Der Mord an den drei kurdischen Frauen in Paris läutet eine neue Phase des Krieges gegen die kurdische Freiheitsbewegung ein

Am Abend des 9. Januar 2013 sind in Paris im Kurdistan Informationszentrum drei kurdische Frauen kaltblütig ermordet worden. Bei den Frauen handelt es sich um politische Aktivistinnen. Der Tathergang zeigt, dass die Morde geplant und professionell ausgeführt wurden, was den Rückschluss nahe legt, dass dies ein politischer Anschlag auf die kurdische Gemeinschaft in der Diaspora und ihre Aktivitäten in Europa war. Daher stellt sich die Frage, wer hinter einem solchen Anschlag stehen könnte.
Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig zu wissen, um wen es sich bei den getöteten Frauen handelt. Dafür bedienen wir uns der Kurzbiographien, die von Yek-Kom, der Föderation kurdischer Vereine in Deutschland, veröffentlicht wurden. (http://www.yekkom.com/html/modules.php?name=News&file=article&sid=263)

Die 1958 in Dersim (Türkisch: Tunceli) geborene Sakine Cansiz gehört zu den Gründungsmitgliedern der 1978 gegründeten PKK (Arbeiterpartei Kurdistans). Von den noch wenigen lebenden Gründungskadern der PKK handelt es sich bei Cansiz um die einzige Frau. 1979 ein Jahr vor dem Militärputsch des 12.Septembers wurde Cansiz inhaftiert. In ihrer 12-jährigen Haftzeit wurde sie Opfer von schwerster Folter, gegen die sie entschlossen Widerstand leistete und so zu einer Symbolfigur des kurdischen Frauenfreiheitskampfs aufgestiegen ist. Als erste Frau der PKK leistete sie vor dem Putschgericht in Diyarbakir eine politische Verteidigung. Nach ihrer Entlassung 1991 führte sie ihren Kampf in verschieden Orten im Mittleren Osten weiter. 1998 erhielt Cansiz politisches Asyl in Frankreich. Seitdem war Cansiz in mehreren Ländern Europas politisch im Bezug auf die kurdische Frage und die Geschlechterfrage engagiert. Darunter auch in Deutschland, wo sie 2007 in Hamburg kurzzeitig in Haft war. Sie war Mitglied des Kurdischen Nationalkongress (KNK) mit Sitz in Brüssel. Sakine Cansiz gilt unter der kurdischen Bevölkerung in Kurdistan und der Diaspora als die Symbolfigur des kurdischen Frauenfreiheitskampfes.

Fidan Dogan, geboren (1982) und aufgewachsen in Elbistan (Türkisch: Maraş), kam als Flüchtlingskind nach Frankreich. Dort war sie seit dem Jahr 2001 in mehreren Bereichen der Öffentlichkeitsarbeit aktiv. Seit einigen Jahren fungierte Dogan ebenfalls als Vertreterin des Kurdistan Nationalkongress (KNK) in Frankreich. Sie galt als eine junge und trotzdem über große Erfahrung verfügende Diplomatin. Auch außerhalb von Frankreich war sie als Diplomatin des KNK aktiv.

Leyla Şaylemez ist Tochter einer Einwandererfamilie. Die aus Amed (Türkisch: Diyarbakir) stammende Şaylemez verbrachte ihre Kindheit in der türkischen Küstenstadt Mersin, wohin ihre Familie fliehen musste. In den 90ern ist ihre Familie nach Deutschland ausgewandert und lebte die meiste Zeit über in Halle. Geprägt von ihrer Vergangenheit und dem aktuellen Geschehen in ihrer Heimat brach Şaylemez ihr Architekturstudium ab und widmete sich von da an voll und ganz der politischen Tätigkeit. Jahrelang war Şaylemez als Jugendaktivistin in Europa aktiv.

Seit Jahrzehnten, werden KurdInnen und ihre Aktivitäten in Frankreich kriminalisiert. Vereine werden geschlossen, AktivistInnen werden verhaftet, wie zuletzt am 6. Oktober Adem Uzun – ein Mitglied des Kurdischen Nationalkongress (KNK) – der zu einer Konferenz nach Paris gekommen war. Noch mehr Misstrauen dürfte die Tatsache erwecken, dass zwei der drei ermordeten Frauen ebenfalls KNK-Mitglieder waren. Seit 2007 wurden über 200 kurdische AktivistInnen festgenommen. Viele von ihnen verurteilt. Laut Angaben des französischen Innenministeriums sind vier RichterInnen, acht StaatsanwältInnen und 28 weitere KommissarInnen beauftragt sich nur um die politischen Aktivitäten von KurdInnen in Frankreich zu kümmern. Nach eigenen Angaben werden kurdische Einrichtungen und AktivistInnen streng überwacht. Deshalb ist es unumgänglich, dass die Frage gestellt wird, welche Rolle der französische Staat selbst bei diesen Morden spielte. Wie kann es möglich sein, dass an einem so belebten Ort an einem frühen Abend, drei Menschen unbemerkt in einer Einrichtung, die streng überwacht wird, getötet werden? (Ein Interview mit Nedim Seven zu den Repressionen der KurdInnen in Frankreich gibt es hier: http://www.nadir.org/nadir/periodika/kurdistan_report/2012/161/20.htm)

