„Immer mehr Frauen werden politisch aktiv
und somit steigt die Zahl der Frauen in den Gefängnissen stark an.“

Erste Eindrücke und Begegnungen einer Frauendelegation

Seit dem 6. Juli 2012 befindet sich eine Frauendelegation mit insgesamt 12 Teilnehmerinnen aus England und Deutschland in Nordkurdistan. Unter den Delegationsteilnehmerinnen befinden sich Mitarbeiterinnen von verschiedenen Frauen- und Menschenrechtsorganisationen sowie die bekannte Gewerkschafterin und Mitglied des Frauenkomitees des Gewerkschaftskongresses TUC, Professor Mary Davis.

Die Delegation wurde durch das Kurdische Frauenbüro für Frieden - Cenî e.V. initiiert und durch die Kampagne Frieden in Kurdistan in London unterstützt, um die Arbeiten der Frauenakademie in Amed (Diyarbakir) einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen; den Austausch zwischen Frauenprojekten, Frauen- und Menschenrechtsinitiativen in Kurdistan und Europa zu stärken und voneinander zu lernen; sowie angesichts der steigenden Repressionen des türkischen Staates gegen die Frauen- und Gewerkschaftsbewegung praktische internationale Solidarität zu zeigen.

Vom 6. bis 9. Juli 12 besuchte die Delegation in Amed u.a. die Frauennachrichtenagentur JinHa, die Frauenzentren Dikasum und Kardelen, den Menschenrechtsverein IHD, die Solidaritätsvereinigung für Flüchtlinge GöcDer und die Frauenakademie, mit Unterstützung der Frauenabteilung der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) aufgebaut wurde.

In allen Gesprächen berichteten die Frauen von den Schwierigkeiten und gleichzeitig ihrer Entschlossenheit, unter den Bedingungen von Krieg, staatlicher Repression, Armut und patriarchaler Gewalt, sich als Frauen Strukturen der Solidarität aufzubauen.

Eine Psychologin der Frauenberatungsstelle DIKASUM erzählte der Delegation von ihrem Ansatz Waschhäuser in den Stadtteilen aufzubauen, in denen viele vom Krieg traumatisierte Flüchtlingsfamilien leben, um hierüber die Frauenarbeit zu stärken. Die Waschhäuser sind zu sozialen Treffpunkten geworden an denen es Bildungsangebote für Frauen und Kinder gibt und über die der Alltag kollektiver organisiert werden kann. All helfen kann. Außerdem wurden seit 2008 Zufluchtsorte und Notunterkünfte für Frauen und Kinder geschaffen, um sich vor Gewalt schützen zu können. Allerdings seien die Kapazitäten dieser Orte bislang begrenzt, denn neben der weltweit existierenden Männergewalt sind sie zugleich mit den Auswirkungen von Krieg und die Vertreibungen konfrontiert. Hieraus schloss die Mitarbeiterin von DIKASUM: „Deshalb sind die Kämpfe hier härter, denn wir müssen zugleich gegen Staat, Gesellschaft und Männer kämpfen.“

Mukaddes Alataş, die Koordinatorin des Frauenzentrum Kardelen im Stadtteil Baglar, sprach mit den Delegationsteilnehmerinnen über die besondere Situation in ihrem Stadtteil, in dem 350 000 Menschen leben, die überwiegend Binnenflüchtlinge sind. 47 % der Bevölkerung von Baglar sind Kinder und Jugendliche. Nur 0,001% der Frauen haben hier einen Universitätsabschluss; 72% der Frauen über 45 Jahren sind Analphabetinnen. Der überwiegende Teil der Frauen erlebe patriarchale Gewalt auch in der Familie. In diesem Stadtteil sind die Frauen gut organisiert, zum dritten Mal in Folge wurde eine Frau aus der BDP in das Bürgermeisteramt gewählt. Hierdurch haben Frauen an Einfluss in der Politik und im Stadtteil gewonnen. Gegenwärtig bestimmen Kampagnen gegen Frauenmorde und gegen die Ausbreitung von Drogen und Prostitution ihre Tagesordnung. Denn der Staat fördert bewusst Frauenhandels- und Drogenmafia, um die sozialen Strukturen zu zerschlagen und Frauen von der Politik fern zu halten. Zugleich protestiert Kardelen gemeinsam mit anderen Frauenvereinen gegen das Abtreibungsverbot, dass die AKP-Regierung einführen will.

