Stellungnahme des türkischen Menschenrechtsvereins IHD zur Frage der Deportation von  kurdischen Flüchtlingen aus Deutschland in die Türkei

(übersetzt von Antirassistische Initiative Berlin) 

Der türkische Menschenrechtsverein IHD betrachtet das Recht auf Asyl als Teil der Menschenrechte. Der IHD hat sich dem universellen Standard des Rechts auf Asyl verpflichtet. Das bedeutet, daß der IHD sich stets unabhängig von Regierungsentscheidungen und -politik hält (die der Regierunge der Türkischen Republik und anderer Regierungen). Der IHD handelt weder auf der Basis der Politik der türkischen Regierung noch sonstiger Regierungen: Der IHD handelt nicht entsprechend den militärischen, politischen, nationalen oder kommerziellen Interessen irgendeines Landes. Die Aktivitäten des IHD zielen auf die Einhaltung der Menschenrechte in der Türkei und anderswo in der Welt. Der IHD betrachtet alle Menschenrechte als unverzichtbare Werte. 

Der IHD kooperiert in keiner Weise mit der türkischen Regierung oder mit der deutschen Regierung in Bezug auf die Deportation von kurdischen Flüchtlingen (aus Deutschland) in die Türkei. Seit 1994 hat der IHD sämtliche Regierungsangebote zur Kooperation abgelehnt. Die Ablehnungsgründe wurden von Herrn Akin Birdal (Präsident des IHD) und von Herrn Hüsnü Öndül (Generalsekretär des IHD) viele Male genannt. In den Jahren 1994, 1995 und 1996 wurden die deutschen Behörden in mehreren Bundesländern ebenfalls darüber informiert. Die Haltung des IHD hat sich derzeit nicht verändert. 

Für den IHD steht die Deportation von kurdischen Flüchtlinge im Widerspruch zur Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. Der IHD lehnt Deportationen ab. Dies geschieht wegen der Struktur der türkischen Verfassung und ihrer Jurisdiktion, sowie aufgrund der in der Türkei herrschenden Praxis im Umgang mit Rechten und Freiheiten. 

Der IHD ist der Meinung, daß es in der Türkei grundlegende Verstoße in Bezug auf die Einhaltung der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gibt: Art. 2 (Recht auf Leben), Art. 3 (Vermeidung von Folter und sonstiger unmenschlicher Behandlung), Art. 5 ( Recht auf Freiheit und persönliche Unversehrtheit), Art. 6 (Recht auf einen fairen Prozeß). Es ist ebenfalls bekannt, daß es Probleme bei der Einhaltung von Art. 9 und 10 der EMRK gibt, in welchen die Gedankenfreiheit, Freiheit des Gewissens und das Recht auf freie Meinungsäußerung reguliert sind. Der IHD lehnt prinzipiell die Abschiebung jeglicher Personen in Länder ab, in denen diese Rechte nicht garantiert sind. Diejenigen Länder, die ihre Abschiebepraxis in problematische Länder trotzdem weiterführen, verstoßen ebenfalls gegen die Konvention. 

Der IHD veröffentlicht Fälle von Folter und anderen Formen von Mißhandlungen in ihrer monatlichen Berichten. So lange Fälle von Folter in ihren Berichten dokumentiert werden, kann der IHD den Aussagen/ Zusicherungen der Regierung, daß „niemand gefoltert werden wird“, keinen Glauben schenken. Insofern kann der IHD niemandem, der abgeschoben wird, garantieren, daß er nicht gefoltert oder mißhandelt werden. Die Struktur und Praxis des türkischen Rechtssystems haben die Rechte von Gefangenen auf Zugang zu Rechtsanwälten und auf Rechtsbeihilfe eingeschränkt. Bei politischen Gefangenen werden diese Rechte vollkommen ignoriert. Der IHD kann das Risiko nicht eingehen, Fehler zu machen, die Leiden auf Seiten der betroffenen Personen nach sich ziehen könnten und unter den gegenwärtigen Umständen ist dies sehr wahrscheinlich. Im Fall von kurdischen Flüchtlingen, die in die Türkei abgeschoben werden, wird dem IHD nicht erlaubt, bei Verhören anwesend zu sein. Falls der IHD jedoch von einem Deportationsfall erfährt (wenngleich auch nicht durch türkische oder deutsche Behörden), bittet er einen seiner Mitglieder, die Rechtsanwälte sind, um Hilfe. Diese ehrenamtlich arbeitenden Rechtsanwälte fahren dann zum Flughafen und erklären der jeweiligen Behörde den Grund ihrer Anwesenheit. Falls jedoch die zuständigen Beamten am Flughafen erklären, daß ihnen eine Person unter diesen Namen (Name des/der Abgeschobenen) unbekannt ist, können die Rechtsanwälte nichts tun. 

