aus: Kurdistan-Rundbrief, 11.8.1999

Murat Karayilan: "Wir werden für eine Lösung kämpfen"

Der ARGK-Kommandeur antwortete am 27. Juli auf Fragen zur Situation des kurdischen Befreiungskampfes

Nur wenige Tage vor dem Aufruf des PKK-Vorsitzenden zum Rückzug der Guerilla aus dem türkischen Staatsgebiet hatte sich Murat Karayilan, Mitglied des PKK-Präsidialrats und Kommandeur der ARGK, Ende Juli in einem längeren Interview zur Situation des kurdischen Befreiungskampfes nach der Verurteilung Öcalans und zu den Zielen und Grundsätzen der PKK in dieser Situation geäußert. Hier eine aus platzgründen geringfügig gekürzte Dokumentation des Interviews, übersetzt aus der englischen Fassung, die von "Kurdish Media" am 27. Juli über Internet verbreitet wurde. Fast ein halbes Jahr nach der Entführung Öcalans in die Türkei weist der ARGK-Kommandeur darin alle Gerüchte über ein Auseinanderbrechen und Führungskämpfe in der PKK zurück, lehnt jede Auflösung der Partei ab und warnt die Türkei vor einer Fortsetzung des Krieges. Die Guerilla sei auf alle Fälle vorbereitet, wolle aber weiter eine politische Lösung und verfolge deshalb nur eine Politik der aktiven Verteidigung. (rül)

Auf welchem Niveau bewegt sich zur Zeit der Krieg in Nord- und Süd-Kurdistan? Wie ist die Situation der ARGK und der türkischen Armee?

*Karayilan:* Wir führen derzeit einen kontrollierten, begrenzten Krieg. Es handelt sich nicht um einen Krieg, den wir mit allen unseren Mitteln führen und intensivieren. Er ist im großen und ganzen eine Form der aktiven Verteidigung, die die laufenden Entwicklungen im politischen Umfeld in Rechnung stellt. Im wesentlichen wird der Krieg im nördlichen und im südlichen Kurdistan innerhalb dieses Rahmens geführt. Unser Präsidialrat hatte am 6. Mai dieses Jahres eine Erklärung an unsere militärischen Kräfte und an die Presse herausgegeben. Der Krieg wird zur Zeit nach den Grundsätzen in dieser Erklärung geführt. Er ist ein Krieg der aktiven Verteidigung.

Wir müssen sicherstellen, daß die Dämpfung des Konflikts und das Klima für Frieden, das unser Führer aus dem Gefängnis in Imrali verbreitet, nicht zerstört werden. Deshalb planen wir eine solche Art der Kriegsführung. Im anderen Fall wäre der Krieg sehr viel intensiver. Das bedeutet, daß wir derzeit nicht alle unsere Kräfte in den Krieg stecken. Wir sind eher damit beschäftigt, unsere Kräfte vorzubereiten und umzustrukturieren entsprechend den Beschlüssen des 6. Kongresses. Wir führen Veränderungen durch, die unsere Partei, unsere Armee und unsere Kriegstaktik professioneller machen sollen. Im Augenblick konzentrieren wir uns auf diese Prozesse, während wir zur gleichen Zeit auf die Forderungen des Krieges nach einer aktiven Verteidigung und ihren Techniken antworten.

Gibt es neue Elemente, eine Änderung in der Kriegstaktik der türkischen Armee?

*Karayilan:* Heutzutage wendet die türkische Armee bei ihren militärischen Operationen zum großen Teil eine neue Taktik an. Die türkische Armee bemüht sich, den Krieg zu intensivieren, ihre Operationen beruhen mehr und mehr auf einer Technologie und auf Kräften mit mehr Mobilität und Tempo. Sie verfolgt eine Taktik, die überraschende Operationen, Luftverlegung von Truppen und überraschende Angriffe auf Guerillagebiete zu verschiedenen Zeitpunkten einschließt. Das ist natürlich eine neue Taktik. Sie ist zum Teil schon im letzten Jahr eingeführt worden. In diesem Jahr ist diese neue Taktik mehr durchorganisiert, überarbeitet und praktisch erprobter geworden. Im wesentlichen verfolgen diese Operationen, die sich erheblich auf Technologie und Geheimdiensterkenntnisse stützen und auf dem Luft- und Landweg erfolgen, das Ziel, die Guerilla zu vernichten.

