Die Zeichen stehen auf Krieg – schmutzige Praktiken des türkischen Staates an der Tagesordnung

Menschenrechtsdelegation aus Hamburg, Berlin und Celle

Amed, 25.10.10

Zwischen dem 21. Und 23. Oktober besuchte unsere Delegation die Provinz Hakkari. Hier hielten wir uns in den Städten Şemzinan (Şemdinli), Gever (Yüksekova) und Colemerg (Hakkari) auf. Während die türkische Regierung der AKP von einer Neuauflage einer „demokratischen Öffnung“ spricht und von ihrem Interesse an einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage, zeigen die Zeichen nicht nur in der Provinz Hakkari auf Eskalation.
Nachdem in der Provinz Hakkari der durch die kurdische Bewegung ausgerufene Boykott des Verfassungsänderungsreferendums mit sehr großem Erfolg von oft über 90% bestritten worden war, verschärfte sich die Gangart der AKP Administration gegen diese Region. Sie wurde u.a. vom Ministerpräsident offiziell als feindliches Gebiet bezeichnet, das „befreit“ werden müsse. Die Region erlebt eine Militarisierung neuer Dimension und auch die schmutzigen Praktiken des Terrors parastaatlicher und staatlicher Kräfte sind an der Tagesordnung. Der türkische Staat nutzt die Waffenruhe der kurdischen Guerilla aus, um den Versuch zu unternehmen die kurdische Freiheitsbewegung zu vernichten. Entlang der Grenze werden 141 neue Militärstützpunkte errichtet. Große Soldatenkontingente werden zu den, sich vor Einbruch des Winters weiter verschärfenden, Militäroperation hinzugezogen. Die Anzahl der Kontrollpunkte, sowie des schikanösen Handelns der Soldaten gegenüber der Bevölkerung haben ebenso zugenommen wie oft tödliche Übergriffe durch Sicherheitskräfte.
Besonders hoch ist hier die Anzahl der inhaftierten und gefolterten Kinder und Jugendlichen. So soll ein Klima der Einschüchterung und Repression über die Region verhängt werden und die Menschen dazu gezwungen werden, das Gebiet zu verlassen oder sich bedingungslos unterzuordnen. Allein die Stadt Colemerg (Hakkari) verließen in den letzten 2 Monaten mehr als 87 Familien aufgrund dieser Lage.


GEVER – DIE HEIMLICHE HAUPTSTADT DER KURDISCHEN REVOLUTION
Die Stadt Gever (Yüksekova), mit ihren etwa 200.000 EinwohnerInnen, liegt auf einer etwa 2000m hoch gelegenen Ebene. Die Stadt stellt traditionell eine Hochburg der kurdischen Bewegung dar, in der die Konzepte des demokratischen Konföderalismus, die Viertelräte und Basiskomitees umgesetzt werden. Die kurdische Bewegung hat hier eine derartige Stärke erreicht, dass die Polizei sich nachts nur in großen Kontingenten auf den Straßen bewegt. Bei Polizeiaktionen kommt es fast wöchentlich zu schweren Straßenkämpfen mit der gut organisierten kurdischen Jugend. Die linke prokurdische und mittlerweile verbotene Demokratische Gesellschaftspartei, DTP, bekam hier bei den Regionalwahlen 2009 eine Ergebnis von über 90% und auch die Beteiligung am Boykott des Verfassungsreferendums lag hier bei 96%. Fast jede Familie hat gefallene Guerillas in ihren Reihen zu beklagen und kann von schwersten Übergriffen der Staatsgewalt berichten.

In der Umgebung von Gever finden permanent Militäroperationen statt, Kobra und Skorsky Hubschrauber starten und landen aus Kasernen innerhalb der Stadt. An vielen Wänden sind Parolen für die PKK, ihren Vorsitzenden und für den kurdischen Befreiungskampf zu finden.
Wir besuchten unter anderem das Büro der Friedens und Demokratiepartei BDP, der Nachfolgepartei der DTP. Dort berichteten die Menschen über die Menschenrechtsverletzungen und Folter die sie erlitten hatten. Sie kritisierten die Rolle der europäischen Regierungen und zeigten von jung bis alt ein sehr ausgeprägtes politisches Bewusstsein. Auch die Veränderung der Gesellschaft durch den Kampf der kurdischen Frauenbewegung wird gerade in einer traditionell konservativen Stadt wie Gever sichtbar. Innerhalb der BDP-Zentrale ist unter anderem ebenfalls eine Schule eingerichtet, in der politische Bildung nach neuen Konzepten betrieben wird. Dabei wird besonders auf eine linke, feministische Geschichtsbetrachtung aus Perspektive der Unterdrückten heraus, Wert gelegt.

