Interview mit Mizgin Sen. Sie ist Mitglied im neu gegründeten kurdischen Volkskongress, Kongra-Gel. Mit dem Interview aus Asiti, Baris, Frieden dem Bulletin der Internationalen Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan“ können Sie sich über unsere aktuelle Situation informieren.

Die Basis einbinden, die Plattform verbreitern

Vor kurzem hat sich der KADEK selbst aufgelöst. Eine neue Organisation in anderer Zusammensetzung wurde gebildet und eine neue Führung gewählt. Was bedeutet das für Ihre Arbeit in Europa?
Die Auflösung des KADEK, dem Kongress für Frieden und Demokratie Kurdistans, und die Gründung einer neuen Organisation hat eine breite Wirkung für den kurdischen Kampf um Freiheit und demokratische Rechte. Dies wird natürlich alle wichtigen Bereiche und Forderungen der Kurden berühren. Die neue Organisation Kongra-Gel (Kurdistan Volkskongress) wird eine neue Erfahrung für die Kurden insgesamt sein, es handelt sich um eine vollständig neue Struktur und Organisation in ihren Zielen und ihrer Arbeitsweise, auch in der Weise, wie sie wahrgenommen wird. Die Suche nach einer Lösung der kurdischen Frage wird auf eine viel breitere Grundlage gestellt, das Ganze wird viel facettenreicher sein und natürlich werden sich die Methoden und Wege, mit denen der Kampf, die Kampagnen für die Rechte der Kurden geführt werden, weiterentwickeln und sich sehr von dem unterscheiden, was wir bisher gewohnt waren. Konkret: Unsere Bewegung trug sehr lange Merkmale einer Organisation aus den siebziger Jahren, wir waren ganz offenkundig beeinflusst durch die nationalen Freiheitskämpfe dieser Zeit. Wir hatten darüber hinaus auch Merkmale die aus dem Kalten Krieg stammten, aus der Spannung zwischen dem Sozialismus sowjetischer Prägung und dem Kapitalismus des Westens mit den USA an der Spitze.
Jetzt aber verändert sich die Welt, die Menschen finden andere Wege ihre Bedürfnisse und Forderungen auszudrücken. Auch der Kontext von Freiheit und Demokratie verbreitert sich, ist nicht länger auf Klassenkampf als solchem gegründet. Vielmehr gehen die Vorstellungen von Freiheit und Demokratie weit über das hinaus, was wir Klassenkampf nennen. Wir als Kongra-Gel sind der Meinung, dass wir die soziale Teilung der Gesellschaft überwinden müssen und wir betrachten Kapitalismus und Imperialismus als höchste Ebene klassenbasierter Gesellschaften. Dies ist natürlich ein Problem, das allerdings nicht länger mit den Instrumenten der sechziger oder siebziger Jahre (oder gar des 19. Jahrhunderts) verstanden und beschrieben wird. Die Veränderungen und Entwicklungen im Mittleren Osten haben natürlich einen großen Einfluss auf unsere neue Organisation. Derzeit ist unser Ziel eine größere Legalität und Legitimität. Die kurdische Bewegung, besonders im Norden, trug seit den Zeiten der PKK das Etikett des Terrorismus und wurde weithin kriminalisiert, vor allem auch in Europa. Das war natürlich für den türkischen Krieg gegen die Kurden über viele Jahre eine große Hilfe.
Jetzt wollen wir jedoch in einer starken Organisationsform einen politischen Kampf führen und dabei ist Europa eine wichtige Plattform. Eine viel größere Bandbreite von Menschen beteiligt sich daran, von Intellektuellen und Schriftstellern bis hin zu Menschen, die in der Vergangenheit wirklich am kurdischen Kampf teilgenommen haben. Kongra-Gel bringt all diese Menschen zusammen und wird auch bessere Möglichkeiten haben, die kurdische Frage in der heutigen Welt zu thematisieren. Seit dem 11. September ist es außerordentlich schwierig, einen bewaffneten Kampf zu führen, Gewalt für politische Ziele einzusetzen. Es gilt nun, sich nach anderen Wegen umzuschauen, mit denen man Fragen im Zusammenhang von Freiheit und Demokratie aufwerfen und sich dafür einsetzen kann. In diesem Sinne ist der politische Kampf, auch auf der Ebene der Zivilgesellschaft wichtig, ist es wichtig, sich dort zu organisieren. Dies ist eines der wichtigsten Ziele von Kongra-Gel, nicht nur als eine reine politische Partei basierend auf ihren Kadern - so wie es bisher war - sondern ein breiteres Spektrum von Elementen aufzubauen, die aktiv an allen Fronten der Bewegung teilnehmen. Das bedeutet auch, einfache Leute, die Basis, in die Organisation zu bringen, während man natürlich gleichzeitig auch die notwendigen Fertigkeiten und Fähigkeiten einbringen muss. Es bedeutet, die Zivilgesellschaft in die Bewegung und den Kampf einzubringen. Hierfür wird Europa eine der wichtigen Plattformen sein, wo sich dieses Vorhaben an der Praxis messen muss. Damit ist verbunden der Aufbau von Organisationen und Einrichtungen für politische Aktivitäten, Kontakten usw. Europa ist eine wichtige politische Kraft in der Welt und deshalb ist es auch für Kongra-Gel wichtig, hier organisiert präsent zu sein.
Ein ernsthaftes Problem, dem wir bei all dem gegenüberstehen, ist die Frage, wie diese vollständig neue Organisation die Gewohnheiten und Arbeitsweisen der Vergangenheit erfolgreich überwinden kann. Dies wird sicher seine Zeit brauchen und erfordert die richtige Mentalität und die richtigen Personen, damit dieser Job vernünftig gemacht wird.
Mit anderen Worten, wir haben auch einen Kampf in der Organisation vor uns. Ich glaube aber, dass die Kurden nur auf diese Weise erfolgreich sein können und vielleicht ein Beispiel geben können für die Menschen im Mittleren Osten, die generell dort wenig Erfahrung damit haben, wie man sich organisieren kann. Sie werden von Diktaturen regiert, die eine lange Zeit von den Großmächten unterstützt wurden. Jetzt ist es sehr schwierig, all diese verschiedenen Menschen dazu zu bringen sich zu organisieren. Vielleicht könnten die Kurden hier ein positives Beispiel sein. Insoweit ist Kongra-Gel für den Mittleren Osten als Ganzes von Bedeutung.

