Ein gemeinsamer Widerstand ist nun unumgänglich

Zwischen dem KCK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan und seinen Anwälten Ayşe Batumlu, Ibrahim Bilmez und Mehmet Sani Kizilkaya fand am 10.02.10 ein Treffen statt. Öcalan sprach zunächst den in Mêrdîn organisierten Glaubensrat an. Der „Glaubensrat Mesopotamiens", der an die DTK [Demokratik Toplum Kongresi - Demokratischer Volkskongress] gebunden ist, versammelte sich am 6. und 7. Februar.
Öcalan erklärte: „Es ist von Bedeutung, dass dieser Rat handelt. Er kann institutionalisiert werden, mit dem Zentrum in Amed oder Mêrdîn. Er muss für alltägliche Probleme praktische Lösungen finden können und ständig arbeiten. Eigentlich sage ich das für den ganzen Demokratischen Volkskongress. Der Volkskongress ist für die Organisierung des kurdischen Volkes notwendig und sollte sich legal organisieren. Er sollte angemessen beachtet werden. Die grundlegende Einstellung muss Praxis- und Lösungsorientierung sein. Ich habe das mehrmals angesprochen.
Ich habe in den Nachrichten gehört, dass in Semsûr die kleine Medine lebendig begraben wurde, das ist schrecklich. [Berichten zu Folge soll die Ermordung von Medine ein Mord im Namen der Ehre sein]. Eigentlich wurde nicht nur sie begraben. In ihrer Person wurden alle Frauen begraben; wurden wir alle begraben. Auch der Islam sieht das so. Wenn eine Person ermordet wird, ist es so, als wären alle ermordet worden. Eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Problemen, so wie dieses, warten auf Lösungen. Damit sollte man sich beschäftigen."

Öcalan sprach weiter über seinen Vorschlag zur Organisierung. „Ich sage demokratischer Kommunalismus. Es kann auch Kommunendemokratie heißen. Der Sinn dahinter ist, dass die Gesellschaft sich in kleinen Kommunen organisiert. Sind nicht in jedem Dorf aufrichtige Demokraten zu finden? Genau diese könnten zusammen kommen und die Kommune bilden. Sie suchen dann für jedes Problem eine gemeinsame Lösung. Das kann auch in Stadtvierteln so gemacht werden. Unser Volk ist dazu fähig. Tausende Dörfer und mehrere Gemeinden sind da. Diese Möglichkeiten sollten genutzt werden. In Amed können Hunderte von den genannten Kommunen aufgebaut werden."

Öcalan sprach die BDP [Bariş ve Demokrasi Partisi - Partei für Frieden und Demokratie] und die KCK [Koma Civakên Kurdistan - Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistan] an und sagte, dass zwischen ihnen ein gewisser Abstand sein sollte. Öcalan erklärte:
„Die DTK und BDP sind zwei Organisationen, sie müssen getrennt bleiben. Die KCK wiederum haben damit überhaupt nichts zu tun. Die Organisierung der KCK ist divergierend, sie sind auf den Bergen organisiert und können sich auch in der Stadt organisieren. Es kann sein, dass die KCK sich in den Gebieten organisieren müssen, in denen die BDP vertreten ist, aber das ändert nichts daran, dass sie verschiedene Organisationen sind. Die KCK sind in allen vier Teilen Kurdistans vertreten und haben ihre eigenen Gruppen. KCK, DTK und die BDP dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Die BDP ist nicht der legale Flügel anderer [Organisationen]. Das sollte klargestellt werden. Es muss gesagt werden, dass sie nicht im Widerspruch zueinander stehen, aber auch, dass sie verschieden organisiert sind. Die BDP ist eine Türkei-Partei. Das sollte so sein. Das ist so, weil wir von Herzen daran glauben und wissen, dass es keine Alternative gibt. Die BDP sollte ihre Arbeit in diese Richtung lenken, das ist sehr wichtig.“

