Reisebericht einer Teilnehmerin der Münchner Wahlbeobachtungsdelegation in die Türkei

This is what democracy looks like
zur Wahlbeobachtung in den kurdischen Gebieten

Das erste, was wir im Landeanflug von Diyarbakir sehen, ist der militärische Teil des Flughafens, wo die Apache-Hubschrauber und F 16-Kampfflugzeuge stehen, die werktags im Tiefflug über der Stadt kreisen, um an die eigentliche Macht im Lande zu erinnern.
Die heimliche Hauptstadt Kurdistans wird von der mit Repressalien überzogenen HADEP (Demokratiepartei des Volkes), der auch die inhaftierte kurdische Politikerin Leyla Zana angehört. Ihre Verhaftung erfolgte im türkischen Parlament, wo sie als gewählte Vertreterin der kurdischen Bevölkerung deren Selbstbestimmungsrecht eingefordert hatte - ihr Todesurteil wegen Hochverrats wurde Mitte der Neunziger Jahre nach internationalen Protesten zu einer fünfzehnjährigen Gefängnisstrafe umgewandelt. In Europa ist die aus kleinen Verhältnissen stammende Leyla Zana, die bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr Analphabetin war, heute wohl die bekannteste Vertreterin des neuen kurdischen Frauentyps, den der Befreiungskampf unwiderruflich hervorgebracht hat. Wir sind also in einem Land, wo es möglich ist, dass Politiker notfalls mit dem Leben für ihre Wahlversprechen einstehen - doch das gilt natürlich nicht für alle. Nicht nur wegen der allgemeinen Wirtschaftskrise werden nach dem morgigen Wahlsonntag alle Regierungsparteien das Parlament räumen müssen - und das wird keine Überraschung sein. Die allgegenwärtige Korruption in der Türkei und die maßgeschneiderten Gesetzesänderungen zur persönlichen Machtsicherung erinnern an das Italien von Silvio Berlusconi. Um die DEHAP, einen Wahlblock aus drei fortschrittlichen, prokurdischen Linksparteien, dem auch die HADEP angehört, vom Parlament fernzuhalten, wurde eigens eine Zehn-Prozent-Hürde aufgestellt - welche die Drahtzieher nun selbst nicht erreichen werden. Als wir nach einer Übernachtung in Ankara zum Flughafen fuhren, sahen wir auffallend viele Minarette, die offenbar in Rekordzeit aus Beton-Fertigteilen zusammengebaut wurden. Angeblich wird in der Türkei jede Woche eine Moschee und ein Gefängnisneubau fertiggestellt; einige türkische Linke befinden sich immer noch im Hungerstreik gegen die F-Typ-Zellen (Isolationshaft nach deutschem Muster), der schon über 100 Todesopfer gekostet hat. Die Schließung der F-Typ-Zellen und eine Generalamnestie für politische Gefangene sind auch Teil des Minimalprogramms der DEHAP. Ein weiterer wichtiger Grund - auch für fortschrittliche Menschen in der West-Türkei - sie zu wählen, ist ihre entschiedene Ablehnung des Irak-Krieges. Doch das Ost-West-Gefälle der DEHAP ist noch ausgeprägter als das der PDS in Deutschland, ohne die Parteien selbst miteinander vergleichen zu wollen.

Wir sprechen nur flüsternd über regionale Politik, während wir am Flughafen von Diyarbakir auf unsere DEHAP-Kontaktleute warten und nehmen an, dass sie hier inkognito erscheinen werden - obwohl ihre Partei die Stadt mit absoluter Mehrheit regiert. Im letzten Jahr musste hier jedenfalls noch mit Verhaftung rechnen, wer mit einer Fahne der Partei erwischt wurde, die den Bürgermeister stellt. Davon haben mehrere Delegationen berichtet. Zu unserer Überraschung holt uns eine auffällige kleine Kolonne von drei PKWs ab, alle mit DEHAP-Fahnen geschmückt, und fährt uns zu einem Hotel in der Innenstadt, wo - ganz unkonspirativ - der überwiegende Teil der ausländischen Wahlbeobachter einquartiert wurde. Wir können also vorerst ganz entspannt sein. Wenn überhaupt kann es für uns erst nach der Wahl gefährlich werden: wenn die Ergebnisse der DEHAP sehr, sehr gut - oder sehr, sehr schlecht sind. Letzteres halte ich bald für ausgeschlossen. Auf dem Weg zum Hotel Demir winken und hupen uns immer wieder Menschen jeden Alters zustimmend an, sitzen lachend zu zweit oder zu dritt auf Motorrädern, stehen am Straßenrand und formen die Finger beider Hände zum Victory-Zeichen und sind allgemein „gut drauf“. Die DEHAP verdient also den Namen einer Volkspartei. Dass wir nicht verhaftet werden und die Menschen ihre Zustimmung unter den Augen der Militärs offen zeigen, ist Ausdruck eines gewissen Durchbruchs, der wohl im letzten Jahr mit dem kurdischen Neujahrsfest Newroz am 21. März begonnen hat, das in Diyarbakir von 600.000 Menschen öffentlich gefeiert wurde. Freundinnen und Freunde, die wir in den nächsten Tagen besuchen werden, erzählen uns, dass die Verhältnisse in dieser Stadt seit dem von 1999 von kurdischen Bewegung einseitig begonnenen Friedensprozess langsam, aber sicher besser werden. Die kurdische Identität ist in dieser Stadt durchgesetzt, und die zivile Macht in den Händen einer kurdischen Partei. Im Umland sieht es allerdings anders aus - davon werden wir uns bald überzeugen können.
Schon im Vorfeld der Wahl wurde ein Teil der Bevölkerung in den kurdischen Gebieten durch Nichtversenden der Wahlunterlagen ausgegrenzt; allein in Diyarbakir sind es 30.000 bekanntgewordene Fälle mit ergebnislos verlaufenen Beschwerden. Weitere Betroffene sind Flüchtlinge aus den im Bürgerkrieg verbrannten Dörfern - ihre Wahlunterlagen wurden einfach an die zuständigen Polizeistationen geschickt.