Wie sind die Einheiten der ARGK-Guerillas von dieser neuen Taktik betroffen und wie antworten sie darauf?

*Karayilan:* Ich kann darauf sehr beruhigt antworten, daß die türkische Armee trotz ihrer neuen Technologie und Technik, ihrer Mobilität, ihrem Tempo und ihren großen Ressourcen mit der Einführung der neuen Taktiken trotzdem erfolglos ist. Sie haben nicht viel erreicht. Im letzten Jahr waren sie teilweise erfolgreich. Jetzt restrukturieren auch wir unsere Kräfte. Wir antworten auf diese neue Vorgehensweise der türkischen Armee, indem wir unsere Armee umgruppieren, unsererseits neue Formen der Verteilung unserer Kräfte und neue Taktiken anwenden. Im Ergebnis haben uns ihre Operationen nirgendwo sehr bedrängt. Ihre letzten Operationen wie die in Haftanin und Masilo in der Region Beytussebap und ähnliche in Catak, Gurpinar und Tatvan und Semdinli waren ohne viel Erfolg. Sie waren ein Fehlschlag. Mehr noch, in vielen Fällen haben wir ihnen bei Gegenangriffen Verluste zugefügt. Die Farashin-Operation war die letzte dieser Sorte und so endete sie auch.

Kurz gesagt, soweit es unsere Guerillakräfte betrifft, war die türkische Armee in diesem Jahr bisher nicht wirksam. Sie war statt dessen mit einem wirksameren und entschlosseneren Widerstand der Guerilla konfrontiert. Die Armee traf auf eine Guerilla, die Tempo, Schlagkraft, Infiltration und Hinterhalte einsetzte, also mehr Guerillataktik, anstelle der vorherigen, mehr konventionellen Kriegstaktik. ... Im Ergebnis waren die Operationen der türkischen Armee unwirksam. Die Spitze der türkischen Armee weiß das auch genau.

Nach den Erklärungen des PKK-Vorsitzenden in Imrali ist eine Debatte unter den Kurden, unter den Türken und in Europa entstanden. Diese Debatte, diese Diskussionen dauern an. Als Mitglied des Präsidialrats der PKK, wie sehen sie diese Debatte und die Interessen, die sie beeinflussen?

*Karayilan:* Wir denken, daß die Beteiligten an dieser Debatte das Wesen, die Bedeutung und die Dringlichkeit des Problems nicht wirklich erfassen. Ein Beispiel. Wenn die Einheit dieser beiden Völker, der Türken und der Kurden, durch eine Art Heirat wiederhergestellt werden soll, ist die entscheidende Frage: Basiert diese Beziehung auf Freiheit und Demokratie, oder auf Unterdrückung, Repression und Gewalt? Beachten sie genau: Das kurdische Volk akzeptiert keine Heirat auf der Basis von Gewalt, sie sind diesem Spiel voraus. Die Kurden haben sich zu einem Volk entwickelt, die den Hauch der Freiheit gekostet haben, auf den Geschmack gekommen sind. Sie akzeptieren keine Heirat mehr, die durch Gewalt erzwungen wird. Das ist genau die entscheidende Entwicklung, die einige Kreise nicht verstehen oder erfassen. Dies hängt eng zusammen mit Änderungen im Denken der Menschen, ihren Erwartungen und ihrem Recht zu wählen oder nicht zu wählen. Das ist verbunden mit sozialen und politischen Entwicklungen. Von einem sozialen und politischen Gesichtspunkt aus hat das kurdische Volk eine neue Stufe seiner Entwicklung erreicht. Auf der Basis ihrer Liebe zur Freiheit und ihrem politischen und ideologischen Verständnis, daß unsere Partei entwickelt hat, sind die kurdischen Menschen entschlossen, ihre Ehre, ihre Identität und ihre nationale Existenz zu verteidigen, koste es, was es wolle. Sie sind nun ein bewußtes und entschlossenes Volk geworden. Ganz egal, wie sehr sich manche auch bemühen, um ihre Führung einzusperren, selbst sie und ihre Organisation zu vernichten, ein Volk, das diese Stufe der Bewußtheit erreicht hat, wird sich eine neue Organisation, eine neue Führung schaffen. Die Kurden werden das wieder schaffen. Wir denken, daß diese Realität von denen, die jetzt debattieren, nicht in ihrem Ausmaß und ihrer Bedeutung erfaßt wird. Also dann, jetzt wird es Zeit für sie, das zu tun!