Im weiteren Verlauf der Konsultation sprach Öcalan die linke Bewegung in der Türkei an. Öcalan kritisiert, dass die linken Organisationen in der Türkei theoretisch, aber nicht praktisch sind: „Ich verstehe die linke Bewegung nicht. Sie müssen sich endlich selbst finden. Sie haben nicht einmal den Mord an Mustafa Suphi 1921 aufdecken können. Sie stehen immer noch unter dem Einfluss dieses Schlages. Die Türkei braucht diese Alternative. Die GenossenInnen der linken Bewegung müssen endlich mehr das Volk organisieren, statt noch mehr Theorie zu erzeugen. Ich verstehe es nicht, wollen diese bis zum Ende nur schreiben? Sie schreiben seit 30 Jahren, doch gibt es nichts Konkretes. Wieso werden sie nicht zu einer Bewegung oder Partei? Das kann innerhalb der BDP sein oder in einer Dachpartei. Man muss endlich etwas machen. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Mahir Çayan und Deniz Gezmiş haben ihr Leben nicht umsonst gelassen. Sie waren meine Genossen, derer wir gedenken müssen. Ich kämpfe, gebunden an ihr Gedenken, seit 40 Jahren in der sozialistischen Bewegung. Ich habe immer gesagt, dass Mahir mich beeinflusst hat. Wenn er nicht wäre, gäbe es mich und meine Freunde nicht. Wenn ich nicht wäre, gäbe es die PKK nicht. Wenn es die PKK nicht gäbe, gäbe es die DTP [Demokratik Toplum Partisi –Partei für eine demokratische Gesellschaft, verboten am 11. Dezember 2009] und die BDP nicht.
Diese Bewegungen sind also abhängig voneinander. Sie haben dasselbe Erbe. Ibrahim Kaypakkaya war auch einer von ihnen. Er würde auch wollen, dass dies geschieht. Ich diskutiere diese Gedanken auch mit dem Genossen von der TIKKO [türkische Befreiungsarmee der Arbeiter und Bauern] und wir diskutieren über dieses Thema. Es sollte unser grundlegendstes Paradigma werden: Das Volk in Form von Kommunen von der Basis bis an die Spitze organisieren. Das muss in der Praxis so aussehen, dass praktische Lösungen für alltägliche Probleme gefunden werden. Nur so können wir den Sozialismus ins Leben rufen. Die Pariser Kommune war ein guter Ansatz, doch wurde sie nicht gut verstanden. Wenn sie erfolgreich gewesen wäre, wäre der Sozialismus entstanden, den Marx wollte. Später kam jedoch ein Sozialismusverständnis auf, dass der Sozialismus mit Hilfe des Staates aufgebaut werden sollte. Der Staat kann aber nicht sozialistisch sein, nur die Gesellschaft kann sozialistisch sein. Deswegen sagen wir demokratische Gesellschaft. Wir verstehen Marx nicht ganz. Eigentlich sagt auch er, dass ein sozialistischer Staat nicht möglich ist. Er hat richtige Feststellungen gemacht, doch hat sich Lenin an diesem Punkt vertan. Er dachte, dass er mit der Diktatur der Arbeiterklasse und mit Hilfe des Nationalstaates den Sozialismus schaffen könne. Der Begriff Nationalstaat ist eigentlich 200 Jahre alt. Die Französische Revolution entwickelte sich zunächst auf demokratischer Basis doch später, nach dem Eingriff der Jakobiner, endete sie im Nationalstaat. Wenn wir Begriffe wie Staat und Vaterland in der Menschheitsgeschichte betrachten, dann sind dies recht junge Begriffe. Diese Begriffe dürfen jetzt nicht mehr heilig sein. Daher sagen wir demokratische Gesellschaft.
Das Paradigma der MHP [Milliyetçi Hareket Partisi – Partei Nationalistischer Bewegung] und der CHP [Cumhuriyet Halk Partisi – Republikanische Volkspartei] ist nationalistisch, laizistisch und national-faschistisch. Das Paradigma der AKP [Adalet ve Kalkinma Partisi – Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung] hingegen ist islamistisch-nationalistisch. Die Wahl der AKP, die sie demnächst treffen wird, ist wichtig. Entweder wird sie auf der Seite der wahren Demokratie sein und alle – ich mache keinen Unterschied zwischen KurdInnen, TürkInnen, AlevitInnen, ArmenierInnen, TscherkessInnen etc. – für sich gewinnen, oder sie wird auf der Seite der CHP und MHP, also auf der nationalistischen, verleugnenden Seite ihren Platz einnehmen und auf der Vernichtung beharren. Das wird dann den Verlust der Türkei bedeuten. Das sind Feststellungen meinerseits. Der AKP- Abgeordnete Hüseyin Çelik sagte, das entweder sie das Problem lösen werden, oder das Problem sie lösen wird. Diese Feststellung ist sehr bedeutsam. Es wäre wichtig, wenn der Herr Premierminister das ebenfalls versteht. Der Punkt, an den sie die Türkei gebracht haben, ist klar. Dagegen sollte die demokratische Gesellschaft, die demokratische Nation und die demokratische Republik entwickelt werden.
Eigentlich kann es auch keinen demokratischen Staat geben, die Demokratie ist für das Volk da. Das Volk leistet gegen den Staat Widerstand für die Demokratie und für seine Rechte. Ohne Demokratie kann weder Sozialismus, noch Kommunismus entstehen. Nach der Oktoberrevolution von 1917 bestätigte das auch Leo Trotzki.
Bakunin und Proudhon kritisierten dies schon zuvor.
Die Situation des Volkes nach dem Zerfall der Sowjetunion ist bekannt. China speist den Kapitalismus der USA. Während dieses Kampfes für Sozialismus und bei all den Revolutionen haben Millionen von Menschen ihr Leben verloren, aber leider wurde die klassische Linke an diesem Punkt besiegt. Dies muss gut analysiert werden. Das sollte so langsam verstanden werden und man sollte sich um das neue Paradigma versammeln. In Südamerika gibt es in diesem Sinne positive Entwicklungen. Auch in der Türkei ist die Lage günstig. Wenn alle linken, demokratischen, sozialistischen, liberalen und sogar demokratischen und auch aufrichtig gläubigen Kreise sich um dieses Paradigma versammeln, können sie Millionen in Bewegung setzen und erfolgreich sein. Die Linksbewegung muss beim Thema Metaphysik auch etwas flexibler sein. In diesem Zusammenhang ist es offensichtlich, wie wichtig die Rolle der Moral im gesellschaftlichen Leben ist. Die Metaphysik darf nicht in den Händen der Nationalisten und Konservativen bleiben. Dazu ist sie zu bedeutend. Die Arbeitslosigkeit ist sehr groß, Hunderttausende, sogar Millionen von Menschen sind arbeitslos. Die Situation der TEKEL-ArbeiterInnen ist ebenfalls bekannt. Sie kämpfen für ihre Rechte.
Ein gemeinsamer Widerstand ist nun unumgänglich und so wichtig wie Wasser und Brot. Ich sage der Linken: Sie müssen nicht in der BDP sein, sie können auch ihre eigene Arbeit fortsetzen, aber es ist wichtig, dass sie in einer Form wie der Dachpartei zusammenkommen. Ich wiederhole, die BDP ist eine Türkei-Partei. Das ist lebenswichtig für die Türkei."

