MIT DEM GEIST DES GEZI-WIDERSTANDS IN DIE KOMMUNALWAHLEN

Türkei: Eine Alternative zum derzeitigen System bietet nur die BDP/HDP

Eine Analyse von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e. V., 13.03.2014

Am 11. März besucht der Abgeordnete und Vorsitzende einer politischen Partei die Stadt Sakarya, um ein Wahlkampfbüro für die anstehenden Kommunalwahlen in der Türkei zu eröffnen. Als er am besagten Büro ankommt, hört er bereits einen Mob rassistische Parolen skandieren. Er hält dennoch vor dem Wahlkampfbüro seine Rede. Als er sich von seinen Anhängern verabschiedet und mit dem Wahlkampfbus in die nächste Stadt reisen will, schneidet der Mob dem Bus den Weg ab. Es werden Steine auf den Bus geworfen, Scheiben kommen zu Bruch, doch glücklicherweise kann der Bus den Ort verlassen, ohne dass es zu größeren Schäden kommt.

Ähnliches ereignet sich einen Tag zuvor in der Nachbarprovinz von Istanbul Tekirdağ. Dort wird ebenfalls ein Wahlkampfbus derselben Partei von einem rassistischen Mob angegriffen. Dieses Mal kommen die Mitglieder der Partei nicht so glimpflich davon. Durch die umherfliegenden Steine werden mehrere Mitglieder der Partei verletzt, darunter auch die Bürgermeisterkandidatin für einen Stadtteil von Tekirdağ. Die Polizei setzt zwar Gasbomben ein, um den Mob zu vertreiben. Aber es kommt zu keiner einzigen Festnahme.

Einen Tag vorher am 9. März will dieselbe Partei im Badeort Fethiye in der Provinz Muğla ein Parteibüro eröffnen. Doch erneut hat sich ein Mob von knapp 200 Menschen formiert und will die Eröffnung stören. Sie skandieren immer wieder „Hier ist Fethiye, hier kommt ihr nicht raus!“ Die Polizei stoppt zunächst den Mob. Es gibt sogar Versuche das Gebäude in Brand zu stecken. Die Lage in dem beliebten Touristenort bleibt lange angespannt.

Ähnliche Angriffe auf die Mitglieder derselben Partei ereigneten sich am 7. März in der nordtürkischen Stadt Ordu und am 06. März im Istanbuler Stadtteil Sarıyer.

Ziel all dieser Angriffe ist eine Partei, die erst im Jahr 2012 gegründet worden ist und den Namen „Demokratische Partei der Völker“ oder kurz HDP trägt.

Alle vom System ausgeschlossenen vereinen

Um zu verstehen, weshalb die HDP fast schon täglich in ihrem Wahlkampf Angriffen ausgesetzt ist, muss man sich mit den Inhalten dieser Partei auseinandersetzen. So beginnt das Wahlprogramm der Partei mit folgenden Worten:

"Die gesamte Menschheitsgeschichte ist zugleich auch die Geschichte des Kampfes um Gleichberechtigung, Freiheit und Gerechtigkeit. […]

Auch heute werden diese Kämpfe geführt. In der heutigen Welt ist die Bedeutung eines gesellschaftlich breit geführten Kampfes gegen die rassistischen, nationalistischen, militaristischen, sexistischen, reaktionären und neoliberalen Kräfte von großer Bedeutung. Der Wunsch nach einer freien, gleichberechtigten, menschlichen und gerechten Welt, in der keine Unterschiede zwischen Sprache, Religion, Farbe, Nationalität und Geschlecht gemacht werden, in der kein Mensch der Untertan eines anderen Menschen ist, in der es keine Unterdrückung und Ausbeutung gibt, in der es keine Kriege und Unterdrücker-Unterdrückten Verhältnisse gibt, ist in unserer Gegenwart überall präsent. Und die Entwicklung der Menschheit und ihre Errungenschaften in der Geschichte beweisen, dass dieser Wunsch kein bloßer Traum ist."