Werden die Erklärungen und Bemühungen des PKK-Vorsitzenden von seinen Freunden verstanden?

*Karayilan:* Die Herangehensweise, die unser Parteivorsitzender entwickelt hat, seine Perspektiven und Vorschläge zur Lösung des Problems sind sehr wichtig. Im Jahr 1978 publizierte die Führung unserer Partei ihr erstes Manifest unter dem Titel "Der Weg der Revolution in Kurdistan". Dieses erste Manifest enthielt auch eine ausführliche Analyse der kurdischen Frage. Es enthüllte die Realität der kurdischen Frage, schlug eine Lösung vor und kritisch und ausführlich auch Methoden des Kampfes. Die Kurden erwachten - entlang den Linien, die in diesem Manifest vorgeschlagen worden waren. Der Staat konnte dieses Erwachen nicht verdauen und versuchte, sie niederzuschlagen. Im Ergebnis begann ein Krieg. Seitdem ist eine lange Zeit vergangen. Es ist jetzt 21 Jahre her, daß das Manifest veröffentlicht wurde. Die Kurdische Frage ist nun reif für eine Lösung. Die Öffentlichkeit hat ihre Existenz anerkannt. Die kurdische, die türkische und zu einem gewissen Maß auch die Weltöffentlichkeit erkennt an, daß da ein Konflikt besteht. In diesem Sinne ist der Konflikt nun reif für eine Lösung.

Nun kommt ein zweites Manifest auf die Tagesordnung. Das zweite Manifest schlägt die Lösung des Konflikts vor. Es ist ein Manifest für die Lösung. Das ist das wesentliche des Manifests für eine demokratische Republik, das Herr Öcalan vorgeschlagen hat.

Offensichtlich sind die Art, wie das Problem dargelegt wird, die Terminologie und die Bezüge ungewohnt. Aber es ist ein Vorschlag für eine Lösung. Es ist eine Manifest, das auf radikale Weise das soziale und politische Leben unseres Volkes beeinflussen wird. Unser Volk muß diese Realität sehr gut erfassen, sie sehr ernst nehmen. Ohne sich ablenken zu lassen von verschiedenen Verdrehungen, Verzerrungen, sollte es sich bemühen, sein Wesen in aller Tiefe zu erfassen. Das kurdische Volk, um damit anzufangen, die türkischen Intellektuellen und ihr Gegner, der Staat, sollten sich bemühen, das Problem in all seiner sozialen, politischen und kulturellen Konmplexität zu erfassen, anstatt sich zu verlassen auf oberflächliche Herangehensweisen, Politik und detektivische Methoden.

Wenn das Problem nicht auf diese Weise angegangen und ernsthaft behandelt wird, wird es unmöglich sein, den Konflikt zu lösen. Einer Lösung genau jetzt entgegenzuwirken bedeutet grünes Licht zu geben für eine schwerwiegende Intensivierung des Krieges. Die Folge wäre eine Vertiefung und Erweiterung der Spaltung zwischen den zwei Völkern. Es sieht jedoch so aus, als wären die Kräfte und Kreise außerhalb unserer Gegner weit entfernt von einem verantwortungsvollen und aufmerksamen Niveau der Diskussion, was das Verständnis der Ernsthaftigkeit des Konflikts, seiner Dringlichkeit und der historischen Möglichkeit zu seiner Lösung, die nun so nahe ist, angeht.

