Offener Brief an
den Ministerpräsidenten der Republik Türkei, Herrn Recep Tayyip Erdogan, den Staatspräsidenten der Türkei, Herrn Abdullah Gül,
den Innenminister der Türkei Herrn Besir Atalay,
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel,
den Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Guido Westerwelle
und
die Justizministerin der Bundesrepublik Deutschland,
Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Zur Kenntnis an sämtliche Abgeordnete des Deutschen Bundestages, die Deutsche Botschaft in Ankara und die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Erdogan, sehr geehrter Staatspräsident Herr Gül, sehr geehrter Herr Innenminister Atalay, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, sehr geehrter Herr Außenminister Westerwelle, sehr geehrte Frau Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger,

mit großer Besorgnis mussten wir feststellen, dass in der Türkei am Mittwoch, dem 09.06.2010 in der Provinz Hakkari mehrere verantwortliche Politikerinnen und Politiker aus den Reihen der legalen Partei BDP und eine Journalistin, unserer Kenntnis nach ohne rechtliche Legitimation, festgenommen worden sind. Sie erhielten am Morgen des 13.06. Haftbefehle. Gleichzeitig wurde am 13.06. der Vorsitzende des Hilfsvereins für die Familien der „Verschwundenen“ Mikail Atan festgenommen, als er von einer Reise zurückkehrte.

Seit die kurdische Bevölkerung parlamentarisch in der Türkei vertreten ist, werden immer wieder Parteien verboten und Politikerinnen und Politiker festgenommen oder inhaftiert. Das betraf die Parteien HEP, DEP, HADEP, DEHAP und DTP, sowie Politikerinnen und Politiker der BDP. Letztere sind seit ihrer Gründung ebenfalls mit starken Repressionen konfrontiert. Aus den Reihen der DTP und BDP sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen befinden sich momentan mehr als 1500 Menschen z.T. ohne Anklage in Haft. Das Europaparlament und Regierungen kritisierten ein derartiges Vorgehen seit den 90er Jahren. In Stellungnahmen des Europaparlaments und von Parlamenten der Mitgliedsstaaten wird stets hervorgehoben, dass jede dieser Parteien sich ausschließlich im legalen Rahmen betätigt(e) und auf eine friedliche und demokratische Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts hinarbeitet(e). Demzufolge wurden und werden auch die angesprochenen Repressionen scharf kritisiert.Die türkische Regierung wurde seitens der genannten Gremien und der EU - Beitrittskommission bereits mehrfach aufgefordert, das Recht auf Vereinigung (Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention / EMRK – Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) einzuhalten.

Die Inhaftierung der beiden BDP Kreisvorsitzenden M. Sıddık Akış und Berivan Akboğa, der Mitarbeiterin und des Mitarbeiters im BDP Büro, İzzet Belge und Baki Özboğanlı, des BDP Vorsitzenden von Hakkari Stadt Seyithan Şahindas, des Stadtratsmitglieds Tahir Koç, des ehemaligen BDP Kreisvorsitzenden von Hakkari Hıvzullah Kansu, des Mitglieds der BDP Kreisleitung Hüsna Sağın, der BDP Kreisleiterin Fatma Duman und der Korrespondentin der Nachrichtenagentur DİHA Hamdiye Çiftçi widersprechen dem genannten Artikel Art. 11 EMRK, sowie dem Art. 5 der EMRK – Recht auf Freiheit und Sicherheit.

Die zur gleichen Zeit festgenommene Journalistin Hamdiye Ciftci wurde seit mehreren Jahren wiederholt von Sicherheitskräften bedroht. Sie ist u.a. für ihre Reportagen über Menschenrechtsverletzungen bekannt. Besonders in den letzten Monaten werden Pressefreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK - Freiheit der Meinungsäußerung) in der Türkei zunehmend eingeschränkt. Ein türkisches Gericht verurteilte den Journalisten der kurdischsprachigen Zeitung Azadiya Welat Vedat Kurşun zu 166 Jahren und 6 Monaten Haft. Im Jahr 2009 wurden insgesamt 36 Journalistinnen und Journalisten inhaftiert, 44 Mal wurde die Verbreitung von Zeitungen, Magazinen oder Fernsehsendungen zeitweise verboten. Immer wieder werden Journalisten von Sicherheitskräften misshandelt oder mit Folter oder dem Tod bedroht. Ein solches Vorgehen verstößt gegen Art. 3 EMRK – Verbot der Folter, sowie Art. 2 EMRK – Recht auf Leben.

In den letzten Wochen wurden darüber hinaus friedliche Friedensdemonstrationen von Sicherheitskräften angegriffen und Teilnehmerinnen und Teilnehmer, darunter Parlamentsabgeordnete und Journalistinnen und Journalisten, teilweise schwer verletzt. Auch bei den oben genannten Festnahmen kam es zu Drohungen und gewalttätigen Übergriffen (Verstöße gegen Art. 3 EMRK sowie Art. 11 EMRK) und gewalttätigen Übergriffen, in einem Fall sogar gegenüber einem 3 jährigen Kind (Verstöße gegen Art. 3 EMRK sowie die UN- Kinderrechtsresolution). Ein solches Agieren sehen wir mit großer Besorgnis. In übereinstimmenden Schilderungen der türkischen Presse und von Menschenrechtsorganisationen wird das Vorgehen der Sicherheitskräfte als übertrieben gewalttätig und unverhältnismäßig charakterisiert. Mit Betroffenheit müssen wir feststellen, dass sich daher der Eindruck aufdrängt, dass die politisch gewählte Vertretung der kurdischen Bevölkerung, u.a. unter Missbrauch des Anti-Terror Gesetzes (TMK), mundtot gemacht und die Bevölkerung eingeschüchtert werden soll.

Ohne die Einhaltung der in den Art. 2, Art. 3, Art. 10 und Art 11 gesicherten Rechte und der UN Kinderrechtsresolution, wird es kaum möglich sein, auf einen langfristigen Frieden in der Türkei hinzuarbeiten. Wir werden mit besonderer Aufmerksamkeit die weiteren Entwicklungen, vor allem in Bezug auf die oben genannten Fälle, insbesondere unter juristischen und menschenrechtlichen Gesichtspunkten beobachten.

Wir bitten Sie, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Erdogan, sehr geehrter Herr Staatspräsident Gül, sehr geehrter Innenminister Herr Atalay, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Merkel, sehr geehrter Herr Außenminister Westerwelle und sehr geehrte Frau Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, mit positivem Bezug auf die Menschenrechte und das Völkerrecht, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, für die sofortige Freilassung der benannten Personen einzusetzen.

Darüber hinaus bitten wir sie darum ihr politisches Handeln auf eine friedliche Lösung des türkisch - kurdischen Konfliktes zu konzentrieren und in ihren jeweiligen Tätigkeitsbereichen auf eine Einhaltung der Menschenrechte und des Völkerrechtes hinzuwirken.

Ulla Jelpke, Bundestagsabgeordnete
Prof. Dr. Norman Paech, Völkerrechtler
Christiane Schneider, Bürgerschaftsabgeordnete (Hamburger Landtag)
Martin Dolzer, Soziologe
Michael Knapp, Historiker
Britta Eder, Rechtsanwältin
Christian Jakob, Journalist