FrauenFluchtNetz Stuttgart und Tübingen

30.10.2001

Pressemitteilung

Frauen-Delegation kritisiert neuen Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur Türkei als zynisch und unsachlich

Das Auswärtige Amt macht sich zu Komplizen des Folter-Systems in der Türkei


Vom 16. bis 21.10.01 hielt sich eine Delegation, organisiert vom "FrauenRechtsBüro gegen sexuelle Folter" Berlin, "FrauenFluchtNetz" Stuttgart und Tübingen sowie von "kein Mensch ist illegal" Tübingen, zur Recherche gegen den neuen Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur Türkei (24.07.01) in Istanbul auf.
Die Delegation nahm teil an der internationalen Prozessbeobachtung des dritten Verhandlungstermins gegen 18 Frauen und einem Mann vor dem Strafgericht Beyoglu/ Istanbul, der nach 45 Minuten wieder vertagt wurde. Der Prozess muss als Einschüchterungsversuch des türkischen Staates verstanden werden, öffentliches Eintreten gegen Folter im Ansatz zu unterbinden. Die Delegationsteilnehmerinnen: " Er ist ein wesentliches Indiz dafür, dass der türkische Staat und die Gerichte nicht Folteropfer schützen, sondern die Folterer decken."

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Behauptungen des Lageberichts zu Behandlungsmöglichkeiten von Folteropfern noch zynischer. Entgegen den detaillierten Angaben des letzten Lageberichts über die schlecht ausgebaute Versorgungssituation behauptet der diesjährige Bericht plötzlich, dass die Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen gewährleistet sei.
Nach den zahlreichen Gesprächen der Delegation mit Anwältinnen, ÄrztInnen, WissenschaftlerInnen und MenschenrechtsaktivistInnen kritisieren die Teilnehmerinnen aufs schärfste die Aussagen des neuen Lageberichts Türkei als absolut unsachlich und verharmlosend. Die Behauptung, dass die Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen in Folge von Folter durch medikamentöse und psychotherapeutische Therapien in Krankenhäusern mit psychiatrischer Abteilung gewährleistet sei, entbehrt jeder objektiven Grundlage und ist schlichtweg falsch.
Angesichts des fortgesetzten "Folter-Systems", wobei sexualisierte Folter ein zentraler Bestandteil ist, der andauernden staatlichen Einschüchterung und Verfolgung von Institutionen und ÄrztInnen, die sich für Folteropfer einsetzen, und der Folge-Verfolgung von Folteropfern sind die Aussagen des Lageberichts absolut zynisch. Die Delegationsteilnehmerinnen erklären: "Das Auswärtige Amt macht sich mit ihren verharmlosenden unsachlichen Aussagen zum Komplizen des Folter-Systems."

Die folgende Gegendarstellung enthält eine Analyse der:
I) Behandlungsmöglichkeiten von Folteropfern:
1. Staatliche Behandlungsmöglichkeiten für Folteropfer sind in Istanbul wie generell in der Türkei nicht vorhanden
2. An staatlichen Krankenhäusern ist aus mehreren Gründen eine medizinisch- therapeutische Behandlung von Folteropfern unmöglich
3. Begrenzte Therapiemöglichkeiten bestehen in Istanbul nur bei den zwei Behandlungszentren von TIHV und TOHAV sowie am "Psychosozialen Traumazentrum" der Universität Capa-Istanbul, medizinische Fakultät
II) Folter - ein totales System:

Unterzeichnet von: FrauenFluchtNetz Stuttgart; FETZ, Frauen Beratungs- und Therapiezentrum Stuttgart; FrauenFluchtNetz Tübingen; Kein mensch ist illegal, Tübingen


Gegendarstellung zum Lagebericht Türkei
Erste Auswertung der Frauen-Delegationsreise vom 16. bis 21.10.01 in Istanbul

I) Behandlungsmöglichkeiten von Folteropfern:

Die Delegation konnte in ihren fünftägigen intensiven Recherchen in Istanbul entgegen der Aussage des Lageberichts, "die Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen kann durch medikamentöse und psychotherapeutische Therapien erfolgen", keine gesicherten Behandlungsmöglichkeiten vorfinden. Auch ist die zufriedenstellende medizinisch, therapeutische Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen unter den gegebenen sozialen, politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht möglich.
Dabei folgte die Delegation der Aufforderung des deutschen Konsulats in Istanbul, im Gespräch Frau Daimer, die meinte, dass ihr keine staatlichen Behandlungsstellen bekannt seien und wir uns an den Menschenrechtsverein wenden sollten.