Der PKK-Vorsitzende, Herr Öcalan, und der Präsidialrat sprechen beide von einer Verschwörung. Sie stellen fest, daß sich diese Verschwörung auch gegen die Türkei richtet.

*Karayilan:* Wir haben immer wieder auf die Existenz einer solchen Verschwörung hingewiesen. Dies ist eine internationale Verschwörung. Diese Verschwörung richtet sich gegen unsere Bewegung, gegen unser Volk und gegen unseren Kampf. Sie richtet sich jedoch in gleichem Maße gegen das türkische Volk wie gegen uns. Das ist die Wahrheit. Sie wollen unsere Führung eliminieren und in seiner Person auch uns. Das ist auch wahr. Aber ist es möglich, uns zu eliminieren? Ist das so einfach? Das ist sicher nicht einfach. Was wäre dann der Weg? Der Weg bestünde in einem grausamen, mörderischen Krieg, einen Krieg, der noch Jahrzehnte weiter geht. Wer wird in einem solchen Krieg leiden? Zuerst das kurdische Volk, das ist wahr. Aber das türkische Volk wird auch leiden. Wenn der gegenwärtige Krieg in Zukunft weitergeht, dann werden diejenigen, die diese Verschwörung betreiben, ihre Ziele erreichen. Die Architekten dieser internationalen Verschwörung wissen diese entscheidende Tatsache genau und zielen darauf, das auch zu erreichen.

Nun müssen wir beachten, daß die ganze Welt, jedermann Erklärungen gegen die Todesstrafe gegen Herrn Öcalan abgegeben hat. Warum geben gewisse Mächte keine solche Erklärung ab oder nehmen eine weniger klare Haltung in dieser Angelegenheit ein? Offensichtlich verfolgen sie verborgene Ziele und grausame Absichten. Was ist ihr Endziel? Ihr Endziel ist, die Todesstrafe auch zu vollstrecken und den türkischen Staat bis zum Hals in einen sehr intensiven Krieg zu verstricken. Nur eine Türkei, die in einen endlosen Krieg verstrickt ist, die ständig mit ihren inneren Problemen beschäftigt ist, ist dringend auf die USA und Israel angewiesen, auf ihre Technologie, auf ihre Unterstützung, ihren Rat und ihre militärischen Ausrüstungen. Das ist der Grund dafür, daß diejenigen, die ein solches Ziel verfolgen, einen kurdisch-türkischen Krieg wünschen, weil er nämlich dem Ausbau ihrer Politik im Mittleren Osten nützt und ihnen dabei hilft, ihre wirksame Kontrolle über die Türkei beizubehalten.

Wie einige Kritiker auch bemerkt haben, warum sonst haben diese Mächte unseren Führer gefangen und an die Türkei ausgeliefert, wenn sie nicht genau diese Ziele verfolgen? Sie haben wirklich genau überlegte Ziele. Sie werden ihre Anstrengungen intensivieren. Wenn sie auch einen Plan für eine politische Lösung haben, dann wird das früher oder später deutlich werden. Es ist klar für jedermann, daß es einen Kurdenkonflikt in der Türkei gibt und das dieser Konflikt einen immensen Druck auf die Türkei ausübt. Diejenigen, die die Verhaftungslösung geplant hatten, müssen ein Ziel und eine Politik haben. Wenn dies nur eine vage Vorstellung von einer Lösung des Konflikts umfassen würde, wäre das schon deutlich geworden. Man sollte immer noch warten, vielleicht wird es später klar werden. Aber, die Dimensionen der Entwicklung nun deuten darauf hin, daß sie keine Lösung des Konflikts beabsichtigen. Was ist dann ihr Ziel? Ihr Ziel ist es, zu erreichen, daß die Menschen sich gegenseitig töten. Deshalb sage ich, zielt ihr Plan vor allem gegen uns. Das ist richtig, aber es gibt auch eine andere Seite davon, und die betrifft die Türkei. Was kostet es die verantwortlichen Mächte, die Regierenden in der Türkei, diese verborgenen Ziele zu erkennen? Wie intelligent sie sein werden, und wieweit sie in der Lage sein werden, dieses Problem rational zu lösen, weiß ich nicht.

