1000 Menschen und eine Insel

Kommentar

Reimar Heider

In der Vorwoche hatte ich Gelegenheit, mit Abgeordneten der parlamentarischen Versammlung des Europarates über die jüngsten Entwicklungen der Türkei, die erneute Verschärfung der Haftbedingungen Abdullah Öcalans, die Rückschritte in der kurdischen Frage und die Konsequenzen für die Demokratisierung der Türkei zu sprechen. Schließlich ist es der Europarat, der gehalten ist, die Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bezüglich der Wiederaufnahme des Öcalanverfahrens zu überwachen. Die Tatsache, dass der prominenteste politische Gefangene Europas von rund 1000 Soldaten bewacht wird, es aber nicht möglich sein soll, eine Handvoll Anwältinnen und Anwälte regelmäßig mit einem Boot auf die Insel Imrali zu bringen, rief wieder einmal Erstaunen und Ärger hervor.

Der Europarat ist ein wuchtiges, klobiges Gebäude das mit seinem quadratischen Grundriss eher an einen Bunker des kalten Krieges erinnert, als dass es Assoziationen an Offenheit und europäische Einigung hervorruft. Und trotzdem sind dies seine hehren Ziele. In den Sitzungsperioden sind 315 Abgeordnete sowie 315 Stellvertreter anwesend. Dazu kommen noch Angestellte, Büroleiterinnen, Küchenpersonal etc. Also vielleicht ebenfalls etwa 1000 Personen aus über 40 Ländern, die dort an der europäischen Einigung arbeiten. Die Verkehrsanbindung ist gut, es gibt eine Reihe von Buslinien, die unmittelbar vor dem Gebäude halten. Das Europäische Parlament ist gleich um die Ecke. Selbstverständlich ist der Europarat mit modernster Kommunikationstechnologie ausgestattet. Sogar auf dem Gang zwischen Sitzungssaal und Cafeteria befindet sich eine Reihe von Linux-Internetterminals, die Zugriff auf das gesamte World Wide Web ermöglichen.

Wie anders die Bedingungen für den Mann, dessen „Ja“ zur EU-Annäherung die Beitrittsverhandlungen der Türkei wohl erst möglich gemacht hat. Auch „für“ ihn arbeiten 1000 Menschen, Soldaten, die ihn bewachen, überwachen, kontrollieren, von der Außenwelt abschirmen. Telefon hat er keines, einen Computer oder Internet erst recht nicht. Seine Bücher, Bestseller in der Türkei und neuerdings auch im Irak, schreibt er mit der Hand. Einen Monat lang saß er kürzlich in Bunkerhaft, ohne Bücher, ohne Radio, ohne Stift und Papier. Bunkerhaft, weil er für Schulbildung für kurdische Kinder in Türkisch und Kurdisch plädiert hatte. Das war genug, um seine Isolation von Familie und illegaler Weise auch von seinen Anwälten total zu machen.

Europa spricht mehr als ein Dutzend Sprachen. Die europäischen „Hauptstädte“ Straßburg und Brüssel sind effektiv vielsprachig. Eine Konferenz über die kulturelle Situation der Kurden jedoch führte kürzlich zum Eklat mit der türkischen Delegation im Europarat. Über kulturelle Rechte der Kurden auch nur zu diskutieren, war bereits zu viel für die Türken, insbesondere auch die angeblichen Sozialdemokraten der CHP. Die widersprüchliche Situation, dass die Türkei Teil dieses Europas werden will, ohne seine essentiellen Werte zu übernehmen, hält an. Das eindrücklichste Symbol für diese schizophrene Situation ist der Gefangene auf Imrali, bewacht von 1000 Menschen und isoliert von der Welt.

Von Reimar Heider, 1.02.2006