Gespräche bei Frau Prof. Dr. Sebnem Korur Fincanci, Direktorin der Abteilung für Gerichtsmedizin, Medizinische Fakultät Istanbul, und den einzigen zwei unabhängigen Behandlungsstellen TIHV (Menschenrechtsstiftung Türkei) und TOHAV (Stiftung für soziale Rechtsstudien) ergeben folgend düsteres Bild:

1. Staatliche Behandlungsmöglichkeiten für Folteropfer sind in Istanbul wie generell in der Türkei nicht vorhanden. Am einzigen Krankenhaus in Istanbul mit psychiatrischer Abteilung können nur zwei Ärztinnen Trauma-Kranke behandeln.

2. An staatlichen Krankenhäusern ist aus mehreren Gründen eine medizinisch, therapeutische Behandlung von Folteropfern unmöglich:
· Es mangelt generell an entsprechend ausgebildeten Fachkräften für Trauma-Kranke insbesonders für Folteropfer, da Traumatisierung erst seit dem Erdbeben in der Türkei vor zwei Jahren als fachärztlicher Themenkomplex diskutiert wird. Die medizinische und psychologischen Ausbildung hat das Thema posttraumatischer Belastungsstörung immer noch nicht aufgegriffen.
· Die staatliche Repression gegen Folteropfer und behandelnde ÄrztInnen erzeugt ein Klima der Angst, welches die meisten ÄrztInnen aus staatlichen Einrichtungen davor zurückschrecken lässt, Folter zu attestieren.
· Folter als legitimes Mittel der Beweiserhebung, Bestrafung und Einschüchterung politisch Oppositioneller basiert auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens, der sich bis in die Krankenhäuser fortsetzt. Frau Prof. Sebnem Korur Fincanci meinte dazu: "Viele Ärzte sehen Folter als etwas normales, legitimes an."
· Auf Seiten der Folteropfer besteht ein großes Misstrauen gegenüber Krankenhäusern als staatliche Einrichtungen, so dass sich die wenigsten getrauen, über ihre erfahrene Folter zu sprechen. Dieses Misstrauen ist, so Prof. Sebnem Korur Fincanci, angesichts des staatlichen Umgangs mit den unabhängigen Behandlungszentren nur begründet. So werden die Behandlungszentren z.B. immer wieder angeklagt, ihre Patientenkarteien herauszugeben. In staatlichen Krankenhäusern sei der staatliche Zugriff auf Patientenkarteien problemlos gegeben.


3. Begrenzte Therapiemöglichkeiten für Folteropfer bestehen in Istanbul nur bei den zwei unabhängigen Behandlungszentren von TIHV und TOHAV. Für sexualisiert gefolterte Frauen gibt es als einzige Stelle in der Türkei das "Psychosoziale Traumazentrum" der Universität Capa-Istanbul, medizinische Fakultät, das sich auf "Gewalt gegen Frauen" spezialisiert hat. Dabei ist der Erfolg ihrer Behandlung durch mehrere Faktoren, vor allem die staatliche Repression, stark eingeschränkt