Wo der Widerstand so stark ist, ist auch die Repression stark. So legten am Tag nach unserer Abreise vermutlich Kräfte des „tiefen Staates“ eine Bombe vor dem BDP-Gebäude. Es entstand glücklicherweise nur Sachschaden und eine Massenpanik. Dieser Bombenangriff ist als Teil nicht hinnehmbaren psychologischen Kriegsführung gegenüber der Bevölkerung zu sehen.

ŞEMZINAN (ŞEMDINLI) – SCHWERPUNKT MILITÄRISCHER AUSEINANDERSETZUNG
Von Gever aus reiste unsere Delegation weiter in die Kleinstadt Şemzinan mit etwa 12.000 EinwohnerInnen. Şemzinan wird im Osten von der iranischen und im Süden von der irakischen Grenze eingefasst und ist Ausgangspunkt für Grenzüberschreitende Operationen der türkischen Armee gegen die kurdische Guerilla. Erst letzte Woche verlängerte das türkische Parlament die Genehmigung für grenzüberschreitende Militäroperationen.
Unsere Delegation konnte u.a. hier massive Truppenbewegungen in Richtung Grenze beobachten. Hierbei fiel vor allem die große Zahl deutscher Waffen, von Unimogs, Mercedes Benz Lastwagen bis hin zum BTR-60 Radpanzer, auf.
Die Kleinstadt ist vom staatlichen Terror gezeichnet. So wurde sie bekannt, als 2005 Angehörige des türkischen Militärs bei einem Anschlag auf eine linke kurdische Bücherei „Umut Kitabevi“ von der Bevölkerung gestellt wurden und bei ihnen Todeslisten und Waffen gefunden worden waren. Obwohl bei dem Angriff ein Mensch ums Leben kam und die Personen schon 4 Tage zuvor eine Moschee in die Luft gesprengt hatten, wurden die Täter nach Verfahrensverschleppung und Drohungen des Militärs wieder freigelassen. Der damalige Generalstabsschaf Yaşar Büyükkanıt bezeichnete die Mörder sogar als „Gute Jungs, die er schon lange kenne.“ Die Verwicklung des Staates und Militärs wird auch deutlich, in Anbetracht der Tatsache, dass die Offizierswohnungen, die gegenüber der gesprengten Moschee liegen zum Tatzeitpunkt geräumt worden waren.

Doch der staatliche Terror war damit nicht vorbei. Neben etlichen extralegalen Hinrichtungen und anderen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen kam es zu mehreren besorgniserregenden aktuellen Ereignissen. So umstellten am 15.09.10 Spezialeinheiten das Haus des BDP Bürgermeisters Sedat Töre und eröffneten das Feuer, dies diente als Vergeltung der Sicherheitskräfte für einen vorherigen Angriff der Guerilla. Ein Verwandter von ihm wurde ebenfalls wie viele Andere verhaftet und gefoltert. Die Soldaten verhöhnten ihn: „Du hast Sedat Töre unterstützt, jetzt soll er kommen und dir helfen.“ Dabei stiegen sie auf seinen Kopf und quetschten ihn. Bei Auseinandersetzungen im Rahmen eines Begräbnisses von zwei Gefallenen Guerillas am 21.08.10, die auf einen Polizeiangriff folgten, wurden mehrere Personen festgenommen und schwer gefoltert. Ein Taxifahrer, der erwiesenermaßen nicht am Tatort gewesen war, wurde festgenommen und so schwer gefoltert, dass er vier Tage stationär in Krankenhaus musste. Trotz seiner erwiesenen Unschuld sitzt er weiterhin im Gefängnis. Wie in sehr vielen Fällen wurde auch über seinen Fall eine Geheimhaltungsverfügung verhängt, welche nicht zulässt, dass AnwältInnen eine effektive Verteidigung aufbauen können, da sie erst mit Beginn des Prozesses Akteneinsicht erhalten

