Friedliche Lösung der kurdischen Frage stärker ins Zentrum
der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stellen

Antrag

der Abgeordneten Dr. Norman Paech, Monika Knoche, Hüseyin Aydin, Dr. Lothar Bisky, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Lutz Heilmann, Inge Höger, Ulla Jelpke, Michael Leutert, Dr. Gesine Lötzsch, Dorothée Menzner, Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich, Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.

Friedliche Lösung der kurdischen Frage stärker ins Zentrum der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stellen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Türkei ist multiethnisch und multireligiös. Für die kurdische Bevölkerung jedoch werden grundlegende Freiheits- und Gleichheitsrechte nach wie vor nicht gewährt. Seit dem Abkommen von Lausanne 1922/23, in dem die Türkei als Staat der Türken proklamiert wurde, werden die Kurdinnen und Kurden zur Assimilation gezwungen bzw. verfolgt und grundlegende Rechte werden Ihnen vorenthalten.

Die Kurdinnen und Kurden stellen mit ca. 15 Mio. Einwohnerinnen und Einwohnern 20 % der gesamten türkischen Bevölkerung. Es ist die bei weitem größte Gruppe der Minderheiten in der Türkei. Die türkische Regierung hat es bis heute versäumt, der kurdischen Bevölkerung die ihnen zustehenden politischen, kulturellen und sozialen Rechte in vollem Umfang zu gewähren und entsprechend verfassungsrechtlich zu verankern und umzusetzen. Die Türkei verstößt damit nicht nur gegen internationales Recht, sondern auch gegen die von der EU-Kommission formulierten politischen Kopenhagener Kriterien. Schon der Fortschrittsbericht der EU von 2007 hatte gerügt, dass wesentliche Elemente der Kopenhagener Kriterien von der Türkei bisher nicht erfüllt sind.

Das größte Problem im Demokratisierungsprozess der Türkei liegt in der mangelnden Achtung der Menschenrechte sowie dem mangelnden Schutz und der Wahrung der Rechte von Minderheiten. Dies kommt in der Missachtung des Selbstbestimmungsrechts deutlich zum Ausdruck, welches dem kurdischen Volk innerhalb der Grenzen des türkischen Staates zusteht. Das Versäumnis der EU, der Kurdenfrage ausreichende Beachtung zu schenken, gilt es in den weiteren Verhandlungen zu korrigieren.

Auch der auf den EU-Beitritt ausgerichtete Reformkurs der Regierungspartei Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) vor Beginn der Beitrittsverhandlungen hat nichts Entscheidendes an der Situation der kurdischen Bevölkerung geändert. Er hat sich nur unzureichend an der Notwendigkeit gesellschaftlicher Entwicklung unter Beteiligung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen orientiert. Eine genaue Prüfung der Konsistenz und Umsetzung jener Reformen ist bisher nicht in angemessenem Umfang vorgenommen worden.

Die wirtschaftliche Situation in den überwiegend von Kurdinnen und Kurden bewohnten Regionen der Türkei ist unverändert schlecht, es mangelt an Investitionen und Infrastruktur. Neben der schlechten ökonomischen Lage verschärfen die Präsenz des Militärs und die ständigen Angriffe auf die kurdische Bevölkerung die Sicherheitslage und hemmen zudem eine wirtschaftliche Entwicklung. Das paramilitärische Dorfschützersystem ist nach wie vor eine Quelle der Angst und Bedrohung. Die zugesagten Programme zur Förderung der Rückkehr der Flüchtlinge in ihre zum großen Teil zerstörten Dörfer und Ortschaften lassen immer noch auf sich warten. Die weibliche Bevölkerung hat unter diesen Zuständen am meisten zu leiden, da für sie der Zugang zu Bildung und Einkommen am stärksten eingeschränkt ist. Trotz mehrfacher Ankündigungen von Ministerpräsident Erdogan, die Region zu fördern, blieben die tatsächlichen Investitionen weit hinter den gemachten Versprechen zurück.