Begrenzte Kapazitäten der Behandlungszentren:
· Angesichts der geschätzten Zahl von einer Millionen Folteropfer (jede/r sechzigste Türke/in) seit 1980, so die Anwaltskammer, ist es nur ein kleiner Prozentsatz, der sich an die unabhängigen Behandlungszentren wendet und behandelt werden kann.
· An die Menschenrechtsstiftung TIHV, die in fünf grossen Städten der Türkei seit 1991 Behandlungszentren aufgebaut hat (Istanbul, Izmir, Adana, Diyarbarkir, Ankara), wurden im letzten Jahr 1200 Anfragen gestellt. An das Istanbuler Behandlungszentrum wandten sich im letzten Jahr 450 Folteropfer. Damit sind ihre finanziellen und institutionellen Kapazitäten als NGO absolut ausgeschöpft. Neben der konkreten medizinischen und psychotherapeutischen Versorgung ist die für die Behandlung notwendige finanzielle und soziale Unterstützung der Patienten nicht möglich.
· Die Stiftung für soziale Rechtsstudien TOHAV in Istanbul behandelt pro Jahr 150 bis 200 Folteropfer. Damit sind auch ihre begrenzten Ressourcen, ein festangestellter Arzt und eine Psychologin, bei weitem ausgeschöpft. Oft muss die medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung aufs notwendigste beschränkt bleiben, da Operationen und diagnostische Tests nicht finanzierbar sind.

Staatliche Repression und Verfolgung von Behandlungsstellen und Folteropfern:
· Alle Behandlungsstellen sind ständig von staatlicher Repression, Anklagen gegen ÄrztInnen und von ständiger Schließung bedroht (siehe auch Dossier: Trials of the Human Rights Foundation of Turkey and Pressures on the Human Rights Assiociation 1999-2001, vom 19.01.01):
Während der letzten Razzia gegen das Zentrum der Menschenrechtsstiftung TIHV in Diyarbarkir am 7.9.01 wurden alle Patientenakten und Adressenlisten von ÄrztInnen beschlagnahmt und 15 Tage widerrechtlich einbehalten. Zwei bei der Stiftung ehrenamtlich tätige Ärzte aus staatlichen Krankenhäusern wurden zwangsversetzt (amnesty international berichtete). Am 18.10 wurde ein gerichtliches Verfahren zur Schließung des Zentrums vor dem Staatssicherheitsgericht in Diyarbarkir eingeleitet. Angesichts der Prozesswelle gegen Folteropfer ist zu befürchten, dass die Folterpatienten nun wieder von staatlicher Gewalt bedroht sind.
Dieses staatliche Vorgehen ist kein Einzelfall , sondern ist ein Beispiel für die regelmäßige Kriminalisierung und Gewaltandrohung unter der die wenigen unabhängigen Einrichtungen und mutigen ÄrztInnen zu arbeiten haben.
Ärzte der TIHV-Stelle in Adana wurden verurteilt, weil sie sich weigerten, Patientenakten an staatliche Stellen herauszugeben.
Das Zentrum in Izmir wurde Anfang des Jahres für 10 Tage geschlossen und behandelnde Ärzte aufgrund ihrer öffentlichen Aussagen zu Folterfällen und Behandlung u.a. wegen "Unterstützung einer illegalen Vereinigung" angeklagt.
Gegen das Istanbuler Zentrum wurden allein im Januar 2001 sechs Verfahren eröffnet.
Auch gegen Ärztinnen des Psychosozialen Traumazentrums der Universität Capa-Istanbul wurden Ermittlungen und Disziplinarverfahren 1999 eingeleitet, nachdem sie Folteropfer behandelt haben.
Prof. Sebnem Korur Fincanci vom gerichtsmedizinischen Instituten wurde ebenfalls aufgrund ihrer Gutachten, in denen sie Folter attestierte, mit Klagen überzogen. Die letzte Anklage wegen "Verunglimpfung des Staates und seiner Organe" wurde im Februar dieses Jahres gegen sie erhoben.

· Auch die Folteropfer selbst sind einer Folge-Verfolgung ausgesetzt und viele
werden ein weiteres Mal, eingeschüchtert, verhaftet und gefoltert:
Vor allem Folteropfer, die den Mut aufbringen, ein Behandlungszentrum aufzusuchen, über ihre Folter öffentlich zu reden und Anzeige gegen ihre Folterer zu erstatten, sind von erneuter staatlicher Verfolgung bedroht, wie auch der Prozess gegen die 18 Frauen und einen Mann zeigen.
Dieses repressive Klima und die fortbestehende starke Unsicherheit steht einer erfolgreichen Behandlung diamentral entgegen, wie uns alle Gesprächspartner vermittelten. Viele Patienten brechen aus diesen Gründen, so die Erfahrung von TIHV und TOHAV, ihre Behandlung ab. Auch überträgt sich die Verfolgungssituation der Folteropfer auf die Ärzte.