Zu einer Zeit, in der die Konzepte für Frieden und Demokratie so oft geäußert werden, überlegen manche, was die PKK wohl denkt und wie die Guerilla reagieren wird?

*Karayilan:* Wir wollen das Problem nicht komplizierter machen, und wir wollen den Krieg nicht verlängern. Wir haben Werte, auf die wir uns stützen und die uns teuer sind. Wir haben Ideale. Als ein Ergebnis dieser Ideale wolen wir nicht blind einem Prozeß hinterherlaufen, der das türkische Volk tief verletzten könnte. Das wollen wir nicht.

Von Beginn an unserer Bewegung waren unsere wesentlichen Ziele Freiheit, Demokratie und Wohlstand für beide, die Kurden und die Türken, innerhalb gemeinsamer Grenzen. Sie haben uns als Terroristen abgestempelt und behauptet, wir würden verbrennen und zerstören und all dieses Zeugs ... Aber was ist das wesentliche unserer Bewegung? Das Ziel unseres Kampfes ist die Errichtung eines demokratischen Prozesses, ein gemeinsames und egalitäres Verständnis. Das ist das Wesen unseres Kampfes und das ist auch der Grund, warum ein beträchtlicher Teil unserer Gründungsmitglieder aus der Türkei kamen. Warum? Sie nahmen an unserer Bewegung teil, weil unser Kampf ein wertvolles Ziel verfolgte, weil er auf der Notwendigkeit der Brüderlichkeit und des Wohlstandes unserer beiden Völker basierte. Die Notwendigkeit dafür ist heute größer als je. Deshalb ist es nicht unsere Absicht, zu erklären, daß wir Hals über Kopf schießen und den Krieg erweitern werden.

Aber der türkische Staat ist weit davon entfernt, das zu verstehen. Er denkt weiter das genaue Gegenteil.

*Karayilan:* Wir sind nun in einer Situation, die von uns verlangt, bewußter als je zuvor zu sein, noch organisierter, und den Krieg auf eine Weise zu entwickeln, die im Interesse aller Menschen ist. Wenn der Krieg diesem Ziel dient, dann werden wir ihn vertiefen und intensivieren. Es stimmt, wenn die andere Seite sich unter allen Umständen weigert, dies zu verstehen, dann können wir nur den Krieg intensivieren. Im Augenblick bereiten wir, während wir unsere Anstrengungen für einen Friedensprozeß verfolgen, uns auch auf den Krieg vor. Schließlich ist alles möglich. Alles kann sich ändern. Neue Umstände können entstehen. Deshalb ist die Haltung unseres Gegners gegenüber dieser Sache entscheidend wichtig. Wir müssen uns auf alle Eventualitäten einstellen.

Was wollen Sie von der türkischen Seite?

*Karayilan:* Unsere Hauptforderung ist klar. Der Rahmen unserer gerechten Forderungen ist durch den Vorsitzenden unserer Partei, APO, dargelegt worden. Politisch, kulturell und ethisch stimmen wir dem voll zu. Wir verstehen ihn. Wir tun unser bestes. Von unserer Front aus nehmen wir eine sehr zurückhaltende Vorgehensweise an, um zu verhindern, daß dieser Prozeß sich in eine destruktive Richtung entwickelt. Die andere Seite aber muß dies auch verstehen und erfassen. Niemand sollte von uns erwarten, uns selbst zu liquidieren. Dies würde Gewalt erfordern und wird niemanden zufriedenstellen. Das wird niemals stattfinden. Deshalb sollte dieser Prozeß korrekt behandelt werden, in allen seinen Dimensionen erfaßt und auf gesunde Weise abgeschlossen werden.

