshäusern und Akademien umgewandelt worden sind.

Wir hatten die Gelegenheit mit den Lehrerinnen und Lehrern der Akademie einige Zeit zu verbringen und Gespräche zu führen. Der junge Lehrer Dilgesh, selbst Physiklehrer an einer Schule in der Stadt, erklärte uns, dass es bei den Nuri Dersimi Akademien, vor allem darum ginge, der Bevölkerung freiheitliche Werte zu vermitteln. Von den regionalen Sprachen bis hin zu Philosophie, Geschichte und Naturwissenschaften werden alle möglichen Angebote gemacht. Auch europäische Philosophie, wie Descartes, Platon, Nietzsche, Marx und Sokrates stehen auf dem Lehrplan. Dilgesh ist der Meinung, dass die Gesellschaft nun mit der Revolution auf eine neue moralische und politische Basis gestellt werden soll. Eine zentrale Rolle bei der Bildung nimmt der Apoismus mit seinen ökologisch, demokratischen, geschlechterbefreiten Paradigmen ein.

Es soll keine technokratische Bildung vermittelt werden, sondern eine Form der ganzheitlichen Bildung, die besonders auch in den Naturwissenschaften eine wichtige Rolle spielt. Er sagt: Wir wollen jetzt frei und ohne Grenzen denken und alles hinterfragen. Unser Ziel ist es das begrenzte Schulwissen zu erweitern und die Menschen zu befähigen, sich als bewusste Subjekte zu verstehen.“

Im Unterricht geht es daher immer wieder auch um den Aufbau des gesellschaftlichen Systems in Rojava, etwa um demokratische Ethik, Räte oder Frauengeschichte. Dabei spielt der Dialog in der Klasse eine zentrale Rolle und auch die LehrerInnen begreifen sich selbst als SchülerInnen.

Unterricht an der Akademie findet immer in Ausbildungseinheiten von 15–20 Personen statt. Diese bleiben 10 bis 25 Tage an der Akademie. Die SchülerInnen kommen aus allen Bereichen der Gesellschaft und übernachten in der Regel in den Räumen, der von einem baumbestandenen Garten gesäumten Akademie. Sowohl der kulturellen, als auch der politischen Heterogenität der TeilnehmerInnen wird Bedeutung beigemessen, da es hier um eine grundliegende Wertevermittlung geht. Der Unterricht findet auf Spendenbasis statt. In der Leitung der Akademie befinden sich sechs Personen. Alle Gremien, auch die LehrerInnenschaft ist zu 50% mit Frauen besetzt. An fast allen Wochentagen findet Unterricht statt. Die LehrerInnen führen alle zwei Tage eine Auswertung der Arbeit durch, in der die Probleme der Schule, der LehrerInnen, mit Kritik und Selbstkritik bilanziert wird. So soll auch eine kontinuierliche Entwicklung der LehrerInnen gewährleistet werden. Die TeilnehmerInnen an den Seminaren sollen dann in Zukunft als MultiplikatorInnen dienen und selbst in ihren eigenen Bereichen Bildungsarbeit machen. Die Nuri Dersimi Akademien sind an die Volksräte und damit an TEV-Dem angeschlossen und damit Teil des Systems der demokratischen Autonomie.

Das Problem ist natürlich, dass die Menschen hier zunächst ums überleben kämpfen und daher meist die Bildung an zweitrangiger gesehen wird. Die LehrerInnen zeigen sich jedoch entschlossen „die Bevölkerung trotzdem zu organisieren und zu politisieren“.

Delegation der Kampagne TATORT Kurdistan, 20.05.2014