Mit dem Einzug der pro-kurdischen Partei für eine demokratische Gesellschaft (DTP) in das türkische Parlament bei den Parlamentswahlen im Juli 2007 existiert in der Türkei erstmals eine parlamentarische Interessenvertretung, die sich eindeutig für eine gewaltfreie, auf demokratischen Grundprinzipien basierende Lösung der kurdischen Frage in der Türkei ausspricht. Auf der parlamentarischen Ebene findet jedoch von Seiten der türkischen Regierung keine konstruktive Zusammenarbeit mit der DTP statt. Gleichzeitig wird das Ringen um Anerkennung weiterhin von massiven gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) begleitet.

In der jüngsten Eskalation der militärischen Auseinandersetzungen zwischen der PKK und dem türkischen Militär fanden von Dezember 2007 bis Anfang März 2008 anhaltende Luftangriffe des türkischen Militärs auf PKK-Stellungen im Nordirak statt. Auch Bodentruppen waren im Einsatz. Diese Militäroffensive stellte einen schweren Rückfall in dem Bemühen dar, die kurdische Frage gemeinsam mit allen pro-kurdischen Kräften friedlich zu lösen. Zugleich stehen sie in direktem Widerspruch zu den Kopenhagener Kriterien, deren Erfüllung für den Beitritt der Türkei zur EU unabdingbare Voraussetzung ist.

Die Bombardierung des irakischen Grenzgebietes in den Kandilbergen verletzt nicht nur die Souveränität des Nachbarstaates Irak und das Völkerrecht. Sie zeigt auch, dass die türkische Regierung, das Parlament und das Militär sich immer noch nicht von dem untauglichen Versuch getrennt haben, die kurdische Frage als innenpolitisches Problem mit militärischen Mitteln lösen zu wollen. Nach Angaben des Menschenrechtsvereins IHD in Diyarbakir sind im Jahre 2007 393 Menschen bei Gefechten ums Leben gekommen, 343 sind verletzt worden. Mehrere Waffenstillstandsangebote sind vom türkischen Militär zurückgewiesen worden. Die Praxis der gezielten extralegalen Tötungen und Folter ist immer noch nicht aufgegeben worden.

Der EU-Beitrittsprozess bietet für die Türkei die Chance der nachhaltigen Demokratisierung und einer friedlichen Lösung der Kurdenfrage. Mit der Unterstützung und dem Druck der EU-Mitgliedstaaten kann an einen Demokratisierungsprozess angeknüpft werden, der in der Zeit vor Beginn der Beitrittsverhandlungen mit einigen Reformen nur halbherzig begonnen und nach Beginn der Beitrittsverhandlungen weitgehend wieder zurück genommen wurde. In den intensiven bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei und in den EU-Beitrittsverhandlungen thematisiert die deutsche Bundesregierung die kurdische Frage jedoch bis heute nicht angemessen. In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE (Drucksache 16/4732) vom April 2007 beteuert die Bundesregierung, den Reformprozess in der Türkei und insbesondere die Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Türkei mit großer Aufmerksamkeit zu verfolgen und sich bei bilateralen Gesprächen mit der türkischen Regierung sowie im Rahmen der EU für konsequente Verbesserungen einzusetzen. Gleichzeitig negiert sie die Tatsache, dass die türkische Regierung und das türkische Militär direkt und indirekt für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind.

Nach wie vor beliefert die Bundesrepublik Deutschland die türkischen Streitkräfte mit Rüstungsgütern, darunter auch Waffensysteme, die sich für den Einsatz gegen die kurdische Bevölkerung eignen. Darüber hinaus setzt die Bundesregierung die Diskriminierung in Deutschland fort. So wird die kulturelle Identität der in Deutschland lebende Kurdinnen und Kurden bis heute nicht angemessen beachtet, was unter anderem zur Folge hat, dass Kurdisch als Sprache nicht anerkannt ist und dementsprechend bei Behörden und Gerichten nicht generell ÜbersetzerInnen gestellt werden. Hinzu kommt, dass das Betätigungsverbot der PKK und der aus ihr hervorgegangenen Organisationen politisch aktive Kurdinnen und Kurden in Deutschland kriminalisiert. Organisationen, die sich für die Rechte der Kurdinnen und Kurden einsetzen, sind zum Teil massiven Repressionen ausgesetzt. Kurdische Flüchtlinge sind trotz der für sie nach wie vor bedrohlichen Situation in der Türkei von Abschiebung bedroht.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:

