Die Serhildans in Nordkurdistan

Kommentar

Reimar Heider

Seit Tagen wird Nordkurdistan von schweren Aufständen erschüttert. 12 Menschen wurden bei Demonstrationen erschossen, darunter ein sechsjähriges Kind und ein 78-jähriger Greis.

Die Presse spricht von einer „kurdischen Intifada“, die Kurden selbst nennen es „Serhildan“. Serhildan bedeutet „den Kopf heben, nicht mehr buckeln". Es kann nicht schaden, sich die Geschichte der Serhildans zu vergegenwärtigen.

Die erste Welle der Serhildans fand Anfang der 90 in Orten wie Nusaybin, Silopi und Cizre statt. Damals starben mehr als 100 Menschen durch Kugeln der Sicherheitskräfte. Diese Aufstände waren der Wendepunkt, an dem aus der kleinen Kaderpartei PKK eine große Volksbewegung wurde. Damals schlossen sich tausende Jugendliche der Guerilla ARGK an, die vorher aus einigen hundert, vorwiegend männlichen Kämpfern bestanden hatte. In der Folge entstanden auch erstmals legale Parteien wie DEP und später HADEP, die kurdische Anliegen offensiv vertraten. Die Antwort des Staates in den Städten waren die „Morde unbekannter Täter“, auf dem Land dagegen Cillers „totaler Krieg“. 40.000 Tote, viele tausend niedergebrannte Dörfer und die vielen Millionen Vertriebenen, die sich Anfang und Mitte der 90er Jahre in den Westen der Türkei und nach Europa flüchteten, bilden die Bilanz dieser Zeit.

Damals wurde von kurdischer Seite die staatliche Unabhängigkeit propagiert, allerdings immer mit der Betonung, dass dies nicht die einzige Option sei. Heute dagegen hat die kurdische Bewegung ihre Ziele genauso geändert wie ihre Strategie. Nicht mehr die Guerilla steht im Vordergrund, sondern der Widerstand der Zivilbevölkerung. Nicht mehr Unabhängigkeit ist das Ziel, sondern demokratische und kulturelle Rechte innerhalb der vorhandenen politischen Grenzen. Auffällig ist, dass sowohl an Newroz als auch jetzt bei den Serhildans keine Forderungen nach Unabhängigkeit laut wurden. Es wurden keine Fahnen des Bundesstaates Kurdistan geschwenkt, der sich gerade im Irak konsolidiert und dabei ist, eine de-facto-Unabhängigkeit zu etablieren. Statt dessen sieht man Öcalan-Portraits und die von ihm vorgeschlagene grüne Fahne mit Sonne und Stern, die sein Konzept des „demokratischen Konföderalismus“ symbolisiert. In Diyarbakir war ein großes Transparent zu sehen, das nebeneinander die EU-Fahne, die Flagge der Türkei und die Konföderalismus-Fahne zeigte. Öcalan, den viele immer noch fälschlicherweise für einen Separatisten halten, hatte genau dieses Nebeneinander vorgeschlagen.

Die Serhildans können viele Jahre anhalten, ebenso wie die Intifada. Doch dieser Konflikt ist nicht völlig verfahren, es gibt eine Reihe von Lösungsansätzen. Öcalan hat realistische Vorschläge unterbreitet, ebenso die PKK und die DTP. Erdogans Rede in Diyarbakir hatte in die richtige Richtung gewiesen, doch das Militär ließ weitere Schritte nicht zu. Mittlerweile hat auch Erdogan die Tonart gewechselt und stellte den Staatskräften einen Freibrief für das Erschießen von Frauen und Kindern aus. Im Moment haben in der Türkei also die nationalistischen Falken das Heft in der Hand. Solange die Militärs und insbesondere Militärs wie Yasar Büyükanit den Ton angeben, die Bombenanschläge gegen Zivilisten organisieren, wird es keinen Fortschritt geben. Auf kurdischer Seite sind terroristische Gewaltexzesse gegen Zivilisten, wie sie die „Freiheitsfalken Kurdistans“ verüben, zum Glück noch die Ausnahme, von der sich auch die kurdische Guerilla HPG distanziert hat.

Wer kann zu einer Lösung beitragen? Leyla Zana, nach der die taz ruft, oder Osman Baydemir, nach dem der Großteil der türkischen Presse verlangt? Abgesehen davon, dass jetzt erst einmal der Staat gefordert ist, die Gewalt einzustellen, dürfte Avni Özgürel, Kolumnist der liberalen „Radikal“ der Wahrheit am nächsten kommen. Er schlägt vor, die DTP einfach zu ignorieren und mit den Anwälten Öcalans zu sprechen: „So erreicht das Gesagte den Ansprechpartner unverfälschter, weil die Zahl der Zwischenstationen geringer ist.“

5. April 2006