Soziale Rahmenbedingungen - soziale Sicherheit nicht gegeben:
· Ein weiterer zentraler Faktor für eine gelungene Behandlung stellt die soziale
Absicherung und Versorgung der Patienten dar. Doch in Folge des Gefängnisaufenthalts, inländischer Flucht in die Großstädte oder Verfolgung sind die allermeisten Patienten sozial äußerst schlecht gestellt. Sie können nicht mehr auf die familiären Versorgungsstrukturen zurückgreifen oder die geringen staatlichen Sozialleistungen wie die Grüne Karte (Yesil Kart) in Anspruch nehmen. Diese soziale Problematik der Patienten, so TIHV und TOHAV, verunmöglicht in vielen Fällen eine Fortsetzung der Behandlung

Auch die Aussagen des Lageberichts zur Inanspruchnahme der Yesil Kart müssen nach den Recherchen erheblich in Frage gestellt und davon ausgegangen werden, dass ein Großteil auch durch dieses Netz fällt. So wird für die Antragstellung ein Ausweispapier, eine Wohnbescheinigung, sowie eine Abmeldebestätigung vom alten Wohnsitz, zu erhalten beim Vorsteher (muhtar), benötigt. Zudem müssen weitere Bestätigungen von der Sozialversicherung, der Rentenversicherung und vom Grundbuchamt vorgelegt werden. Für Menschen, die Verfolgungserfahrungen hinter sich haben bzw. befürchten müssen, immer noch verfolgt zu werden, stellt dieser Behördengang ein unüberwindbares Hindernis dar.
Yesil Kart Besitzer bekommen außerdem nicht jede Operation/Behandlung erstattet. So brauchen Yesil Kart Besitzer auch eine Überweisung vom staatlichen Krankenhaus, wenn sie sich am "Psychosozialen Traumazentrum" der Universität Capa behandeln lassen wollen. Frau Prof. Sebnem Korur Fincanci wies ebenso darauf hin, dass sie Yesil Kart Besitzer wegen Finanzierungsproblemen ablehnen und an TIHV weiterleiten mussten.

Fazit:
Die für eine erfolgreiche Therapie unerläßlichen Voraussetzungen, wie Sicherheit, Geborgenheit, Angstfreiheit und eine sozio-ökonomische Basis, sind unter diesen Umständen nicht gegeben.
"Wenn sich das gesellschaftliche Klima nicht ändert, macht die Behandlung von Folteropfern eigentlich keinen Sinn", so Prof. Sebnem Korur Fincanci. Auch TIHV wies auf die äußerst negativen Rahmenbedingungen hin: "Eine medizinisch therapeutische Gesundung ist unter den Bedingungen sehr schwierig. Die Behandlung nach Folter ist keine Operation. Nach einer Operation reicht eine gute Krankenschwester. Bei einer Behandlung nach erlittener Folter sind die sozialen Begleitumstände sehr wichtig."


II) Folter ein totales System - Folterer und nicht Folteropfer werden staatlich geschützt

Dieser Zusammenfassung liegen Gespräche mit Eren Keskin, Vorsitzende der Istanbuler Sektion des Menschenrechtsvereins, mit Seref Turgut, Vorsitzender der Menschenrechtskommission der Istanbuler Anwaltskammer, und Prof. Dr. Sebnem Korur Fincanci, Direktorin der Abteilung für Gerichtsmedizin, Medizinische Fakultät Istanbul, zugrunde:

"Folter wird im großen Maße in der Türkei ausgeübt, in den östlichen Gebieten wie im Westen der Türkei. Es zeigt sich ein Bild einer Systematik: Die Gesetze sind "offen" für Folter und tragen nicht dazu bei, sie zu verhindern. Vielmehr beschützen die Gesetze die Folterer, anstatt Folteropfer zu schützen. So wird gegen Folterer staatlicherseits und juristisch nicht vorgegangen, was die hohe Zahl von über 95% Freisprüchen zeigt." Mit diesem Statement fasste der Anwalt Seref Turgut die Analysen der Menschenrechtskommission der Istanbuler Anwaltskammer über die derzeitige gesetzliche Lage und Verfahrenswirklichkeit in Bezug auf Folter zusammen.