Die Frage legaler Arbeit in Europa ist eng verknüpft mit der Frage der Transparenz sowohl innerhalb der Organisation als auch gegenüber der Öffentlichkeit. Was wollen Sie tun, um deutlich zu machen, dass es Veränderungen der Strukturen gibt in Richtung auf demokratische Standards?
Wir haben während der vergangenen vier Jahre politische, organisatorische und soziale Reformen diskutiert. Dies bedeutet, dass auch unsere leninistische Parteistruktur zur Diskussion gestellt wurde. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt unseres Umbaus. Lassen Sie mich allerdings betonen, dass wir immer noch den Sozialismus anstreben, dass wir eine Gesellschaft ohne soziale Widersprüche wollen. Es geht uns aber auch um Fragen der Umwelt, um Frauenfragen, Menschenrechte, alle Fragen auf allen Ebenen, die mit Freiheit und Demokratie verknüpft sind.
Während unser Kampf früher in der Hauptsache ein bewaffneter Kampf war, brauchten wir strenge Regeln und konnten den Einzelnen keine große aktive Beteiligung an der Bewegung erlauben. Das wollen wir jetzt alles ändern.
Ein wichtiges Indiz dafür, dass die Bewegung transparenter wird, ist die sich verändernde Zusammensetzung der Menschen, die sich engagieren. Es gibt nun ein breites Spektrum unterschiedlichster Persönlichkeiten und Auffassungen aus allen Teilen der Gesellschaft. Unsere Aktivitäten öffnen sich, wie wir uns der Diskussion öffnen und der Zusammenarbeit. Man kann nicht nur einfach Versprechen abgeben, wir müssen sehen, wie sich dies alles in der Organisation verwirklicht, wie diese Veränderungen und Transformationen sichtbar werden, denen wir uns nun unterziehen.
Wirklich wichtig aber ist die Art und Weise, wie die Organisation funktioniert, welche Entscheidungsfindungsmechanismen und Gremien es gibt, wie sie für die Basis zugänglich sind, ihr erlauben aktiv an all diesen Prozessen teilzunehmen.
In der Vergangenheit wurden unsere Leute für bestimmte Tätigkeiten ernannt. Es gab straffe Regeln, die nicht viel Partizipation erlaubten. Kongra-Gel will eine demokratische Partizipation aller Schichten der Gesellschaft, die es ihnen erlaubt, ihre Ziele selbst zu definieren und zu managen, sagen wir, auf der Ebene von Gemeinschaftszentren bis hin zu einfachen Organisationen usw. Wir werden über kulturelle Aspekte reden müssen, über Publikationen und Presse, Diplomatie; es gibt so viele verschiedene Gebiete, auf denen wir arbeiten müssen. Und es wird natürlich weniger Zentralisierung geben, die zentralen Einrichtungen müssen Macht abgeben, das muss alles besser ausbalanciert werden, nicht nur innerhalb der Bewegung sondern auch dahingehend, dass Reaktionen von außen zurückwirken können in die Bewegung. Dadurch werden sich unsere Entscheidungsmechanismen verändern. In diesem Sinne wollen wir die leninistischen Parteistrukturen überwinden. Wir wollen, dass jeder an unserer Bewegung und unserer aktuellen praktischen Arbeit teilnehmen kann.
Natürlich spielt auch die Art unserer Argumente unsere Sprache, die Worte, die wir verwenden eine wichtige Rolle. Jede Ideologie hat ihre eigene Sprache, ihre eigene Art und Weise sich auszudrücken