Im Kampf gegen die kurdische Freiheitsbewegung arbeiten europäische Staaten traditionell mit dem türkischen Staat eng zusammen; so auch Frankreich. Regelmäßig treffen sich hochrangige französische und türkische PolitikerInnen und bekräftigen ihren gemeinsamen Kampf „gegen den Terrorismus". Frankreich bietet der Türkei geheimdienstliche Informationen, verhaftet dutzende kurdische PolitikerInnen im Lande, schließt kurdische Vereine, worauf nicht zufällig oft Rüstungsaufträge in Milliardenhöhe von der Türkei an französische Großunternehmen folgen. Durch das PKK-Verbot in Frankreich genießt jeder Angriff auf die KurdInnen Legitimität, während die gesamte kurdische Bevölkerung in Frankreich (ca. 150.000 Menschen) kriminalisiert wird.

Diese jahrzehntelange Kriminalisierung schlug sich auch auf die Medienberichterstattung über die Morde in Paris nieder. Statt über den suspekten Tathergang und die politischen Hintergründe zu berichten, spekulierten viele große Zeitungen und Fernsehsender, dass die Ermordung der Frauen, die Folge eines Konfliktes innerhalb der PKK sei. Unhinterfragt übernahmen viele Medien diese These, die am frühen Morgen des Donnerstags – keine 12 Stunden nach der Tat, als noch fast niemand von diesem Mord erfahren hatte und die polizeilichen Ermittlungen noch keinerlei Ergebnisse hervorgebracht hatte – vom Sprecher der türkischen Regierungspartei AKP, Hüseyin Celik, aufgestellt worden war. Wie er so schnell von diesem Anschlag erfahren und warum er das Bedürfnis hatte, den Diskurs in diese Richtung zu lenken, wurde außer in kurdisch-sprachigen Medien, nicht gefragt. Auch in der darauf folgenden Phase waren Interviews mit staatlichen Stellen richtungsweisend für die Berichterstattungen. Über die KurdInnen wurde viel gesprochen, jedoch recht wenig mit ihnen. (Mehr Informationen unter: http://www.civaka-azad.org/index.php/startseite/241-kommentar-zur-medienberichterstattung-bezueglich-der-ermordung-der-drei-kurdischen-politischen-aktivistinnen.html )

Auch andere hochrangige PolitikerInnen in der Türkei wie MinisterInnen und Parteivorsitzende, schlugen in die gleiche Kerbe. Der Zeitpunkt in dem diese Morde geschahen, lässt viele andere Fragen entstehen. Erst einige Tage zuvor, war es den kurdischen PolitikerInnen Ahmet Türk und Ayla Akat Ata gestattet – zum ersten Mal seit der Inhaftierung Abdullah Öcalans 1999 überhaupt – ihn auf der Gefängnisinsel Imrali zu besuchen. Kurz zuvor waren erneute Gespräche zwischen Öcalan und dem türkischen Staat bekannt geworden. Fraglich ist, ob nicht Kräfte innerhalb des türkischen Staates, die sich von solchen Gespräch in ihrer fortwährenden Eskalation des Krieges gestört fühlen könnten, hinter diesen Morden stecken. Es wäre nicht das erste Mal, dass Friedensbemühungen zwischen beiden Seiten durch Massaker und Anschlägen torpediert bzw. beendet wurden, wie z.B. 1993 beim Angriff der von Semdin Sakik befehligten Guerilla-Einheit auf einen Bus voller unbewaffneter türkischer Soldaten oder der Mord am türkischen Staatspräsidenten Turgut Özal und dem damaligen Vorgesetzten des 7. Regiments in Diyarbakir. Beide waren innerhalb des türkischen Staates zwei von wenigen, denen an einer politischen Lösung der kurdischen Frage gelegen war. Es kann davon ausgegangen werden, dass der sog. „tiefe Staat" in der Türkei diese Morde zu verantworten hat. Neben diesen gibt es auch andere Vermutungen, die besagen, dass diese Gespräche, die mit Öcalan wieder aufgenommen wurden, erneut eine Hinhalte-Taktik der AKP sind, mit dem Ziel die kurdische Freiheitsbewegung komplett zu zerschlagen. Denn während Gespräche mit Herrn Öcalan geführt werden, hielten die Operationen gegen die kurdische Guerilla weiter an. Allein in den letzten drei Wochen sind über 30 Guerilla-KämpferInnen bei Luftangriffen und militärischen Operationen getötet worden. Außerdem werden immer noch tagtäglich dutzende Menschen aufgrund ihrer politischen Aktivitäten, wie die Teilnahme an Demonstrationen, das Verrichten von Arbeiten für die Partei für Frieden und Demokratie BDP, journalistische Tätigkeiten etc. verhaftet. Derzeit befinden sich über 10.000 Menschen, darunter gewählte Abgeordnete, JournalistInnen, RechtsanwältInnen, GewerkschafterInnen oder FeministInnen in türkischen Gefängnissen. Friedensverhandlungen sehen definitiv anders aus! Die Wahrscheinlichkeit ist also hoch, dass der Mord an den drei Frauen in Paris durch die Hand der „tiefen AKP" ausgeführt wurde.