Die HDP ist eine Partei, die mit den Tabus der Staatsgründungsdoktrin der Türkei bricht. „Eine Sprache, eine Fahne, ein Volk und ein Vaterland“ heißt es dort. Die Demokratische Partei der Völker hingegen will laut ihres Parteiprogramms all diejenigen zusammenbringen, die Opfer dieser Doktrin waren. Sie will nicht nur die gemeinsame Plattform für die Vorstellungen und Wünsche von Menschen jeglicher Kultur, Sprache und Religion sein. Sie will auch nicht bloß die Interessen von Arbeitern, Rentnern, Frauen, Jugendlichen, Intellektuellen, Künstlern, Homosexuellen und Behinderten eintreten. Sondern sie will, dass all diese Menschen mit ihrer sozialen Identität Teil haben an einer demokratischen Türkei. Diese Vorstellung schlägt den Machthabern der Türkei und allen nationalistischen Kreisen auf den Magen. Und deswegen wird derzeit eine wahre Lynchatmosphäre gegen die AktivistInnen der HDP geschaffen.

Den Geist des Gezi-Widerstands in eine organisierte Kraft tragen

Doch es gibt auch die Kehrseite. Menschen, die zum ersten Mal mit der HDP die Kraft und das Selbstbewusstsein spüren, offen für ihre legitimen Rechte einzutreten. Die Ohnmacht gegen eine immer autoritärer agierende Regierungspartei, die durch Verbote in immer weitere Lebensbereiche der Menschen eindringt und sie nach eigenen Vorstellungen gestalten will, ist im letzten Jahr weitgehend aufgebrochen worden. Während zuvor das Bild von für ihre Rechte demonstrierenden Menschen, die mit brutaler Polizeigewalt konfrontiert werden, allenfalls in Nordkurdistan/Osttürkei zum Alltagsbild gehörte, hat sich das mittlerweile grundlegend geändert. Nun gehört der gesellschaftliche Widerstand zum Alltag der Türkei. Und die brutale Polizeigewalt leider auch. Der Tod des 15-jährigen Berkin Elvan, der im Juni letzten Jahres in Istanbul durch eine Tränengasgranate der Polizei schwer verletzt worden war und anschließend 269 Tage im Koma lag, ist nur das jüngste Beispiel für den Umgang des türkischen Staates auf den gesellschaftlichen Widerstand.

Der Widerstandsgeist im Westen der Türkei wurde Ende Mai 2013 erweckt. Eine Gruppe UmweltaktivistInnen hatte sich im Gezi Park im Zentrum von Istanbul versammelt und wollte die Abholzung der Bäume in diesem Park im Rahmen einer geplanten Umgestaltung der Istanbuler Innenstadt verhindern. Statt des Gezi Parks, eines der letzten Grünflächen im Stadtteil Taksim, sollte im Zuge der Gentrifizierungspolitik in der Stadt ein Einkaufszentrum entstehen. Zunächst wurde die Aktion von der medialen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und die Hoffnung auf die Errettung des Parks war vermutlich selbst unter den AktivistInnen gering. Doch dann gesellte sich der Abgeordnete Sirri Sürreya Önder und nutzte seinen Status, um die Räumung des Parks zu verhindern. Durch diese Aktion erreichte der Protest erstmals landesweite Öffentlichkeit. Als die Polizei in der Nacht darauf dennoch gewaltsam den Park erstürmte, platzte der Knoten. Mit der Dynamik, die die Gezi-Proteste mit sich brachte, hatte wohl niemand gerechnet. Übrigens ist der besagte Abgeordnete nun der Bürgermeisterkandidat der HDP in der Stadt Istanbul.

Die Proteste rund um den Gezi Park haben verdeutlicht, dass der Protest gegen das System der Türkei nicht von „einigen marginalen Kreisen", wie es die AKP-Regierung gerne behauptet, getragen wird, sondern dass er mitten aus der Gesellschaft kommt. Die Demokratische Partei der Völker steht nun vor der Verantwortung diesen Widerstand in eine organisierte Kraft zu verwandeln. Und die Sympathien sind bereits groß. In Istanbul wird mit einem Stimmanteil von bis zu 10% für den HDP-Kandidaten Önder gerechnet.

