Öcalan: Wenn die Verhandlungen andauern, werde ich meine Rolle spielen

Öcalan erklärte während der Konsultation seiner Anwälte am 1. September 2010, dass er seine Rolle spielen werde, sollten die Verhandlungen mit ihm andauern. „Ich werde die Öffentlichkeit über den Inhalt der Verhandlungen informieren“, so Öcalan.

Öcalan kam am 1.9. mit seinen Anwälten auf der Gefängnisinsel Imrali zusammen. Laut der Nachrichtenagentur Firat (ANF) sprach Öcalan auch über seinen Gesundheitszustand. Er sagte, dass die alten Probleme andauerten. Aufgrund des engen Fensters bekomme er keine Luft, vor allem aber die politische Verantwortung, die auf seinen Schultern laste, beeinflusse seinen Gesundheitszustand. Öcalan erklärte jedoch, dass er diesen Zustand ertragen werde und fügte hinzu: „Ich werde meine Rolle den Ereignissen entsprechend spielen. Wenn ich mir aber die letzten Worte des Premierminister Erdogans anhöre, bin ich sehr verwundert. Wieso verhandeln sie auf der einen Seite und nutzen eine nationalistische Sprache auf der anderen? Sie versuchen die Stimmen der NationalistInnen zu gewinnen, aber das sollten sie nicht auf diese Weise machen. Wie will man, wenn man so kurzfristig denkt, die Probleme lösen?!“
Öcalan sprach die aktuellen Diskussionen über die Demokratische Autonomie an und erklärte, dass die Diskussionen falsch verliefen. Seiner Vorstellung nach beruhe die Demokratische Autonomie nicht auf Ethnizität oder Grenzen. Öcalan erklärte diesbezüglich: „Unsere Projekte basieren nicht nur auf dem Kurdentum. Sie basieren auf der Demokratie. Beispielsweise kann in Hatay oder Adana auch eine Demokratische Autonomie entwickelt werden. In dieser Gegend leben überwiegend AraberInnen Unser Projekt der Demokratischen Autonomie stützt sich auf verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, Gruppen und Kreisen. Die Demokratische Autonomie ist nicht nur auf Kurdistan begrenzt, sondern gilt auch für die Ägäis, das Schwarze Meer und Mittelanatolien. Wichtig ist, dass der Nationalstaat, der mit der kapitalistischen Moderne aufblühte, überwunden wird.“

„Wir stellen den 400-jährigen Nationalstaat, der mit der kapitalistischen Moderne aufkam, in Frage“, sagte Öcalan und fügte hinzu, dass er für niemanden einen Vorteil biete. Auch Europa beginne den Nationalstaat in Frage zu stellen. Öcalan bezog sich auf die Theorien des Soziologen Max Weber. Laut Weber werde die Gesellschaft in einem eisernen Käfig gehalten. Nach Öcalans Aussage könne die Zerstörung, die der Kapitalismus anrichte, auf diese Weise erklärt werden. Als Ziel benannte Öcalan „den Ausbruch aus diesem Käfig“ und die „Beseitigung dieser Zerstörungen“. In Bezug auf die Demokratische Autonomie erklärte Öcalan „Die momentane Türkei bringt niemandem einen Vorteil. Unsere Aufgabe ist es, den Nationalstaat zu überwinden. Vielleicht können die KurdInnen VorreiterInnen dieses Projekts sein, aber die Demokratische Autonomie ist nicht nur auf Kurdistan beschränkt, sondern gilt für die ganze Türkei. Wichtig ist, dass man erkennt, dass die Türkei mit einem Nationalstaat nicht lenkbar ist. Die Demokratische Autonomie ist die passende Alternative zum Nationalstaat und ebenso für den gesamten Mittleren Osten.“
Öcalan erläuterte die Verwaltungsform der Demokratischen Autonomie und sagte, dass alle Entscheidungen vom Staat der Gesellschaft übergeben würden. „Wir können einen Nationalstaat nicht weiter akzeptieren“, sagte Öcalan und warnte, dass man ihn nicht sofort abschaffen könne. Die Türkei sei ein gutes Beispiel, so Öcalan und fügte hinzu: „In der Türkei will man seit der Gründung der Republik eine ‚Nation’ erschaffen. Ich habe dies schon zuvor als Ideologie bezeichnet, die sich türkisch nennt, ohne türkisch zu sein. Verkörpert hat sich diese Ideologie in der Ittihat&Terraki-Bewegung. Der Faschismus dieser Bewegung war sogar Ratgeber Adolf Hitlers.“
In der Türkei steht diese Woche ein Verfassungsreferendum an. Öcalan erklärte, dass diese Woche sehr wichtig sei und fügte hinzu, dass er das Volk besonders nach dem 12. September [Datum des Referendums] zur Geduld auffordere. Wenn bis zu diesem Zeitpunkt nichts geschehe, werde Öcalan keine Verantwortung mehr übernehmen. Nur wenn die Regierung Schritte mache, werde Öcalan Verantwortung übernehmen. Weiter warnte Öcalan davor, dass die Verhandlungen plötzlich abgebrochen und anschließend umfassende Angriffswellen gestartet werden könnten. Öcalan wertete den Wunsch des neuen Generalstabchefs der türkischen Armee Işik Koşaner, das Gesetz zu grenzübergreifenden Operationen zu verlängern, als Anzeichen für diese Gefahr.

Öcalan sagte, dass er nichts mehr zu tun haben werde, wenn es so weit kommen sollte. Allerdings erklärte er, dass er seine Rolle im Falle weiterer Verhandlungen spielen und die Öffentlichkeit über die Verhandlungen informieren werde. Öcalan unterstrich seine Aussage, dass er legale Wege der Lösung der kurdischen Frage bevorzuge. Außerdem erklärte Öcalan, dass er im Falle der Eskalation keinerlei Verantwortung übernehme, bzw. die Verantwortung dann beim Staat und den KCK liege.
Öcalan benannte den Zustand der politischen Parteien in der Türkei als „Parteienoligarchie“ und erklärte, dass sie ihre Politik nach Profitinteressen gestalteten und dem Staat nur schadeten. Die AKP bezeichnete Öcalan als einen Teil dieser Oligarchie und sagte, dass sie nicht zur Demokratisierung beitrage. Öcalan rief die Premier- und Staatsminister dazu auf, die Initiative zu ergreifen.

Im weiteren Verlauf der Konsultation rief Öcalan das kurdische Volk auf, wachsam gegenüber möglichen Massakern zu sein. Auch rief Öcalan die BDP dazu auf, sich in allen Gebieten der Gesellschaft zu organisieren um solche Massakerversuche zu verhindern.

Zuletzt sprach Öcalan den ROJ TV-Prozess an, der in Dänemark eingeleitet wurde. Zuletzt im März wurden die Studios von ROJ TV in Belgien überfallen. Zuvor war das ROJ-TV-Verbot in Deutschland mit der Begründung aufgehoben worden, dass es sich um eine „internationale Angelegenheit“ handele. Öcalan äußerte sich folgendermaßen. „Der Prozess hat mit Afghanistan zu tun. In Afghanistan braucht man türkische Soldaten. NATO-Chef Rasmussen ist dort verantwortlich, da ist der Zusammenhang.“

(ANF, 03. September 2010)

Komitee für Einheit und Fortschritt, „Jungtürken“

ISKU | Informationsstelle Kurdistan