Folter - ein totales System

An Folter, ihrer Ausübung, Legitimierung, Deckung und Vertuschung sind eine Reihe von staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen beteiligt.
Folgende unterstützende Institutionen sind zu nennen:
· Die Gesetze, die Folter nicht definieren und Folterer nicht verfolgen
· die Gerichte, die Folterer freisprechen;
· die Gerichtsmedizin, die Folterung nicht in Gutachten bestätigt
· und die Staatsanwaltschaft, die Foltervorwürfe nicht untersuchen. Laut TOHAV werden nur 1 bis 5% der Verfahren überhaupt eröffnet.


Gesetzeslage: Gesetze sind offen für (sexualisierte) Folter
· Schon bei der Definition von Folter fängt die staatliche Legitimierungspraxis an. So werden Folterungen nur im Polizeigewahrsam als "Folter" definiert (Art.243), während des Gefängnisaufenthaltes läuft Folter unter "schlechter Behandlung" (Art. 245), was mit einem niedrigeren Strafmaß bemessen ist. Die Definition von Folter entspricht nicht der UN-Folter-Konvention.
· Bei sexualisierter Folter trifft dies hinsichtlich der gesetzlichen Definition von Vergewaltigung ebenfalls zu: so wird orale oder anale Vergewaltigung, sowie die Vergewaltigung mit Gegenständen nicht als "Vergewaltigung" definiert.
· Auch "Sexueller Missbrauch" ist kein eigenständiger Straftatbestand im Türkischen Strafgesetzbuch. Alle Sexualstraftaten außerhalb der engen Definition von Vergewaltigung fallen unter "Sexuelle Belästigung", worunter auch "verbale Belästigung" fällt. D.h. auch die Vergewaltigungen mit Schlagstöcken etc. wird mit "verbaler Belästigung" auf eine Stufe gestellt.
· Es ist keine Mindeststrafe für die Verurteilung von Folterern festgelegt.
· Ferner können gegen Staatsbeamte, wie Polizisten, nur Verfahren eröffnet werden, wenn ihr Vorgesetzter zustimmt.
· Auch die jüngste Grundrechtsreform der Türkei hat keine Verbesserung gebracht: So wurden zwar die Höchststrafen von 5 auf 8 Jahre angehoben, doch immer noch keine Mindeststrafe festgesetzt.
Weiterhin bleibt der Vorgesetzte zuständig für die Einleitung von Verfahren, nur der Zeitraum, in dem das Verfahren eröffnet werden muss, wurde auf ein Monat verkürzt.

Gerichte:
Während 1998-2000 wurden in Istanbul 125 Verfahren gegen 366 Polizisten wegen Folterung eröffnet. Dabei wurden nur in drei Fällen sechs Polizisten verurteilt zu Strafen, die sich in Pfennigbeträgen belaufen (einmal 375.000 türkische Lira = ca. 50 Pf). (siehe Statistik der Menschenrechtskommission der Anwaltskammer, Istanbul 2001)

Gerichtsmedizin: Begutachtung unter Druck
Die Begutachtung findet an den staatlichen gerichtsmedizinischen Instituten statt. Vor und am Ende des Polizeigewahrsams sind Vorführungen bei Ärzten oder den gerichtsmedizinischen Instituten angeordnet.
Doch bei der Begutachtung sind Polizeikräfte anwesend und verfolgen das höchst intime und schambehaftete Gespräch. Wie Prof. Dr. Sebnem Korur Fincanci von vielen Gerichtsmedizinern erfahren hat, läuft die Begutachtung unter enormen polizeilichen Druck ab: "Die Pistole liegt mit auf dem Tisch". Unter diesen repressiven Bedingungen ist es nicht erstaunlich, dass viele Gutachter keine Folterung feststellen können. Auch droht gefolterten Frauen, die ihre Folter offen legen, erneute Gewalt zurück im Gefängnis.