Öcalan sprach das internationale Komplott an. Es begann am 9. Oktober 1998 mit der Ausreise Öcalans aus Syrien und „endete" mit seiner Auslieferung an die Türkei am 15. Februar 1999. Nach Öcalans Aussagen waren an dieser Auslieferung internationale Kräfte wie Amerika, Israel, Russland etc. beteiligt:
„Ich kann Folgendes zum Komplott sagen, dessen zwölfter Jahrestag naht. Genau so, wie die Armenier erst 1915 unterstützt, 1920 aber in Anatolien ganz vernichtet wurden, sollte das gleiche mit den KurdInnen durch das Komplott vom 15. Februar erreicht werden.
Mit den Griechen in Anatolien war ja dasselbe geschehen. Später wurden in der Türkei die KommunistInnen und Oppositionellen vernichtet. Und so hatte die Türkei komplett alle Eigenschaften, die das westliche kapitalistische System wollte. Sie war zu einem Staat geworden, der komplett zu den Zielen des Westens passte. Das ist eine wichtige Feststellung. Die Linksbewegung muss auch endlich zu diesem Ergebnis kommen. Die Vernichtung von Mustafa Suphi und der Schlag, den die linke Bewegung erhalten hat und unter dessen Einfluss sie immer noch steht, ist nicht unabhängig davon zu bewerten. Die wahren Täter hinter dem Mord an Mustafa Suphi sind immer noch nicht aufgeklärt. Die Familien, die ihre Verwandten verloren haben, kamen zusammen. Unter ihnen sind auch Verwandte von Sebahattin Ali .
Sie wollen wissen, wer die wahren Täter sind. Die Morde müssen aufgeklärt werden. Deswegen habe ich die ‚Kommission für Gerechtigkeit und Erforschung der Wahrheit’ empfohlen. Diese Kommission hat einen Haufen Arbeit zu erledigen. Sie sollte auf jeden Fall gegründet werden; das Zusammenkommen der Familien ist ein Anfang. In diesem Sinne können alle Morde ‚unbekannter Täter’ aufgedeckt werden.
Mit dem Komplott wurden drei Ziele verfolgt. Als Gegenleistung für meine Auslieferung bzw. die Vernichtung der PKK war ein kleiner kurdischer Staat wie im Süden, der komplett an sie gebunden ist und unter ihrer Kontrolle steht, vorgesehen. Genauso, wie die Türkei seit den 1920ern unter ihrer Kontrolle steht. Das ist auch im gewissen Sinne realisiert worden. Weiter war Zypern Griechenland versprochen worden; kleine Versprechen wurden auch dem kleinen armenischen Staat gegeben, die der Türkei aufgezwungen werden sollten. Aber nichts davon wurde umgesetzt. Jetzt können wir unserem Volk die gute Nachricht übermitteln: Im zwölften Jahre des Komplotts ist dieser ins Leere gelaufen. Das ist ganz klar. Das ist mit meiner geduldigen Art und dem großen Einsatz der Bevölkerung erreicht worden.
So wie ich mich in den letzten elf Jahren eingesetzt habe, werde ich das auch im zwölften Jahr tun. Trotz des Komplotts und der Vernichtungsversuche sind wir unterm Strich als Volk und Bewegung stärker geworden.“

Öcalan beendete seine Gedanken mit Grüßen an die Bevölkerung:
„Ich grüße das Volk aus Amed, Wan, Êlih, Sêrt, Antalya, Aydin, İzmir, Mersin, das Volk aus dem Mittelmeerraum und aus Mûş. In Mûş/Kop hat unser Volk zwei wertvolle Freunde verloren, Ich gedenke ihrer mit Respekt“.

Quelle: ANF, 12.02.2010, ISKU