1. auf die türkische Regierung einzuwirken, keine Boden- und Luftangriffe auf den Norden des Irak durchzuführen,

2. darauf hinzuwirken, dass die EU-Kommission die kurdische Frage stärker ins Zentrum der EU-Beitrittsverhandlungen stellt und die türkische Regierung in den Verhandlungen dazu auffordert,

a. auf die Anwendung militärischer Gewalt gegen die kurdische Bevölkerung zu verzichten und den faktischen Ausnahmezustand im Südosten des Landes aufzuheben

b. davon abzusehen, die kurdische Frage mit dem Terrorismusproblem zu identifizieren und unter der Voraussetzung eines beiderseitigen Waffenstillstandes Grundlagen für die friedliche Beilegung des Konfliktes zu schaffen

c. diejenigen Strafrechtsparagrafen zu streichen, die die Diskriminierung von Minderheiten, eine Einschränkung der kulturellen Selbstbestimmung, der freien Meinungsäußerung, der Betätigung in politischen Organisationen, der uneingeschränkten Ausübung der Religionsfreiheit zum Inhalt haben

d. die aufgrund dieser Strafrechtsparagrafen Inhaftierten freizulassen und anhängige Verfahren einzustellen

e. das Dorfschützersystem abzuschaffen und die Reintegration der Dorfschützer-Milizen sowie die Rückgabe des von dieser Gruppe angeeigneten Besitzes an die Eigentümer zu gewährleisten

f. ein umfassendes Programm für die Rückkehr der kurdischen Flüchtlinge in ihre Dörfer und Städte zu entwickeln und umzusetzen sowie materielle Entschädigungen, effektive Wiederaufbauhilfe und Beseitigung der Kriegsschäden an die Flüchtlinge zu leisten

g. eine Änderung des Wahlrechts vorzunehmen, in der die 10% Hürde auf höchstens 5% abgesenkt wird und Parteigründungen unbehindert ermöglicht werden

h. die aktuelle Verfassungsänderungsdebatte für die Erstellung einer neuen, demokratischen Verfassung zu nutzen, die frei ist von ethnischen Abgrenzungen und zugleich den gemeinsamen Willen für das gleichberechtigte Zusammenleben aller Bevölkerungsteile zum Ausdruck bringt

3. Abschiebungen von Kurdinnen und Kurden in die Türkei umgehend einzustellen und den Betroffenen stattdessen dauerhafte Aufenthaltstitel zu gewähren

4. die kurdische Sprache und Kultur mit allen notwendigen Folgen für eine gezielte Integrationspolitik gegenüber der kurdischen Bevölkerungsgruppe, insbesondere im Bereich der bilingualen Erziehung, anzuerkennen

5. die Lieferung von Waffen und Rüstungsgütern an die Türkei ebenso wie Lizenzen und Exportbürgschaften solange einzustellen, bis die Gleichstellung aller Minderheiten in der Türkei umgesetzt ist

6. Initiativen zur friedlichen und demokratischen Lösung der kurdischen Frage unter Einbeziehung aller relevanten Akteure zu entwickeln. Neben der Einbeziehung von Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft und Parteien, insbesondere der Partei für eine demokratische Gesellschaft (DTP), muss mit einem breit angelegten Programm zur demokratischen Partizipation, welches auch eine politische Amnestie beinhalten sollte, die Grundlage für die Beendigung des bewaffneten Widerstandes geschaffen werden. Die Aufhebung der Einstufung von kurdischen Organisationen als kriminelle Vereinigung, insbesondere der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, wäre ein weiterer Beitrag der Bundesregierung für den Frieden in der Region

Berlin, den 25. Juni 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Deutscher Bundestag
16. Wahlperiode
Drucksache 16/