Es gibt einen weiteren Aspekt der Transformation vom bewaffneten zum politischen Kampf, die bewaffneten Kräfte selbst. Wir wissen aus Nordirland und anderen Konflikten, dass es zu einer erfolgreichen Trennung der beiden Arme kommen und auf diese Weise ein politischer Prozess initiiert werden kann.
Die Satzung von Kongra-Gel enthält allerdings immer noch ein Komitee, das für bewaffnete Verteidigungskräfte verantwortlich ist. Wirklicher politischer Kampf in der legalen politischen Arena ist allerdings nur möglich, wenn deutlich wird, dass die politische Organisation auf keine Weise in bewaffneten Kampf verwickelt ist. Wie wollen Sie das sicherstellen?
Wir würden die Waffen gerne vollständig niederlegen und unseren Kampf mit legitimen politischen Mitteln führen. Man muss sich allerdings einmal die Situation der Kurden anschauen. Dabei sollte man sein Augenmerk nicht nur auf den Irak richten. Es gibt etwa vierzig Millionen Kurden, sieben Millionen davon im Irak. Die Türkei, Iran und Syrien, jeweils auf ihre eigene Weise, bilden immer eine große Bedrohung für die Kurden. Die Verleugnungspolitik ist noch immer eine dominierende Realität in der Türkei. Die Rechte der Kurden werden nicht anerkannt, und auch die Zukunft des Irak ist noch nicht wirklich klar, welches politische System es dort geben wird. Deswegen glauben die Kurden insgesamt, dass sie noch bewaffnete Kräfte brauchen, was in unserem Zusammenhang Guerillakräfte bedeutet. Deswegen haben alle kurdischen Organisationen, also auch die kurdischen Parteien im Irak, KDP und PUK, betont, dass es eine Lösung für die kurdische Frage in der Türkei geben müsse, wozu als wichtiger Punkt eine echte Generalamnestie gehöre.
In gewisser Hinsicht gibt es einen Konsens unter den Kurden, was die Bedrohung des kurdischen Volkes als Ganzes angeht, und es gibt das starke Gefühl, dass man die bewaffneten Kräfte noch behalten muss. Damit wird es für jede kurdische Organisation unvermeidlich, bewaffnete Kräfte zu unterhalten. So haben z.B. auch die KDP und PUK weiterhin ihre bewaffneten Kräfte. Es gibt allerdings Gespräche zur Lösung dieses Problems.
Auf Seiten der kurdischen Kräfte gibt es keine militärischen Aktivitäten. Wir haben im Irak die Amerikaner nicht bekämpft, wir haben auch seit vier oder fünf Jahren nicht mehr gegen die Türkei gekämpft; wenn man uns allerdings angreift, werden wir antworten und zurückschlagen.
Dies ist schon geraume Zeit unsere Position. KADEK hat sogar vor einer Weile eine Roadmap veröffentlicht, in der die notwendigen Schritte skizziert waren, die aus unserer Sicht notwendig sind, um eine Lösung der kurdischen Frage zu finden, die die Frage der Waffen einschließt. Wir glauben immer noch, dass ein solcher Prozess, eine Art von Friedensprozess, Schritt für Schritt eine Lösung erreichen könnte. Dann ließe sich auch als Teil eines solchen Prozesses über die Auflösung des bewaffneten Arms der kurdischen Bewegung diskutieren.
All das hat natürlich auch unmittelbar zu tun mit der Politik der regionalen Regierungen in Bezug auf die kurdische Frage. Ein rein politische Plattform ist keine hinreichende Sicherheitsgarantie.

Was die Situation im Irak angeht, so gibt es eine Reihe von Kommentatoren, die der Meinung sind, es mache keinen Sinn, an einem vereinigten Irak festzuhalten . Es gebe dort im Grunde drei völlig verschiedene Gemeinschaften, also solle man sich einer Trennung auch nicht widersetzen.
Wir wären gegen eine solche Entwicklung. Aus unserer Perspektive hat das Konzept des Nationalstaates hier keine große Bedeutung mehr. Wir brauchen vielmehr eine Lösung, die es allen Menschen im Mittleren Osten erlaubt zusammenzuleben. Die Bildung neuer Staaten würde nur neue Probleme verursachen. Stellen Sie sich vor, derzeit würde sich dort ein kurdischer Staat bilden. Sie können doch nicht auf ewig unter dem Schutz der US-Streitkräfte leben, Sie können doch nicht permanent mehrere hunderttausend Truppen in der Region haben, das würde sicher nicht in eine friedliche Zukunft führen. Unserer Ansicht nach ist eine föderative Lösung der besserer Weg und entspricht viel eher den Interessen der Menschen in der Region. Das ist die Lösung, die wir wollen und derzeit auch alle anderen Kurden einschließlich des Irak.