Dass solche Praktiken Alltag sind und einen ausgeweiteten Angriff auf die Zivilbevölkerung darstellen wurde uns in der folgenden Nacht deutlich vor Augen geführt. Militäreinheiten beschossen bei einer Razzia im Dorf Besosin (Ortaklar) nahe von Şemzinan aus Skorpion-Panzern Dorfbewohner und verletzten dabei den 16 Jährigen Izzet Demir schwer. Er wurde ins Krankenhaus von Wan gebracht und wird noch behandelt. Solche Ereignisse zeigen, wie ausgeprägt der Kriegszustand in der Region ist.

COLEMERG (HAKKARI) – KRIEGSZUSTAND AUF ALLEN EBENEN
Die Hauptstadt der Provinz ist Colemerg (Hakkari). Dort leben etwa 60.000 Menschen, viele kommen aus der Zwangsmigration durch die Zerstörung der Dörfer. In der Stadt herrscht ein Klima von Repression und Widerstand. Demonstrationen und Polizeiangriffe sind an der Tagesordnung.
Der Landkreis um Colemerg wurde zum Schauplatz der schwersten Kriegsverbrechen der vergangenen Wochen.

So explodierte am Morgen des 16.09. um 9.00 Antipanzermine eine ferngezündete aus deutscher Produktion in der Nähe des Dorfes Peyanis (Geçitli) unter einem Reisebus und riss 9 DorfbewohnerInnen in den Tod. Der Staat begann sofort damit, zu betonen, die kurdische Guerilla habe hier ein Massaker begangen. Eine Analyse und Recherche der Fakten durch MenschenrechtlerInnen aus der Region wirft jedoch ein ganz anderes Licht auf die Tat:

In den türkischen Medien wurde das Dorf als zur Türkei loyales Dorfschützerdorf dargestellt und damit das angebliche Massaker der PKK begründet. Zwei entscheidende Gründe sprechen hiergegen. Einerseits ist dieses Dorf schon vor einiger Zeit zur BDP übergetreten, unterstützt die kurdische Freiheitsbewegung und hatte eine Boykottquote von 99%, andererseits zählt weder der verwendete Sprengsatz, noch die Art, ein Massaker an der Zivilbevölkerung zu begehen, zu den Mitteln der PKK.
Weiterhin wurden am Tatort zurückgelassene Rucksäcke von Spezialeinheiten der Region gefunden, welche Sprengsätze, Kabel und Anleitungen aus Militärbesitz enthielten. Darüber hinaus befindet sich der Tatort auf einer übersichtlichen Ebene, die an allen möglichen Fluchtwegen von Militärstützpunkten abgesperrt ist. In der Entfernung von 100 bzw. 200m befinden sich Dorfschützerstationen, die direkten Blick auf den Tatort haben. Der Tatablauf stellt sich in diesem Zusammenhang folgendermaßen dar:

