An alle Frauen, die auf der Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe sind

Zunächst möchte ich mein Befremden darüber ausdrücken, dass der Internationale Frauentag 8. März nur an einem einzigen Tag begangen wird. Es gehört zu den unverzichtbaren Lebensbedingungen, dass alle Tage von Frauen und Befreiung geprägt sind. Aber daran wird auch sichtbar, dass Frauen im Leben nicht vorkommen. Dass Frauen nur an einem Tag im Jahr gewürdigt werden, macht die Dimension der Versklavung deutlich. Für mich ist das ein Thema, auf das ich mich immer mehr konzentriere. Ich betrachte die Frauenfrage nicht unabhängig vom Krieg. Wie bei allen Revolutionen, auch den heutigen und insbesondere bei der Revolution in Kurdistan, ist die Frauenfrage das wichtigste Thema, das gelöst werden muss. Sie steht im Fokus von allen Fragen, die den Krieg und die Entwicklung eines Friedensprozesses betreffen.

Der finsteren Ära der Zivilisation zum Trotz werden die 2000er Jahre die Zeit der Frauenbefreiung sein. Ich betrachte diese Zivilisation als ein finsteres Zeitalter, eine Eiszeit. Aber zu Beginn der 2000er Jahre hat der Frühling der Frauen eingesetzt. Die Frauenbefreiung gleicht Schneeglöckchen, die sich gegen Schnee und Eis durchsetzen, gegen den harten Winter des patriarchalen Herrschaftssystems, das mit verlogenen Unterdrückungsmechanismen während der gesamten Zivilisationsgeschichte gegen das weibliche Geschlecht vorgegangen ist. Im Frühling der Frauen treibt die Frauenbefreiungsbewegung Blüten. Das finde ich sehr wichtig. Mein Verhältnis zu Frauen ist von Herz und Kopf geprägt. Das entspricht meiner Identität und meiner Sicht auf Frauen.

Es darf niemals vergessen werden, dass ein sinn- und würdevolles Leben mit einer Frau Weisheit und Größe erfordert. Wer Liebe und Leidenschaft leben will, sollte sich in jedem Moment daran erinnern. Es muss dabei gelingen, ein gegenseitiges Gleichgewicht von Weisheit und Stärke herzustellen, innerhalb dessen Schönheit und große Gefühle produziert und geteilt werden können. Es muss eine Verbindung bestehen zwischen dem Einzelnen und dem Universellen, also zwischen Frau und Mann konkret und dem abstrakten Ideal von Weiblichkeit und Männlichkeit. Das Eigentum muss seinen Besitzer, der Besitzer sein Eigentum auf radikale Weise verlassen. Anstelle des traditionellen Ehrbegriffs muss darauf gesetzt werden, wie anziehend Schönheit und eine würdevolle Persönlichkeit sind. Ohne eine radikale Frauenrevolution, also ohne eine Veränderung männlichen Herrschaftsstrebens ist eine Befreiung des Lebens aussichtslos. Ohne die Befreiung der Frauen gleicht das Leben selbst einer Fata Morgana. Solange nicht der Mann mit dem Leben und das Leben mit der Frau Frieden schließt, ist jedes Glück pure Illusion.

Nicht wenige von Euch sind gegen ihren Willen verheiratet worden. Viele von Euch sind Mütter. Ihr wisst, was Schmerz bedeutet. Aber mütterliche Reife verträgt sich nicht mit der Form leidenschaftlicher Liebe, die das Leben abtötet. Ein Volk, dessen Frauen nicht frei sind, hat keine Chance, frei zu sein.

Ihr müsst Euch befreien. Politik wird mit Leidenschaft gemacht, mit Liebe zu den Menschen.

Wir erleben die Frauenbefreiungsbewegung. Sakine ist ein Beispiel, Ihr seid Beispiele. Sakines ganzes Leben ist ein Beispiel. Sakines Kampf galt der Frauenbefreiung. Ich fordere Rechenschaft für Sakine, das Verbrechen muss aufgeklärt werden.

Es gibt große Heldinnen. Wichtig ist das Bewusstsein, dass das Leben heilig ist. Die Sklaverei gehört abgeschafft. Das ist meine 8.-März-Botschaft: Eine Gesellschaft kann nicht frei sein, wenn die Frauen nicht frei sind. Die vollständig befreite Frau ist eine Gottheit. Ich gedenke der Frauen, die im Kampf um Befreiung ihr Leben verloren haben.

8.-März-Botschaft von Abdullah Öcalan, 2013