Am Wahlsonntag sind wir mit Heiko Kösel, einem Mitglied des sächsichen Landtages, sowie der Münchner PDS-Stadträtin Brigitte Wolf in Cinar, einem an Diyarbakir grenzenden Landkreis von 96 kleinen Dörfern mit insgesamt etwa 100.000 Einwohnern unterwegs. Unser Dolmetscher, ein junger Anglistikstudent aus Van, stellt uns als Mitglieder des Europa-Parlaments vor, wenn wir die allesamt mit deutschen G3-Gewehren von Heckler & Koch bewaffneten Militärposten vor den Wahllokalen passieren wollen. Es ist uns nicht ganz klar, ob er uns zu diesem Zweck bewusst „befördert“ hat, oder ob hier der Wunsch der Vater des Gedanken ist. Wir haben während dieser Reise oft den Eindruck, dass die Menschen in diesem Land uns aus Wunschdenken für wichtiger halten, als wir in Wirklichkeit sind. Nicht, dass sie uns weniger achten, wenn wir ihnen unsere tatsächlichen Verhältnisse erklären - sie wollen einfach nicht wahrhaben, dass die wirklich wichtigen Leute in unserem Lande die sind, die den Panzerlieferungen in die Türkei zustimmen. Wir einigen uns jedenfalls auf „Parlamentarier aus Europa“ - was für zwei von uns nicht direkt gelogen ist, falls zufällig doch einer der Soldaten eine Ahnung haben sollte. In acht von zehn Dörfern funktioniert es allerdings; wir dürfen uns die Wahllokale von innen ansehen. Was wir sehen sind Wahlurnen, die als Requisiten in einem Wildwestfilm - über Korruption und Banditen, die ein unschuldiges Städtchen erpressen - nicht weiter auffallen würden. Es sind handgezimmerte Holzkisten mit offensichtlich schon mehrfach grob misshandelten Siegeln; das angefangene Siegelwachs liegt zumeist direkt daneben auf dem Tisch. Auf die Frage, ob es im Vorfeld der Wahl Repression gegeben hat, antworten die meisten Menschen in den Dörfern mit nein, was zweierlei bedeuten kann: zum Einen sind sie hier Manches gewohnt und halten diese Wahl vielleicht tatsächlich für demokratisch, weil dieses Mal noch keine Kandidaten verschleppt oder erschossen wurden - zum Anderen klingt ihre wiederholte Versicherung, dass es keinerlei Druck auf die Wahlberechtigten gegeben hat, manchmal fast panisch. Sobald wir etwas abseits stehen, werden solche Aussagen oft auch zurückgenommen: wir hören von Drohanrufen und ungebeten Besuchen der Militärs, die zum Teil offen angekündigt haben, die Dörfer zu räumen, falls es zu viele Stimmen für die DEHAP geben sollte. Schon mehrfach wurde uns berichtet, dass die Militärs - zum Teil erfolgreich - versucht haben, die Bevölkerung zur offenen Wahl zu zwingen. Nichtwählen ist strafbar - wenn man seine Wahlunterlagen bekommen hat.

Meine Versuche, auch mit den Frauen in den Dörfern zu reden, scheitern oft daran, dass mein Kurdisch nicht ausreicht und sie kein Türkisch verstehen. Die Schulausbildung muss hier immer noch auf türkisch absolviert werden - eine der wichtigsten Forderungen der kurdischen Befreiungsbewegung ist das Recht auf Ausbildung in ihrer Muttersprache - aber die meisten der älteren Frauen in den Dörfern sind ohnehin nie zur Schule gegangen. Drei junge Mädchen, die ich anspreche, können zwar Türkisch, aber wir befinden uns in Hörweite eines wichtigtuenden türkischen Offiziers, und sie sind - natürlich - kurz angebunden.