Es gibt immer noch sehr viel Gewalt im Irak. Diese geht nicht nur vom alten abgelösten Regime aus, sondern offensichtlich auch von islamistischen Kräften, die sich dort sammeln und die dort eine Art generellen Widerstand gegen den Westen aufbauen, wie manche meinen. Das könnte auch bedeuten, dass die Türkei in diese Auseinandersetzungen mit hineingezogen und der gesamte Mittlere Osten destabilisiert wird. Die Bombenattentate von Istanbul scheinen auch in diese Richtung zu weisen.
Wir sollten in dieser Hinsicht sehr vorsichtig sein und deutlich machen, dass ein solcher Kampf kein Konflikt zwischen den Kulturen ist. Nach den jüngsten Bombenattentaten in Istanbul haben sich einige Politiker von Straw über Blair bis Bush in der Richtung geäußert, dass es sich hier um einen Angriff auf die zivilisierte Welt handele. Das könnte unterstellen, dass es einige gibt, die zivilisiert sind und andere, die es nicht sind.
Natürlich stehen wir dem islamischen Fundamentalismus kritisch gegenüber. Wenn man aber erst einmal ethnische oder religiöse Gruppen mit Terrorismus identifiziert, dann kommt man zu einer sehr gefährlichen Politik.
Das muss ernsthaft überwunden werden. Deshalb ist es wichtig, was für eine Art von Lösung wir im Mittleren Osten erreichen können.
Wenn es uns gelingt, die Menschen davon zu überzeugen in einer freien Einheit der Region zusammenzuleben, die nicht auf Grenzen aufbaut, dann lässt sich Freiheit und Demokratie für alle ethnischen Gruppen erreichen. Natürlich muss sich auch der Islam demokratisieren. Es gibt so viel religiösen Dogmatismus im Mittleren Osten, im Islam insgesamt, dass daraus wirklich ein Problem für die Demokratisierung in der Region entsteht. Die Reform des Islam braucht allerdings auch eine Demokratisierung und Reformen der mittelöstlichen Gesellschaften. Man kann die Demokratie nicht einfach von irgendwo her importieren.
Der Mittlere Osten steht vor vielen Herausforderungen politischer, sozialer und religiöser Natur. Er ist schließlich seit mehreren hundert Jahren von religiösem Dogmatismus beherrscht. Viele Erfahrungen, die der Westen gemacht hat, die Renaissance, Säkularisierung, Aufklärung konnten dort niemals Fuß fassen.

Das ist natürlich auch ein wichtiger Aspekt was die Identität der Menschen angeht.
Natürlich. Der Islam ist ein Teil der mittelöstlichen Identität, die wir nicht einfach abwerfen können. Die Religion spielt eine wichtige Rolle im Leben vieler Menschen. Wenn man diese Fragen nicht anspricht, kann man auch nicht erfolgreich für Freiheit und Demokratie kämpfen.

Wie würden Sie die Bombenattentate in Istanbul einordnen? Ist es nicht so, dass damit der Terror dahin zurückgekehrt ist, von wo er einst ausging?
Ich denke, was in der Türkei geschehen ist, bedarf einer sehr ernsthaften Analyse und Bewertung. Wir alle haben diese Attentate verurteilt. Auch hier haben die türkischen Behörden wieder versucht einen Zusammenhang zu konstruieren zwischen diesen Attentaten und der kurdischen Bewegung, mit der Behauptung an die Adresse der Europäer, seht ihr, wir haben euch doch immer gesagt, ihr helft uns nicht wirklich gegen den Terrorismus.
Tatsache ist jedoch, dass die Türkei diese Islamisten seit den achtziger Jahren als Waffe gegen die Kurden aufgebaut, finanziert und bewaffnet hat. Das sagen nicht nur wir. Das Ergebnis der Untersuchungen zum Susurluk-Zwischenfall hat Dokumente ans Licht gebracht, die zeigen, dass die Regierung die Hizbullah im Kampf gegen die kurdische Bewegung eingesetzt hat.
Diese Schöpfung des Staates hat sich nun selbstständig gemacht und wendet sich gegen ihre einstigen Herren.
Einen Ausweg aus all diesen Problemen kann die Türkei nur auf dem Wege der Demokratisierung finden.