Am 19. Februar 1996 fuhr der Generalsekretär des IHD, Herr Hüsün Öndül zum Esenboga Flughafen in Ankara, nachdem er über den Fall eines abgeschobenen Flüchtlings informiert wurde. Die Beamten erklärten jedoch, daß keine abgeschobene Person im Flugzeug sei. Der Kameramann eines deutschen Fernsehsenders filmte das Gespräch. Der oberste Polizeibeamte am Flughafen erklärte dem Generalsekretär des IHD: "Gott wird denen, die die Türkei schlecht machen, nicht verzeihen. Ich werde ihnen auch nicht verzeihen. Die Person, die sie suchen, war nicht im Flugzeug und ist hier nicht angekommen." Der deutsche Kameramann und ein Journalist türkischer Abstammung, der seit 25 Jahren für diesen Fernsehsender arbeitete, haben die Aussage des Beamten gehört. Es wurde jedoch am nächsten Tag klar, daß die Beamten den IHD Generalsekretär belogen hatten. Denn die abgeschobene Person war einen Tag lang in der Polizeiwache am Flughafen festgehalten, schikaniert und mißhandelt worden. Der IHD wurde später von der abgeschobenen Person selbst über die ihm widerfahrene Behandlung informiert. 

In der Türkei bekommt eine abgeschobene Person, der eine angebliche Straftat aus dem Feld des Staatssicherheitsgerichts vorgeworfen wird, weder Zugang zu einem Rechtsanwalt noch zur Rechtsbeihilfe, selbst wenn der IHD zuverlässige Informationen über deren Ankunft in der Türkei hat. Der IHD kann solchen Personen keinen Rechtsbeistand bieten. Der IHD kann weder Folter noch andere Arten von Mißhandlungen gegen abgeschobene Personen verhindern. Gegenteilige Behauptungen müssen als absurd zurückgewiesen werden. Die, die solches behaupten sind sehr ignorant und wissen nichts über die Praxis der Folter. 

In den letzten 45 Jahren, seit die europäische Menschenrechtskonvention in der Türkei durch ihr Erscheinen in der staatlichen „Official Newspaper“ am 9. März 1954 in Kraft getreten ist, haben türkische Regierungen die Bestimmungen der Konvention nicht angewandt. Türkische Regierungen ignorieren die durch die Europäische Konvention zugesicherten Rechte, an die die Türkei gebunden ist. Schon aus diesem Grunde kann sich der IHD auf dem Gebiet der Menschenrechte nicht auf Versprechungen von türkischen Regierungen verlassen. 

Trotz sehr großer Anstrengungen und aufopfernder Arbeit im Kampf um die Verteidigung der Menschenrechte haben wir nicht viele Fortschritte machen können. Trotzdem glauben wir weiterhin, daß der Kampf für die Verteidigung der Menschenrechte durch die Bestrebungen von Menschenrechtsaktivisten sowohl in der Türkei als auch in anderen Ländern erfolgreich sein wird. Zur Zeit erwarten wir jedoch nicht, daß die türkische Verfassung und das türkische Rechtssystem, daß in der Türkei herrschende repressive und autoritäre System durch demokratische Werte ersetzt wird. Jeder, einschließlich Kurden, kann den Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sein. Es gibt jedoch spezifische Probleme, die die Kurden und die Regionen betreffen, in denen Kurden leben. 

Der Südosten der Türkei, wo Kurden hauptsächlich leben, stand zwischen 1978 bis 1987 unter Militärgesetz, und wird seitdem unter Ausnahmezustand regiert. Eine Kriegsatmosphäre, wenn auch unterschiedlicher Intensität, herrscht seitdem vor. Die Bilanzen sind erschreckend. Über 3 Millionen Menschen sind zwangsdeportiert worden. Militärische Eingriffe haben die Umgebung, das tägliche und das kulturelle Leben verändert. Über 3200 Dörfer und Weiler sind evakuiert worden. Über 30.000 Menschen haben ihr Leben in diesem Krieg verloren. Es gibt mittlerweile 13 Gesetze, die die kurdische Sprache und Kultur verbieten. Namen von Dörfern, Städten, Gebirgen und Tälern sind umbenannt worden. 