Reclaim your City

Aber es soll nicht allein bei Sympathien bleiben. Primäres Ziel der HDP ist es nicht möglichst viele Bürgermeisterposten zu ergattern oder bei den nächsten Parlamentswahlen zahlreiche Abgeordnete in das türkische Parlament zu entsenden. Erfolge jener Sorte wären lediglich taktischer Natur, um das eigentliche Ziel effektiver zu verfolgen. Und dieses Ziel lautet eine breite kommunale und demokratische Selbstverwaltung der Bevölkerung zu organisieren. Der Grundsatz lautet, dass der Erfolg der Demokratie aus der kommunalen Ebene heraus erreicht werden kann. Mit der Selbstorganisierung der Bevölkerung bis in die Stadtviertel hinein ohne Unterschiede zwischen den sozialen Identitäten der Menschen zu machen, sondern die Vielfalt als Reichtum betrachtend, sollen die Menschen auf direktdemokratischem Wege selbst über sich entscheiden können. Das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in der Stadt und auf dem Land wird als Grundlage einer demokratischen Türkei betrachtet.

Die HDP ist durch diese Zielsetzung quasi der natürliche Feind der zentralstaatlich ausgerichteten Türkei. Bereits jegliche politische Forderung, die einen stärkeren Föderalismus in der Türkei fordert, wird als Separatismus und Vaterlandsverrat diffamiert. Eine radikale Dezentralisierung, wie sie die HDP fordert, ist daher ein Dorn im Auge der Regierungspartei AKP, die ihre Hegemoniestellung durch immer stärkere Machtkonzentration vorantreiben möchte. Aus diesem Grund ist die Behauptung, dass die AKP die Angriffe auf die HDP aktiv unterstützt, gar nicht so abwegig. Dass sie sie in jedem Fall toleriert, kann als garantiert angenommen werden. So erklärte jüngst der Co-Vorsitzender der HDP Ertuğrul Kürkçü: „Hinter jedem Angriff steckt ein Beamter des öffentlichen Dienstes“.

Im Oktober 2011 kamen 825 Delegierte aus den verschiedensten Teilen der türkischen Gesellschaft in Ankara zusammen, und gründeten den Demokratischen Kongress der Völker (HDK). Der Gründungskongress sollte die gesamte, von der offiziellen Staatsideologie verleugnete, Vielfalt der türkischen Republik zusammenbringen. Es wurden Grußworte in elf verschiedenen Sprachen gehalten, allesamt Sprachen, die von Menschen in der Türkei gesprochen wurden. Aus dem HDK ist im Oktober 2013 der Entschluss zur Parteigründung gefasst worden und so ist die HDP entstanden. Die Demokratische Partei der Völker bleibt weiterhin Teil des HDK und ist ihr zur Rechenschaft verpflichtet. Bei den Kommunalwahlen am 30.März tritt sie in insgesamt 59 westtürkischen Städten an. Sie stellt ebenso wie die Partei für Demokratie und Frieden (BDP) stets eine Frau und einen Mann als Bürgermeisterkandidat auf. Sie nutzt den Wahlkampf vor allem, um ihr Projekt einer anderen, einer demokratischen und offenen Türkei der Bevölkerung näher zu bringen.

Dass diese Arbeit nicht einfach sein würde, war von Anfang an klar. So rücken die türkischen Mainstreammedien die Partei immer wieder in die Nähe der PKK, und betreiben geradezu eine Hetzpropaganda gegen die HDP. „Das Gründungsmitglied der Terrororganisation PKK und der wegen Terrorismusvergehens verurteile Abdullah Öcalan hatte die Strategie entwickelt, dass die BDP und die aus Sozialisten bestehende HDP bei den Kommunalwahlen am 30.März rechtlich als zwei unterschiedliche Parteien antreten, faktisch aber unter einem Dach agieren“, vermeldete das Massenblatt Milliyet am 13. Januar dieses Jahres. Doch entgegen der Hetze der Medien, der Angriffe von rassistischen Mobs und der stillen Unterstützung der Machthabenden in der Türkei gibt es die Menschen, die erstmals in der Geschichte der türkischen Republik ihre Stimme erheben können, die zum ersten Mal selbstbewusst mit ihrer Identität in das politische Geschehen eingreifen können und die das Gefühl erleben, mit ihrer Forderung nach einer anderen Türkei nicht allein zu sein. Aus Letzteren wird die HDP ihre Kraft schöpfen.