In einem seiner Berichte hatte das Institut für Strategische Studien in England vorhergesagt, die PKK würde nach der Auslieferung von Öcalan in die Türkei auseinanderbrechen. Es stellt nun fest, daß die PKK und besonders ihr Präsidialrat nach dem Kongreß eine radikalere und unflexiblere Linie eingeschlagen habe. Zusätzlich spricht der Bericht von Widersprüchen zwischen der Haltung des PKK-Vorsitzenden und der des Präsidialrats. Einige Kreise in der Türkei verbreiten ähnliche Argumente. Was ist daran wahr?

*Karayilan:* Ich denke, daß Institut für Strategische Studien hat keine ernsthaften Untersuchungen angestellt. Die Autoren des Berichts wollten wohl zu Ergebnissen kommen durch Beobachtungen aus weiter Entfernung und Gerüchte vom Hörensagen. Deshalb sind sie in Wahrheit gescheitert. Eine ernsthafte Institution wäre nicht zu solchen Schlüssen gekommen. Wie können sie zum Beispiel das Auseinanderbrechen einer Bewegung voraussehen, die alle Teile unserer Menschen, die jungen und die alten gleichermaßen, mobilisiert, organisiert, ideologisch geweckt hat und soziale Werte für diese Menschen geschaffen hat? Daß sie zu solchen Schlüssen gekommen sind, ist allein ein gutes Beispiel, daß ihnen die Ernsthaftigkeit mangelt und daß etwas fehlt.

Ich glaube, ihre andere Schlußfolgerung ist genauso falsch. Wir haben kein Problem, das so beschrieben werden könnte, als würden Konservative oder Radikale die Organisation übernehmen. Das ist eine Erfindung. Wir sind heute das gleiche, wie wir vorher waren. Wir haben eine Realität. Wir sind für die Lösung des Problems. Wir ziehen eine politische Lösung vor. Wir sind offen für Diskussionen und Dialog. Wir sind dafür, Frieden zu schaffen. Trotz alledem, wenn die andere Seite weiter die Existenz unseres Volkes leugnet und darauf besteht, uns niederzuschlagen, dann sind wir auch zu einer sehr radikalen Antwort in der Lage. Die Systematik unserer Gesichtspunkte entsteht aus unserer Flexibilität. Es ist Zeitverschwendung, darüber zu grübeln, ob nun die Radikalen oder die Softies übernehmen. Alle solche Gesichtspunkte sind unernsthaft, außerhalb jeder politischen Überlegung und Konstruktionen der gegnerischen Abteilungen für psychologische Kriegsführung. Sie sind hervorgerufen von einem gewissen Zentrum und zielen darauf, Konfusion und Mißtrauen zu schüren. Man sollte sich auf solche Stellungnahmen nicht verlassen.

Welche Entwicklungen erwarten sie in Zukunft?

*Karayilan:* Wir haben es seit 1993 wiederholt. Der Führer unserer Partei hat es auch betont. Wir sind für eine politische Lösung, für friedliche und demokratische Lösungen. Wir sind für solche Ziele, solange die andere Seite ebenfalls daran interessiert ist. Wenn jedoch die andere Seite uns auf das härteste angreift, auf Leugnung, Chauvinismus und Liquidation beharrt, werden wir uns natürlich verteidigen. Wir werden die Gewehre behalten und wir wissen sie einzusetzen. Das ist unsere Realität. Dies vorausgesetzt, haben wir weder linke und rechte Fraktionen noch radikale und nicht-radikale. Wir haben eine einheitliche Sichtweise, Linie und Ideologie. Wir haben eine Organisationskultur, die auf diesen ideologischen Grundlagen ruht. Beobachter von außerhalb sehen dies nicht und kommen so zu abseitigen Interpretationen. Natürlich versagen sie so auch darin, zu den richtigen Schlüssen zu kommen. Was nun in Zukunft geschieht, so sollten sie diese Frage der türkischen Seite stellen. Unsere Gesichtspunkte und unsere Praxis sind diesbezüglich klar.

Was ist der Grund für die ständigen Diskussionen über die innere Situation der PKK und ihrer Führung?