Kurden sind innerhalb des oben beschriebenen repressiven und autoritären Systems mit zusätzlichen Problemen konfrontiert und haben weitere Probleme, die mit ihrer Sprache, Kultur und Herkunftsregion zusammenhängen. Anstatt isoliert die Verfolgung und mögliches Unrecht, das eine Einzelperson kurdischer Herkunft widerfahren ist, zu betrachten, müssen wir uns mit der kurdischen Frage, die sich auf alle in der Türkei lebenden Kurden bezieht, beschäftigen. Die Frage geht über Diskussion um Einzelschicksale hinaus. Es geht darum, zu einer bestimmten ethnischen Gruppe zu gehören. Die Frage ist, ob die Rechte und Freiheiten dieser ethnischen Gruppe innerhalb der Landesgrenze gewährleistet worden sind oder werden können. 

Seitdem Abdullah Öcalan in die Türkei verlegt wurde, sind die Sicherheitsmaßnahmen, vor allem in Diyarbakir, verstärkt worden. Das könnte als natürlich angesehen werden. Es sind jedoch über 4000 Menschen verhaftet worden, hauptsächlich weil sie als potentielle Straftäter angesehen wurden. Besucher von HADEP-Büros, sowie Mitglieder und Funktionäre von demokratischen Massenorganisationen wurden willkürlich festgenommen und 10 Tage in Gewahrsam gehalten. Rassistische und chauvinistische Berichte erschienen in den Medien. Dieselben Praktiken werden fortgeführt. Menschenrechtsorganisationen müssen dem massiven Druck unzähliger Beschuldigungen standhalten und werden erneut zur Zielscheibe von Schmutzkampagnen. Neue Ansätze zur Menschenrechts- und Demokratisierungsfrage gibt es seit Öcalans Verlegung in die Türkei nicht mehr. Es finden demnächst Kommunal- und Landeswahlen in der Türkei statt und keine der großen Parteien hat ein zuverlässiges Programm für die Einhaltung der Menschenrechte und die Demokratisierung der Türkei. Daher können wir keine konkreten Verbesserungen in Bezug auf die Menschenrechte und die Freiheit von Kurden oder anderen in der Türkei lebenden Menschen erwarten. Die Tatsache, daß Folter in der Türkei eine weitverbreitete Praxis ist, ist nicht nur von dem türkischen IHD und der TIHV (Türkischen Menschenrechtsstiftung) dokumentiert worden, sondern ebenfalls von der UN Anti-Folter Kommission und dem Europäischen Komitee zur Prävention von Folter. Somit verstößt die Abschiebung einer Person in ein solches Land gegen die EMRK, Art. 3 (Vermeidung von Folter und sonstiger unmenschlicher Behandlung ). Dies verstößt nicht nur gegen juristische Normen. Erinnern wir uns an die Ideale des bekannten deutschen Philosophen, Immanuel Kant, der die Grundlage für die Menschenrechte und ethische Werte entwickelte. Wir sind alle Weltbürger unter einem gemeinsamen Himmel. Unsere gemeinsamen ethischen Werte sollten uns den Weg weisen. 

Es muß immer wieder betont werden, daß das Recht auf Asyl ein Menschenrecht ist. Menschen, die um politisches Asyl ersuchen dürfen nicht abgeschoben werden. Ohne eine Verbesserung der Menschenrechtssituation und des demokratischen Standards in ihrer Heimat bleibt die Abschiebung von Flüchtlingen -jene mit einbegriffen, die wegen Verfolgung aufgrund ihrer Rasse, Religion oder ihrer ethnischen Identität um Asyl bitten- grundsätzlich im Widerspruch zu den Gesetzen für die Einhaltung der Menschenrechte. Diejenigen, die das Leben von politischen Flüchtlingen aufs Spiel setzen, indem sie sie abschieben, sollten für jeglichen Schaden, der aus ihrer Entscheidung resultiert, zur Verantwortung gezogen werden. 

Hüsnü Öndül, GeneralSekretär 15. März 1999