Die meiste Zeit - etwa sieben Stunden lang - folgen uns in einem Kleinbus zwei Angehörige des JITEM (Geheimdienst der Militärpolizei). Einer von ihnen lächelt unentwegt mit einem Blick, der irgendwie wahnsinnig wirkt - als hätte er ein „Vietnam-Syndrom“. Tatsächlich sind diese Männer in der Bevölkerung der kurdischen Gebiete als Kriegsverbrecher verhasst und gefürchtet; auch die einfachen Soldaten der türkischen Armee haben mitunter Angst vor ihnen. Das jedenfalls stellen wir fest, als ein junger Wehrpflichtiger aus Bodrum mit uns spricht. Ercan ist achtzehn oder neunzehn Jahre alt und froh, die Hälfte seines Militärdienstes hinter sich zu haben und in sechs Monaten wieder Zivilist zu sein. Er hat uns von einem kleinen Jungen ausrichten lassen, dass wir zu ihm herüber kommen sollen, bricht aber die Unterhaltung sofort ab, als ihm einer der JITEM-Leute einen Blick zuwirft. Ein weiteres Problem sind die „Dorfschützer“ - bewaffnete Kollaborateure. Sie tragen zumeist schlammbraune, uniformähnliche Zivilkleidung und AK-47-Sturmgewehre. Einer von von ihnen betritt sogar ein Wahllokal mit dieser Ausrüstung. In manchen Dörfern wurden sie mehr oder weniger zwangsrekrutiert, in anderen - zumeist sehr rückständigen mit ausgeprägten Clan-Strukturen - sind die Dorfschützer stark repräsentiert und Überzeugungstäter, die uns spüren lassen, dass wir unerwünscht sind. In einem solchen Dorf wird uns eine wirklich groteske Wahlkabine gezeigt, in der es kein funktionierendes Licht, dafür aber jede Menge Unrat auf dem Boden gibt. Falls in diesem Raum heute überhaupt gewählt wurde, musste dies entweder im Dunkeln oder bei offenem Fenster unter den Augen der patroullierenden Dorfschützer geschehen.
Im Übrigen sind theoretisch Wahlbeobachter aller teilnehmenden Parteien in den Wahllokalen zugelassen; die DEHAP hat jedoch damit gerechnet, dass sie einen Hauch von internationaler Öffentlichkeit brauchen wird, um tatsächlich eingelassen zu werden. Wo wir auftauchen - das meldet der JITEM vermutlich im Vorfeld - dürfen plötzlich auch die DEHAP-Beobachter die Wahllokale betreten. So haben wir - insch allah - doch noch ein paar Menschen durch unser vermeintliches Wichtigsein die freie Wahl ermöglicht. In einem Dorf erreichen wir sogar die öffentliche Auszählung der Stimmen. Die DEHAP kommt hier auf knapp 50 Prozent, was für die kurdischen Gebiete nicht einmal besonders viel ist - aber die in ihr vertretene HADEP hat in diesem Dorf bei der letzten Wahl noch gar keine Stimme bekommen. Etwa ein Drittel der Dorfbewohner hat die wirtschaftsliberale, nationalistische ANAP gewählt - eine der Regierungsparteien, die sich mit der Zehn-Prozent-Hürde ein Eigentor geschossen haben. Eigentlich keine Partei, die kurdische Interessen vertritt; höchstens die der „Aghas“, der Großgrundbesitzer, die auch vielerorts Druck auf das Wahlvolk ausüben oder leere Versprechungen machen, wie uns ein Dorfbewohner erzählt hat. Man kann hier durchaus genug über Politik wissen, ohne eine Schule besucht zu haben - trotzdem wären diesem Land endlich kurdische Schulen zu wünschen.

Der türkische Staat wird nun von zwei Parteien regiert, deren einziger Verdienst es ist, dass sie weder in der letzten Regierung vertreten waren, noch mit Repressalien überzogen wurden. Die liberalen Islamisten der AKP kamen auf 34,1 und die kemalistische „Republikanische Volkspartei“ CHP auf 19,3 Prozent. Die DEHAP hat es nicht ins Parlament geschafft, aber sie hat hoch verloren: knapp zwei Millionen Menschen (insgesamt 6,1 Prozent) haben sie trotz der Repression gewählt; sie hat in ihnen echte Unterstützerinnen und Unterstützer. Sie gehören zum fortschrittlichsten Teil der 46,6 Prozent der Wahlberechtigten, die nicht im neuen türkischen Parlament repräsentiert sind.

Claudia Wangerin