Mitarbeiterinnen der Frauenakademie im Stadtteil Sur, erzählen davon, wie sie ihr Studium aufgegeben haben, da sie sich den Zwängen des türkischen Bildungssystems nicht mehr weiter unterwerfen wollten, und auch in ihrer kurdischen Muttersprache lernen und lehren wollten. Ihre Arbeiten an der Frauenakademie beschreiben sie folgendermaßen: „Wir fangen morgens früh mit der Arbeit in der Akademie an und bleibe bis abends. Wir sind nicht nur hier tätig, sondern in ganz Kurdistan. Wir reisen herum und machen Bildungsarbeit auch außerhalb von Amed. (…) Seit ich hier bin, lese und recherchiere ich zur Frauenfrage, zur Rolle der Frau in der Gesellschaft, in der Familie, in der Geschichte. Was ich lerne, versuche ich auch anderen Frauen zu vermitteln. Wir sind gleichzeitig Lernende und Lehrende.“

Gemeinsam mit der Bezirksverwaltung Baglar hat die Frauenakademie eine Umfrage zum Thema Gewalt gegen Frauen durchgeführt, deren Ergebnisse veröffentlicht wurden. Die staatlichen Repressionen stellen das größte Hindernis bei der Verbreiterung ihrer Arbeit dar: „Seit 2009 wird unsere Arbeit weitgehend durch die Repression blockiert. Eine Internetdiskussion ist uns wegen der Repression nicht möglich. Vor kurzem sind zwei unserer Freundinnen wegen abgehörten, belanglosen Telefongesprächen inhaftiert worden. Es gab auch hier schon Durchsuchungen. Deshalb haben wir unser Bildungsmaterial nicht hier, das ist nicht möglich. Denn bei der Durchsuchung wurden von uns erstellte Broschüren beschlagnahmt.“

Die Mitarbeiterinnen der Frauenakademie, die auch Kontakte zu Frauen und Akademikerinnen in der Türkei und im Ausland haben, wünschen sich einen kontinuierlichen internationalen Austausch mit Frauen aus verschiedenen Ländern, um die „Jineoloji“ (Wissenschaft der Frau) verbreitern und vertiefen zu können.

Bei der Frauennachrichtenagentur JinHa konnten sich die Delegationsteilnehmerinnen mit zwei ständigen Mitarbeiterinnen austauschen, von denen eine für kurdischen, die andere für den türkischen Nachrichtenservice verantwortlich ist. Das Anliegen von JinHa, die am 8. März 2012 gegründet wurde beschreiben sie folgendermaßen: „Wir haben nach Alternativen gesucht. Wir wollten Nachrichten aus der Frauensicht schreiben und verbreiten. (…) Deshalb haben wir ein Jahr lang recherchiert, Gespräche mit feministischen und anderen Fraueneinrichtungen geführt. Wir befassen uns vordergründig mit Frauenthemen, mit feministischem Bezug, aber wir behandeln auch Themen aus allen anderen Bereichen, Sport, Kultur, aber alles aus Frauensicht, aus weiblicher Perspektive. Wenn zum Beispiel eine Frau ermordet wird, dann berichten wir aus der Sicht von Frauen. Wir analysieren die gesellschaftlichen Strukturen, die zu diesem Mord geführt haben, und wir verurteilen diese.