*Karayilan:* Ich denke, daß ist eine Methode der spezielle Kriegsführung. Unsere Gegner versuchen immer wieder, uns so darzustellen, als seien wir voller interner Konflikte. In diesem Sinne versuchen sie, auf verschiedene Weise unseren Kampf zu schwächen. Sie wollen vor allem den Ruhm und die Person unserer Führung zerstören. Unsere Führung schuf unseren Kampf auf einer Grundlage, die eine revolutionäre Perspektive für die Menschheit umfaßt. Unsere Kampf ist ein Kampf für alle arbeitenden und unterdrücken Völker. Der Kampf, den wir geführt haben, hat auch eine Gemeinschaft politisch aktiver Frauen geschaffen. Es ist unwahrscheinlich, daß sie sich radikal, in ihrem Denken und in ihrer politischen Linie von uns unterscheiden. Selbst wenn es zu solchen Abwanderungen, Verlusten von unserem Kampf käme, wäre das ein ganz natürlicher Vorgang im Leben. Aber die Hauptrichtung unserer Bewegung ist stets die politische und ideologische Linie der PKK, die Linie unserer Führung. Daß ist der Hauptgrund, warum die sogenannten Beobachtungen oder Schlüsse mancher Kreise so weit entfernt von der Wirklichkeit sind. Der derzeitige Präsidialrat der PKK und sein Zentrales Organ wollen alle Überlegungen und Warnungen unseres Führers, die Umstände, in denen er sich befindet und die Herangehensweise unserer Gegner gegenüber dem Vorsitzenden in ihre Überlegungen einbeziehen und den Kampf dementsprechend entwickeln. Das sind die Taktiken und die Politik, von denen wir sprechen. Das ist das wesentliche, das erkannt werden muß. Wenn das erkannt wird, können widersprüchliche Bewertungen vermieden werden und ein mehr realistisches Verstehen der Wirklichkeit der PKK wird möglich. Wenn die Dinge in diesem Rahmen untersucht werden, würde man sehen, daß die PKK nicht übernacht entstanden ist und auch nicht übernacht verschwinden würde. Die PKK ist die Verdichtung eines jahrhundertealten Strebens der Kurden nach Freiheit, daß schließlich in den 70er Jahren sich manifestierte. Sie ist, wie in einer Nußschale, die Wirklichkeit des kurdischen Volkes. Solange es Kurden gibt, wird es eine PKK geben.

Lassen Sie uns ruhig einmal annehmen, der türkische Staat habe die PKK zerstört. Sie denken, sie können das. Obwohl das sehr schwer ist, lassen sie uns eine Sekunde mal denken, sie hätten das geschafft. Das würde aber nicht notwendig das Ende der PKK bedeuten. Die kommenden Generationen würden andere PKKs schaffen. Die PKK ist eine Tatsache. Sie gehört dem kurdischen Volk und der kurdischen Gesellschaft. Sie ist eine Ideologie und Politik, die vereint ist mit der nationalen, sozialen und kulturellen kurdischen Identität. Sie ist eine Philosophie, die alle Menschen in Kurdistan getrunken haben. ... So ist das. Wir sprechen über eine etablierte Realität mit ihren Normen und Traditionen.

Lassen Sie uns einmal annehmen, der türkische Staat habe die PKK zu einer gewissen Größe in Nordkurdistan spalten, verkleinern können. Das würde nicht bedeuten, daß die PKK am Ende wäre, weil sie keine Bewegung ist, die auf Nordkurdistan begrenzt ist. Die PKK besteht in allen Teilen Kurdistans. Heute wird der Krieg nicht nur im Norden geführt. Selbst wenn der Norden befriedet sein sollte, gibt es noch Süd-Kurdistan (Irak) und Ost-Kurdistan (Iran) und die anderen Teile. Kurz gesagt, jede Untersuchung, die nicht die soziale Realität der Kurden und die PKK als Ganzes einbezieht, muß abstrakt und unzutreffend bleiben. ...

