Bericht der Berlin/Hamburg Newrozdelegation

Newroz Semdinli

Am 20.04.10 besuchte unsere Delegation das Newrozfest in Semdinli. Einen der Orte an dem am 15. August 1984 die PKK den bewaffneten Kampf gegen die Unterdrückungs- und Assimilationspolitik gegen die kurdische Bevölkerung und für Selbstbestimmung und Sozialismus begann. Es ist eines der Gebiete in denen auch heute die heftigsten militärischen Auseinandersetzungen stattfinden. Schon auf dem Weg von Van nach Semdinli begegneten wir Militärkonvois unter anderem Unimogs und LKW`s der Marke Mercedes. Wir erfuhren aus den regionalen Medien und von unseren Ansprechpartner_innen, dass in der Grenzregion um Semdinli in den letzten Tagen mehr als 15.000 Soldaten zusammengezogen wurden um die Frühjahrsoffensive vorzubereiten.

Wir konnten nach nur einem Kontrollpunkt Semdinli verhältnismäßig ohne Behinderung erreichen. In der Kleinstadt mit etwa 12.000 Einwohner_innen wurde in diesem Jahr das erste Newroz ohne Angriffe durch Polizei oder Militär gefeiert. Etwa 11.000 Menschen feierten ein kraftvolles Newroz fest unter kämpferischen Parolen, mit denen sie ihre Verbundenheit mit der kurdischen Freiheitsbewegung in den Bergen, den Städten und den Gefängnissen. Besonders thematisiert wurde, dass Abdullah Öcalan der Ansprechpartner und Repräsentant der kurdischen Bevölkerung ist. Viele trugen Fahnen der PKK, der linken kurdischen BDP, der Frauenbewegung und der Jugendbewegung. Aufgefallen ist uns, die große Wut und Enttäuschung über die Repression gegen Roj TV und kurdische Politiker_innen in der EU. Es wurde immer wieder deutlich gemacht, dass von den europäischen Staaten nicht zu erwarten sei. Die Linke, die Presseverbände und Intellektuellen müssten sich aber gegen diese Repression solidarisch engagieren.

Es war eine solidarische und egalitäre Stimmung auf dem Newroz, in das alle Menschen mit einbezogen wurden. Menschen jeden Alters trugen mit Gedichten, Liedern und Redebeiträgen zur Feier bei. Am Abend brannten in der ganzen Stadt und an den Berghängen Newrozfeuer, an denen die Menschen ausgelassen das Widerstandsfest feierten. Interviewpartner_innen erklärten uns, dass sich die Polizei an Newroz zurückgezogen habe, da sonst die Menschen in Semdinli massiven Widerstand geleistet hätten.


Umut Bücherei

Dennoch ist Semdinli eine Stadt, die geprägt ist von den Spuren der Repression, den extralegalen Morden und Militäroperationen. Wir erfuhren von aktuellen Fällen von schwer Verletzten durch Explosionen von durch das türkische Militär verlegten Minen. Semdinli ist ebenfalls der Schauplatz von Verbrechen begangen durch Todesschwadronen des türkischen Staates. Wir besuchten die Umut Bücherei, auf die am 9.11.2005 von Kräften aus dem Geheimdienst Jitem, der dem “tiefen Staat” zuzurechnen ist, ein Handgranatenanschlag verübt wurde. Als die zwei Handgranaten explodierten waren die drei anwesenden Mitarbeiter gerade beim Essen. Einer wurde durch Schrapnelle tödlich, ein anderer schwer verletzt. Der Mitarbeiter Seferi Yilmaz konnte fliehen. Die Bevölkerung von Semdinli stellte die Täter, die gerade ihr Fluchtfahrzeug bestiegen hatten. Dabei stellten sie eine große Menge an Dokumenten, wie Todeslisten, Attentatspläne, Handgranaten deutscher Produktion und eine große Menge anderer Waffen sichergestellt. Ebenfalls wurden die Täter gestellt und der Polizei übergeben. Da klar war, dass das der Anschlag und noch weitere Angriffe von staatlichen Kräften ausgeführt worden waren, stand die Bevölkerung von Semdinli auf und verwehrte 15 Tage lang staatlichen Kräften den Zugang zur Stadt.
Die Täter wurden zunächst vor ein Zivilgericht gestellt und zu 15 Jahren Haft verurteilt, dann wurde der Prozess einem Militärgericht übergeben. Der Generalstabschef Yasar Büyükanit gab die Linie des Verfahrens vor, indem er die Mörder als “gute Jungs” lobte. Das Verfahren wurde verschleppt, die Mörder freigelassen. Sie haben keine Verurteilung oder Konsequenz ihrer Terroraktivitäten in den kurdischen Provinzen zu befürchten.
Der Anschlag galt dem Buchladen u.a. weil Seferi Yilmaz, der bei der ersten Guerillaaktion der PKK am 15.08.1984 teilgenommen hatte und 15 Jahre im Gefängnis gesessen hatte, als weiterhin widerstäniger Mensch dem Staat ein Dorn Auge war. Die Buchhandlung, deren Decke und Boden durch Explosionskrater bzw. Schrapnelleinschläge immer Spuren trägt ist auch heute noch Ziel von Repression. So wird Sefer Yilmaz häufig bedroht, die Buchhandlung observiert und seine Wohnung nahezu monatlich durchsucht und verwüstet. Zynisch und humorlos präsentierte sich die türkische Justiz ebenfalls, als sie das neue Schild der Bücherei, in der in Anspielung auf den Anschlag ein Fragezeichen mit Handgranate abgebildet war, zum Anlass für ein Strafverfahren mit dem Vorwurf “Lobens von Straftätern”

Kontrollen auf der Rückfahrt

Nach Semdinli begaben wir uns auf die Route in die Stadt Hakkari. Auf der 124 km langen Strecke wurden wir vier Mal mit zunehmender Aggressivität kontrolliert. Am letzten Kontrolpunkt wurden die Frage nach dem Grund der Kontrolle unter aggressiv präsentierter AK 47, von einem Zivilpolizisten folgendermaßen beantwortet: “Aus Sicherheitsgründen. Dieses Gebiet ist ein Terrorgebiet und ihr seid Terroristen.” Sie traten durch Körpersprache und der Art und Weise der Präsentation der Waffen bedrohlich auf.