Öcalan: Ohne Lösung wird ein türkisch-kurdischer Krieg entfacht!

KCK-Vorsitzender Abdullah Öcalan kam am 9. Juni 2010 zu seiner wöchentlichen Konsultation mit seinen Anwälten zusammen. Am 11. Juni berichtete die Nachrichtenagentur Fırat (ANF) über das Treffen der Anwälte mit Öcalan. Das Treffen beinhaltete Öcalans Ansichten über einen möglichen türkisch-kurdischen Konflikt, die Reise des Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan, Mesûd Barzanî, in die Türkei und die aktuellen Geschehnisse im Zusammenhang mit Israel.
„Barzanî sprach auch mit Vertretern der BDP [Partei für Frieden und Demokratie]. Er erklärte, dass die AKP [Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung] unterstützt werden müsse und sie im Gegensatz zu den vorherigen Regierungen eine positivere Haltung zur kurdischen Frage habe. Die letzten Vorfälle, die Festnahmen und Operationen aber sind bekannt. Ihm müsste gesagt werden: ‚Mit diesen Worten bringen Sie auch die AKP in Schwierigkeiten.’ Eine Lösung ist nicht vorhanden! Diese Haltung Barzanîs ist weder für die AKP vorteilhaft noch für ihn selbst. In der Vergangenheit kamen einige aus der PDK [Demokratische Partei Kurdistans] zu mir und zeigten Fotos, auf denen Menschen mit abgetrennten Köpfen abgebildet waren. Sie beschwerten sich, dass solche Sachen geschähen. Ich habe sie gewarnt und tue es heute immer noch: Wenn sie nicht schleunigst eine stabile politische Haltung einnähmen, dann würden noch 50 weitere Helebces [1988 starben ca. 5 000 Menschen nach einem irakischen Giftgasangriff] geschehen. Wie kann so etwas nicht erkannt werden? Ich habe zuvor mehrmals auf die Bedeutung einer ‘nationalen Konferenz’ hingewiesen. Wenn sie so etwas nicht realisieren, dann werden sie die Konsequenzen tragen müssen. Ich werde dann sagen: ‚Ihr seid selbst dafür verantwortlich.’“

Öcalan legte seine Ansichten zu den jüngsten Vorfällen um den Gaza-Streifen dar. Danach werde der Gaza-Streifen als Deckmantel für dreckige Spiele im Mittleren Osten und in Kurdistan benutzt. Nach ihm wäre das „Problem Gaza“ zusammen mit der kurdischen Frage zu lösen:
„Eigentlich ist die Sache nicht Gaza. Wichtiger sind die Spielchen, die in Kurdistan gespielt werden. Gaza ist hierbei nur eine Maske. Damit will man die Pläne in Kurdistan vertuschen. [...] Dazu können zwei Punkte gesagt werden:
1. Israel könnte ohne die Kurden in der Region nicht überleben. Deswegen ist es seit zehn Jahren hinter einem Projekt her. In Südkurdistan wird ein kleiner Nationalstaat gebraucht und gegründet. Die Türkei hat das erst vor kurzem verstanden. Als einige ihrer Vertreter diese Gefahr begriffen hatten, wurden sie sehr wütend.
2. Die USA und Israel, die bisher die Verleugnungs- und Vernichtungspolitik der Türkei vorbehaltlos unterstützten, ziehen ihre Unterstützung zurück. Die Allianz zwischen der Türkei, Syrien und dem Iran könnte sich auch auflösen. Ich kann nichts Genaues sagen, aber die Äußerungen des syrischen Präsidenten Baschar al-Essad [während seiner Reise in die Türkei] deuten das an. Er sagte: ‚Durch Verleugnung wird man kein Ergebnis erzielen. Man muss anerkennen.’ Der Iran zieht sich zurück und Syrien wird sich nicht zum Teil dieses Spieles machen. So bleibt nur noch die Türkei. Alle Last soll auf ihre Schultern geladen werden. Das ist die Realität, Gaza ist nur eine Maske. Die AKP ging davon aus, dass die USA Israel beim letzten Vorfall nicht unterstützen würden. Doch das Gegenteil geschah. Die AKP war schockiert. In Sachen Gaza werden sie dies und jenes sagen und sich später bei Israel nicht mehr einmischen.
Dass während der Türkei-Reise Barzanîs auf der Pressekonferenz nur die türkische Flagge zu sehen war, war eine Botschaft an Israel. Die Türkei sieht in der Person Barzanîs die Vertretung Israels. Das ist das Paradigma des Staates. Analog zum israelischen Affront gegenüber dem [zum Protest einbestellten] türkischen Botschafter macht die Türkei in der Person Barzanîs die Kurden klein. Diese Sache war etwas Geplantes.“