Aussagen des türkischen Ministerpräsidenten und anderer hochrangiger PolitikerInnen steigern das Misstrauen gegenüber dem türkischen Staat im Bezug auf die Ernsthaftigkeit und seinen Willen zur Lösung der kurdischen Frage. Seit einigen Wochen wird nämlich über eine sog. Integrierte Politik des Staates im Bezug auf die kurdische Freiheitsbewegung geredet. Dabei würden zwar Verhandlungen mit Abdullah Öcalan und der Guerilla geführt werden, während aber gleichzeitig militärische und polizeiliche Operationen gegen die kurdische Guerilla und vor allem die politischen, zivilgesellschaftlichen Kräfte ausgeführt werden, wobei hunderte Menschen verhaftet und getötet werden. Äußerungen von Mehmet Ali Sahin, wie, dass in nächster Zeit auch in Deutschland solche Morde stattfinden können, worauf es eine sehr zurückhaltende Reaktion der deutschen Behörden gab, zeigt, dass für die kurdische Diasporagemeinde in Europa, eine neue Ära eingeschlagen hat. Inzwischen können kurdische PolitikerInnen auch in Europa nicht sicher vor Angriffen des türkischen Staates sein.

Erinnern wir uns an ein Plakat, das ein Teilnehmer der Kundgebung in Amed, bezüglich dieser Morde aufgehängt hatte: Der Krieg hat keine Gewinner, der Frieden keine Verlierer. In den letzten Jahren wurden Verhandlungen und Gespräche nur dafür geführt, um die kurdische Freiheitsbewegung komplett zu liquidieren. Ziel war nicht die Schaffung eines dauerhaften Friedens, sondern der Sieg über die kurdische Bevölkerung. Die Diskussion über eine sog. Integrierten Politik und die Angriffe auf die Guerilla sowie die demokratischen Kräfte in Kurdistan und der Türkei bedeuten, während Gespräche auf der Gefängnisinsel Imrali geführt werden, dienen diese keineswegs dazu, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, welches für eine Friedensverhandlung notwendig ist. In diesem Kontext lässt sich leicht erahnen wie die Morde an den drei kurdischen Frauen in Paris in der kurdischen Gesellschaft aufgenommen werden.

Hunderttausende Menschen demonstrieren seitdem auf den Straßen in Europa und Kurdistan. Aus aller Welt kamen Solidaritätserklärungen. In fast jeder Stadt in Europa gab es Protestkundgebungen. In Paris versammelten sich am Samstag nach dem Mord über 100.000 Menschen, um ihn zu verurteilen. Sie forderten vom französischen Staat, die sofortige Aufklärung dieser Tat. Ansonsten sei er ebenfalls dafür verantwortlich. In Amed, Elbistan und Mersin nahmen über eine halbe Million Menschen an den Trauerkundgebungen und den Beerdigungen von Sakine, Leyla und Fidan teil.
Trotz der Wut der Massen, ist es nirgendwo zu Ausschreitungen gekommen. Der friedliche Verlauf der Massendemonstrationen zeigt deutlich, dass die kurdische Bevölkerung den Frieden will, dass sie bereit ist große Opfer zu bringen und sie dafür auch ausreichend organisiert ist.

Als Verband der Studierenden aus Kurdistan e.V. verurteilen wir diese Morde auf das Schärfste. Wir fordern vom französischen Staat die lückenlose Aufklärung der Morde und die Mörder zur Verantwortung zu ziehen. Wir fordern die Aufhebung des PKK-Verbotes in Europa, das die gesamte kurdische Freiheitsbewegung kriminalisiert.

YXK – Verband der Studierenden aus Kurdistan e.V.