Nachdem die Täter den Sprengsatz gelegt hatten, zogen sie sich zurück, um ihn zu zünden. Dabei wurden mehrere Taschen zurückgelassen. Nach der Detonation funkten die Täter, dass ihre Ausrüstung dort zurückgeblieben sei und geholt werden müsse. Die Bevölkerung war jedoch schon an den Tatort geströmt und hatte die Beweise in Besitz genommen. Erst nach 40min kam das Militär zum Tatort und feuerte mehrfach in die Luft, um Zugriff auf die Taschen zu bekommen. Die Bevölkerung übergab sie jedoch erst später nach eingehender Dokumentation direkt der Staatsanwaltschaft.
Schon vor der Tat ging eine Order an die Dorfschützer der Region heraus, eine Gruppe die herumzieht, nicht zu behelligen. Obwohl der Ort in drei Minuten per Hubschrauber aus Hakkari erreichbar ist und bei jeder Sichtbarkeit von KämpferInnen der PKK das türkische Militär eine Operation mit Luftunterstützung startet, blieben Maßnahmen dieser Art an diesem Tag aus. Selbst der Gouverneur erklärte „Er verstehe auch nicht warum das so war.“ Auch die sonst immer in der Nähe des Tatorts diensttuenden Dorfschützer waren nach Augenzeugenberichten schon eine Woche nicht mehr zu sehen gewesen und auch die Armee hatte seit einer Woche ihre tägliche Suche nach Minen entlang der Straße eingestellt. Nach dem Anschlag entschloss sich die Bevölkerung des Dorfes geschlossen die Region zu verlassen, da ihre Sicherheit nicht mehr garantiert sei. Nur durch große Anstrengungen von BDP und MenschenrechtsaktivistInnen konnte die Dorfbevölkerung zum Bleiben überzeugt werden.
Trotz des andauernden Waffenstillstands der kurdischen Guerilla reißen die Militäroperationen nicht ab. Auch während wir anwesend waren, hörten wir den Lärm startender Hubschrauber und Schüsse aus Maschinengewehren von den Bergen widerhallen. So wurden am 08.09.10 erneut 9 Guerillas, die sich in Defensivposition befanden durch das türkische Militär getötet. Aufgrund dieses Angriffs breiteten sich Proteste über ganz Kurdistan aus. Der Angriff, der am Tag des Zuckerfestes stattfand erschütterte die Menschen in der Region besonders. Deswegen wurde der eigentlich fröhliche Tag des Fastenbrechens zu einem „schwarzen Tag“ erklärt. Bei den Protesten an diesem Tag schoss ein Offizier des türkischen Militärs dem 15jährigen kurdischen Jugendlichen Enver Turan gezielt in den Kopf. Er verstarb wenige Wochen später. Der Gouverneur von Hakkari verteidigte den Offizier folgendermaßen: „Ein Unteroffizier, der Opfer eines Angriffes mit Steinen geworden war, stieg aus seinem Auto aus und verteidigte sich mit Schüssen in die Luft. Aufgrund dessen wurde eine Person durch eine Kugel am Kopf verletzt.“ Augenzeugen berichten allerdings, dass der Offizier aus dem Auto ausstieg, ein Ziel wählte und schoss. Die Ermittlungen gegen den Offizier werden verschleppt und aufgrund einer Geheimhaltungsanordnung werden keine Informationen über das Verfahren herausgegeben. MenschenrechtlerInnen die Erfahrung mit solchen Verfahren haben, drängt sich dabei der Verdacht auf, dass es wie viele andere Verfahren dieser Art auch verschleppt und schließlich eingestellt werden soll.
In Hakkari wurden auch in den letzten Monaten zahlreiche PolitikerInnen und GewerkschafterInnen und JournalistInnen festgenommen. Darunter der ehemalige stellvertretende Bürgermeister, Bülent Armut und die engagierte Menschenrechtsjournalistin Hamdiye Ciftci. Im Fall Bülent Armut wurde ebenfalls eine Geheimhaltungsverfügung verhängt, die beinhaltet, dass ihm nicht einmal der Grund seiner Inhaftierung mitgeteilt wird.

Fazit
Als Fazit müssen wir leider Feststellen, dass das Vorgehen staatlicher türkischer Kräfte in der Provinz Hakkari zeigt, dass die türkische Regierung entgegen anderer Bekundungen kein Interesse an einem Frieden hat. Im Gegenteil, wie dargestellt werden sowohl Methoden des offenen Kriegs als auch schmutzige Praxen der 90er Jahre wie Bombenanschläge auf ZivilistInnen und Parteibüros und militärische Angriffe auf die Zivilbevölkerung mit systematischer Regelmäßigkeit durchgeführt. Die Defensivposition der Guerilla soll ausgenutzt werden um möglichst viele KämpferInnen mit allen Mitteln zu töten. Durch die Verbreitung der Anwendung sog. Geheimhaltungsverfügungen, verschärft sich das Klima der Rechtlosigkeit. Weder der Grund des Verfahrens oder Inhaftierung, noch die Dauer sind den Opfern dieser Praxis bekannt. Damit beugt die türkische Justiz das Recht massiv und macht sich zum Werkzeug von Einschüchterung und Unterdrückung.
Die Herstellung internationaler Öffentlichkeit wird in der gesamten Provinz Hakkari mit Sanktionen von Repression bis hin zu lebensbedrohenden Vorgehensweisen quittiert. Das ist nicht hinnehmbar. Wir fordern die unmittelbare Freilassung der Gefangenen, insbesondere von Bülent Armut und der engagierten Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Hamdiye Ciftci!


 
ISKU | Informationsstelle Kurdistan