Manche Beobachter sagen, daß einige der Aktionen, die auf dem Land und in den Städten stattfanden, von Leuten außerhalb der Kontrolle der PKK oder von Fraktionen in der PKK ausgeführt wurden. Was sagen sie dazu?

*Karayilan:* Nach dem Urteil von Imrali fühlten sich die Menschen legitimiert, etwas zu tun. Auf dieser Grundlage fühlten sich sowohl das kurdische Volk wie unsere Guerillakräfte berechtigt zu antworten und griffen zu Aktionen. Das Hauptquartier der PKK jedoch warnte diese Menschen und stoppte sie. Die PKK gab eine Erklärung heraus, eine offizielle Direktive an die Öffentlichkeit, diese Aktionen einzustellen. Wir intervenierten auch noch auf verschiedenen anderen Wegen. Hunderte solcher Vorbereitungen und Aktionen wurden so unterbrochen. Im anderen Fall hätte sich der Krieg ausgeweitet. Ich kann offen sagen, wir haben eine große Zahl von "Fedais" (gemeint sind wohl Personen, die auch zu Selbstmordattentaten bereit sind, d. Red.). Wir haben Kräfte für solche Fedai-Aktionen. In einigen Plätzen begannen diese Kräfte sofort ihre Aktionen, wurden dann aber gestoppt. Die Ereignisse in den 13 bis 14 Tagen nach dem Urteil entwickelten sich auf die beschriebene Weise. Wir ich schon sagte, stoppten wir dies durch unsere Direktiven und Erklärungen. Wir haben alle Ressourcen und Institutionen unserer Bewegung mobilisiert, um einen kontrollierten Krieg zu führen.

Wir haben insbesondere betont, daß unsere Kräfte intervenieren und Aktionen gegen Zivilisten stoppen, die Menschen außerhalb unserer Partei womöglich spontan durchführen könnten. Solche Aktionen haben bekanntlich stattgefunden, Diese Aktionen standen im Gegensatz zu unseren Grundsätzen. Das sind Aktionen, die wir niemals, unter keinen Umständen billigen werden. Die türkische Presse hat von weiteren, ähnlichen Aktionen berichtet. Wir haben über diese Aktionen derzeit keine konkreten und klaren Auskünfte. Insbesondere hat die Presse auf ein oder zwei Aktionen hingewiesen im Gebiet von Erzincan-Refahiye, bei denen nach diesen Berichten einige Zivilisten erschossen worden sein sollen. Wir haben noch nicht festgestellt, wer diese Morde begangen hat. Wir untersuchen das jedoch weiter, weil es im Gegensatz zu unseren Grundsätzen und zu unserem Herangehen steht. Wir haben eine allgemeine Linie für unseren Krieg. Wenn, wie berichtet, unbewaffnete Menschen erschossen wurden, dann sind solche Aktionen im Widerspruch zu unserem Verständnis. Keine unserer Institutionen oder ARGK-Einheiten oder Kommandeuren hat solche Befehle erteilt. Die Befehle kamen auch nicht von unserem Zentralkommando. Wir denken, daß die Konzentration auf solche abweichenden Vorgänge zu keinen gesunden Schlüssen führen kann. Solche extremen Vorgänge sind ein Fall für die Presse. Wir billigen keine Vorgehensweise, die im Gegensatz zu unserer Politik steht. Wenn diese Aktionen von unserer Seite ausgingen, werden wir sie verhindern. Wenn sie von irgendwo anders her entstanden oder anderen linken Gruppen, die in der Region aktiv sind, dann werden wir intervenieren, soweit wir können, und weitere Aktionen dieser Art unterbinden. Unsere Kräfte haben in gewissem Ausmaß in allen Gebieten die Hegemonie. Es gibt keine abweichenden Tendenzen oder Politiken. Wie sie feststellen konnten, nachdem die Erklärung des ARGK-Hauptquartiers herausgegeben war, wurden die kontrollierten Aktionen wieder die dominierende Form des Kampfes.

(Übersetzung: Redaktion Kurdistan-Rundbrief)