„Die vier Verschwörungsphasen, die ich letztes Mal ansprach, trafen auf viel Interesse. Die hiesigen Freunde sagten mir, dass auch die rechte Presse darüber viel berichtet habe. Ich sagte, dass die Kriegslobby Erdoğan auslöschen werde. Es scheint, als sei die Sache mit [dem Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei CHP] Kılıçdaroğlu ein Teil dieses Planes. Armenier waren aufgrund ihres Wissens einem Genozid ausgesetzt worden. Die Kurden aber werden in menschlichen Maßstäben nicht entsprechenden Verhältnissen gehalten. Sie sind zahlreich und können keinem physischen Genozid ausgesetzt werden, daher greift man eher zum kulturellen Genozid. Ihnen wird täglich die Identität geraubt. Gibt es denn im heutigen Zeitalter ein Volk, das nicht in der eigenen Muttersprache unterrichtet wird? Aber nicht einmal so etwas wird im Parlament besprochen. Das muss auch Barzanî erklärt werden. Man muss sagen, dass die Gefahr groß ist, hunderte und wenn nötig tausende Male. Die eigene Kraft muss genutzt werden. Man kann Versammlungen einberufen und über die aktuelle Gefahr berichten. Zu Barzanî und Talabanî muss gesagt werden, dass die aktuellen Ereignisse auch nicht zu ihren Gunsten sind. Bar­zanî und Co. müssen das verstehen. Man kann die Interessen der Kurden nicht vertreten, indem man Almosen hinterherrennt. So kann man nur den Tag retten, aber was ist mit morgen?! Es heißt, einmal im Monat werde eine Delegation geschickt. Andere machen das täglich! Man kann sich nicht einmal untereinander richtig versammeln.“

Im weiteren Verlauf des Treffens sprach Öcalan die Widerstandsform der PKK an. Er meinte, sie entspreche nicht der von ihm gewollten Art und Weise von Widerstand, die PKK habe eine eigene entwickelt:
„Die KCK hat wohl dasselbe Leitmotiv wie ich: ‚die Exis­tenz schützen und für Freiheit sorgen’. Sie haben bekanntgegeben, dass sie zur aktiven Verteidigung übergegangen sind. Ich nehme an, sie haben auch einiges beschlossen, was wahrscheinlich demnächst der Öffentlichkeit mitgeteilt werden wird. Sie sagen, dass sie die ‘demokratische Autonomie’ ausrufen werden.
Ich habe die PKK in der Vergangenheit sehr oft kritisiert. Sie haben nie die Art von Krieg geführt, die ich vorgesehen hatte. Sie haben aber ihre eigene Art und Weise entwickelt und sind damit bis heute gekommen. Das war zwar nicht so von mir gewollt, aber sie haben bewiesen, dass sie unbesiegbar sind. Auf ihre eigene Art und Weise.“

Die ANF berichtet weiter, Öcalan habe die Feststellungen des ehemaligen Mitarbeiters Cevat Öneş des MIT [Nationaler Nachrichtendienst] für richtig erachtet, aber kritisiert, dass trotz richtiger Feststellungen keine Schritte erkennbar seien:
„Öneş erklärte, für die Lösung der kurdischen Frage müsste die AKP mit der PKK, Öcalan und der BDP zusammenkommen. Ich habe mehrere Male dazu aufgerufen, Briefe geschickt und eine ‘Roadmap’ gefertigt – Ergebnis: Es wird kein einziger Schritt gemacht. Ja, die Feststellung ist richtig, aber was kommt danach? Wie soll das Problem gelöst werden? Es gibt keine entschlossene Haltung. Nicht einmal einen winzigen Schritt für die Lösung. Liberale Intellektuelle sind der Meinung, die AKP werde eine Lösung bringen. Im Gegenteil, die AKP ist das Hindernis für eine Lösung! Sie ist mit sich selbst und ihrer Regierung beschäftigt. Sie versucht die eigene Hegemonial-Regierung zu errichten. Diesem Zweck dienen die Verfassungsänderungen. Die AKP hat mit der Demokratie nichts zu tun. Das muss richtig erkannt werden. Ähnlich wie die CHP, die ab 1921 die Verfassung [in die von 1924] änderte und ihre 80-jährige Hegemonie begründete, versucht das die AKP seit 2002. Was die CHP in 80 Jahren gemacht hat, will die AKP in 8 Jahren machen. Die AKP ist eine schlechte Kopie der CHP. Ich habe Mustafa Kemal immer aus dem Grunde erwähnt: Er pflegte zwischen 1916 und 1924 die Zusammenarbeit mit den Kurden. Deswegen sage ich, dass die Verfassung von 1921 einige demokratische Elemente, wie die Autonomie, enthielt. Alle Verfassungen nach 1921, inklusive der aktuellen, tragen die Handschrift verschiedener Militärputsche, und zusammen mit der Verfassung von 1924 wurde die CHP-Hegemonie errichtet. 2002 hat die AKP dies übernommen. Eine Hegemonie kann nur durch den Faschismus aufrechterhalten werden; das ist das, was die AKP tut. Indem sie das arabisch-saudische Kapital, das sein Zentrum in Konya und Kayseri hat, und das globale Kapital hinter sich bringt. Bisher habe ich das Hindernis als ‘bürokratische Oligarchie’ bezeichnet, heute nenne ich es ‘politische Oligarchie’. Darin ist nicht nur die Regierung, sondern auch die Opposition enthalten. Diese Oligarchie ist für den jetzigen Kurs verantwortlich.“