Schwierigkeit, Systematik von Folter zu belegen:

Auf diese Sachverhalte führen alle GesprächspartnerInnen die Schwierigkeit zurück, den systematischen Charakter und das große Ausmaß von Folter im Polizeigewahrsam und als Repressionsmittel statistisch zu belegen: nur die wenigsten Folteropfer getrauen sich, eine Anzeige zu erstatten; nur die wenigsten Folterungen, werden als solche begutachtet; nur wenige Verfahren werden daraufhin eröffnet; nur bei einem Bruchteil kommt es zu einem Urteilsspruch:

Am Beispiel sexualisierter Folter kann dies verdeutlicht werden:
Die meisten Frauen, die festgenommen werden oder in den kurdischen Gebieten von Dorfrazzien betroffen sind, werden Opfer sexualisierter Folter, so die Erfahrungen der Menschenrechtsstiftung und des Istanbuler Projekts "Rechtliche Hilfe für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell mißhandelt werden".
Die meisten Frauen erfahren während ihrer Festnahme und im Polizeigewahrsam sexualisierte Folter.
Dabei ist Vergewaltigung sehr schwer nachzuweisen und kann medizinisch nur binnen 48 Stunden begutachtet werden. Befinden sich Frauen in Polizeigewahrsam ist diese kurze Frist nicht einzuhalten. Während des Gefängnisaufenthalts können Frauen nur mit massiven öffentlichen Druck erreichen, zur Begutachtung vorgelassen zu werden. Hinzu kommen gesellschaftlich-kulturelle Tabuisierung und Scham, die erlittene Folter offen zu machen. Wenn die Frist zur medizinischen Feststellung abgelaufen ist, kann die Folterung über psychologische Gutachten bestätigt werden. Doch dafür bräuchte man spezialisierte und unabhängige Stellen, die Gutachten erstellen. Dies hat auch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof bereits mehrfach angemahnt und die Türkei wegen ihrer Gutachtenpraxis verurteilt. Gutachten von unabhängigen Stellen wie TIHV oder der medizinischen Fakultät Capa werden jedoch selten vor Gericht anerkannt.


Prozesswelle gegen Frauen, die öffentlich versuchen, sexualisierte Folter zu enttabuisieren und gegen Folterer vorzugehen:

· Selbst gegen die Ex-Vorsitzende der Untersuchungskommission des türkischen Parlaments Dr. Piskinsüt leitete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren ein. Sie soll die Identität der Folteropfer preisgeben.
· Seit einem Jahr haben Staatsanwaltschaften verschiedene Verfahren gegen Frauen, die den Mut aufgebracht haben, gegen ihre Folterer auszusagen, sowie gegen Rechtsanwältinnen angestrengt:
1) Am 21.3.2001 erhob die Staatsanwaltschaft Istanbul vor dem Strafgericht Beyoglu/ Istanbul Anklage gegen 19 Rednerinnen und Mitorganisatorinnen des Kongresses "Nein zur sexuellen Folter" im Jahr 2000.
2) Am 15.6.2001 stand die türkische Rechtsanwältin Eren Keskin vor Gericht, die für das Istanbuler FrauenRechtsBüro gegen sexualisierte Folter arbeitet, sowie der Chef-Redakteur der Zeitung Yeni Gündem. Ihnen wird vorgeworfen "staatliche Streitkräfte verunglimpft" zu haben. Frau Keskin ist angeklagt, weil sie auf einer Pressekonferenz eine gefolterte Mandantin zitierte. Diese habe berichtet, dass sie in der Haftanstalt Mardin die Augen verbunden, völlig entkleidet und sexuell misshandelt worden ist. Yeni Gündem hat den Bericht abgedruckt.
3) Ein dritter Prozess läuft seit dem 28.6.2001 vor dem Staatssicherheitsgericht. Angeklagt sind die Rechtsanwältin Fatma Karakas, ebenfalls Mitarbeiterin des FrauenRechtsBüros Istanbul, und vier weitere Frauen wegen des gleichen Tatbestands wie im Verfahren gegen die 19.

Sabine Hess, Britta Wente
FrauenFluchtNetz Stuttgart und Tübingen
s.hess@em.uni-frankfurt.de
b.wente@z.zgs.de