Die Realität hier ist, dass täglich fünf Frauen getötet werden. Frauen, die Gewalt erleiden sind zahllos, und die Dunkelziffer ist noch höher. Frauen werden in den Medien oft pornographisch dargestellt, gegen dieses sexistische Bild möchten wir mit unserer Berichterstattung vorgehen. Dabei geht es auch um eine Veränderung in der Gesellschaft.“

Sprache und Gewohnheiten stellen die Mitarbeiterinnen von JinHa radikal infrage: „Wenn wir über Frauen berichten, dann nennen wir nur den Vornamen der Frau, und nicht ihren Nachnamen. Denn der Nachname gehört nicht ihr, sondern ihrem Mann oder ihrem Vater. Wir lehnen es ab, dass Frauen über Männer definiert werden.“

Mitarbeiterinnen des Menschenrechtsvereins IHD erzählten der Delegation von der Situation der Frauen in den Gefängnissen und von den starken Repressionen und Verfahren, von denen sie selbst betroffen sind: „Immer mehr Frauen werden politisch aktiv und somit steigt die Zahl der Frauen in den Gefängnissen stark an. Durch die Verhaftungen versucht der Staat, die Frauen einzuschüchtern. Zuletzt kam ein sehr trauriger Brief von einer kranken Gefangenen die berichtete, dass sie mit 45 Frauen in einer Zelle sitze, die eigentlich für 15 Personen sei.“

Zugleich wenden sich Frauen aufgrund von sexuellen Übergriffen, Frauenmorden und Gewalt in den Familien an den IHD. Es bestünde eine gute Zusammenarbeit mit Frauenorganisationen und -zentren. So gelang es ihnen, die systematische sexuelle Gewalt gegen Mädchen an einer Grundschule in Siirt bekannt zu machen und zur Anklage zu bringen. Einer der Haupttäter sei zu 46 Jahren und 8 Monaten Haft verurteilt worden. Eine hohe Strafe sei in vergleichbaren Verfahren bisher noch nie verhängt worden. Dies sei der guten Zusammenarbeit der Organisationen zu verdanken.

Ausserdem fanden Gespräche mit Mitarbeiterinnen Solidaritätsvereinigung für Flüchtlinge GöcDer und dem Bezirksbürgermeister von Sur, Abdullah Demirtas statt. Aufgrund seines Einsatzes für mehrsprachige, d.h. auch kurdischsprachige Dienstleistungen in seiner Bezirksverwaltung wurde Abdullah Demirtas zu einer Gefängnisstrafe von bislang insgesamt ca. 500 Jahren verurteilt, jedoch wurde er aufgrund einer schweren Krankheit und internationalen Protesten schließlich aus dem Gefängnis entlassen.

In Wan wird die Frauendelegation morgen ihre Gespräche fortsetzen. Dort werden sie mit Vertreterinnen der Konföderation der Gewerkschaften im Öffentlichen Dienst (KESK), der Initiative der Friedensmütter und des Frauenvereins VAKASUM zusammentreffen. Desweiteren ist ein Gespräch mit der Bürgermeisterin des Bezirks Bostaniçi Nezahat Ergüneş geplant. Sie war bei der Operation am 7. Juni 2012, bei der der Oberbürgermeister von Wan, fünf BezirksbürgermeisterInnen, sowie 10 Mitglieder der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) verhaftet wurden, ebenfalls inhaftiert worden. Drei Tage später wurde sie aus der Haft entlassen, das politische Strafverfahren gegen sie läuft jedoch weiter.

Nach der Rückkehr der Delegation sind verschiedene Informationsveranstaltungen zur Situation der Frauen, den Repressionen gegen die Frauenbewegung und über die aktuellen Arbeiten und Projekte der Fraueneinrichtungen in Nordkurdistan geplant. Eine erste wird am Freitag, den 20. Juli 2012 um 20 Uhr auf dem NoBorder Camp in Köln stattfinden.

Anfragen für Veranstaltungen mit Teilnehmerinnen der Delegation können an Cenî – Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V. gerichtet werden.

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CENÎ
Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V.
Kurdish Women's Office for Peace

Corneliusstrasse 125
D- 40215 Düsseldorf
Germany

Tel.: 0049 (0)211 598 92 51
E-mail: ceni_frauen@gmx.de

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