Öcalan griff außerdem das Thema der Friedensverhandlungen mit den Vorgängerregierungen, das er in den vergangenen Wochen ausführlich geschildert hatte, dieses Mal wieder auf:
„2001, 2002 wollte [Ex-Premier Bülent] Ecevit eine Lösung. Vertreter Ecevits und des Generalstabschefs kamen zu Gesprächen nach Imralı. Wir waren gerade an den letzten Punkten für eine Lösung, mit denen eine gewisse Amnestie kommen sollte, da griff die Kriegslobby ein. Sie setzten Ecevit außer Gefecht. Zur gleichen Zeit fügte die EU die PKK der ‘Terrorliste’ hinzu. Diejenigen, die eine 20 Jahre Krieg führende PKK nicht auf diese Liste gesetzt hatten, taten dies, als eine Lösung gesucht wurde! Das ist kein Zufall.

Die MHP [Partei der Nationalistischen Bewegung] zog sich aus dem Parlament zurück, um das Ganze zu blockieren. Im Namen des Imperialismus. Dann warf man Kıvrıkoğlu vor: ‚Du treibst Spielchen hinter unserem Rücken’ und verübte in Zypern ein Attentat auf ihn. Damals wollten gewisse Kreise in Staat und Militär eine Lösung, aber die Kriegslobby blockierte das. Nachdem die AKP an der Regierung war, haben diese Gespräche komplett aufgehört. Ich schrieb Briefe, sagte, man müsse in den Dialog eintreten, gerade zu der Zeit, als sich die Guerilla-Einheiten außerhalb der Grenzen befanden [von 1999, als Öcalan sie aufgerufen hatte, sich außerhalb der türkischen Grenzen zurück­zuziehen, bis 2004]. Aber man wollte nicht und der bekannte Prozess des 1. Juni begann [am 1. Juni 2004 kündigte der Kongra-Gel den Waffenstillstand auf und ging zur ‘passiven Selbstverteidigung’ über]. Wenn die AKP eine Lösung wollte, könnte das Militär kein Hindernis darstellen. Die AKP stellt die Regierung. Das Militär muss ihr untergeordnet sein. Wenn man seine politische Rolle nicht spielt, wird das Militär natürlich nach der eigenen Pfeife tanzen. Die AKP hat sich mit dem Militär auf die ‘Nicht-Lösung’ geeinigt. Das Militär wird sich in die AKP nicht einmischen, dafür wird es freie Fahrt in Sachen Angriffe auf die Kurden haben!

Was wird heute geschehen? – Wenn es keinen Dialog bzw. keine Lösung geben sollte, dann wird der von bestimmten Kräften angestrebte türkisch-kurdische Krieg entfacht. Keiner ist sich dieser Gefahr bewusst! Ich vergleiche das mit Russland 1918 und Frankreich ab 1789. Damals wurden Bürgerkriege ausgelöst. Bekanntlich floss damals viel Blut. Der türkisch-kurdische Krieg kann sich viel weiter ausbreiten. Ich versuche meine historische Aufgabe zu erfüllen und warne alle!
Wenn das so weitergehen sollte, dann wird das nicht bei der ‘demokratischen Autonomie’ bleiben, sondern bei einem semi-abhängigen Kurdistan enden. Dann wird viel Blut fließen. Viele Menschen werden dann sterben. Das Militär behauptet, es habe eine Million Soldaten und könne gewinnen. Aber ich kenne die PKK, die PKK wird sich wehren und nicht verlieren.
Das ist aber auf keinen Fall etwas, das ich favorisiere! Ich sagte vorher ‘demokratische Republik, demokratische Nation, demokratisches Land und demokratische Verfassung’. Ich bevorzuge die Methode, ohne viel Blutvergießen die demokratische Lösung zu verwirklichen. Auch mit einem hohen Blutzoll wird man am Ende an dem Punkt ankommen, der ‘Lösung’ heißt. Ich strebe hier aber die Lösung ohne viel Blutvergießen an.“

Öcalan sprach noch die neugegründeten Akademien an. Nachdem er sehr lange deren Bedeutung betont hatte, ist jetzt letzte Woche u. a. in Istanbul eine eröffnet worden:
„Die Akademien sind sehr wichtig. Man sagt, es gebe keine Kader, aber gleichzeitig agiert man so langsam. Ich verstehe das nicht. Wieso habe ich diese Akademien vorgeschlagen? In den einzelnen Regionen können Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller etc. zusammenkommen und die Themen ausdis­kutieren. Politik müsste auf dieser Basis gemacht werden. Man darf keine Zeit verlieren. Die Arbeiten müssen beschleunigt werden.“

Quelle: ANF, 11.06.2010