DER STANDARD (A), 1.7.99

"Ankaras Absage an die Todesstrafe ist bindend"
Richterspruch gegen PKK-Chef Abdullah Öcalan spaltet die türkische Nation

"Ankaras Absage an die Todesstrafe ist bindend" Der Großteil der Türken will PKK-Chef Abdullah Öcalan tatsächlich hängen sehen - unter den Meinungsmachern in der Türkei jedoch hat nach dem Richterspruch vom Dienstag eine Diskussion über die Folgen einer Exekution eingesetzt, berichtet Standard-Korrespondentin Astrid Frefel aus Mudanya.

"Idam" - Todesstrafe - prangte am Mittwoch in riesigen Lettern auf fast allen Frontseiten der türkischen Tageszeitungen. Dazu ein Foto aus dem Gerichtssaal auf der Gefängnisinsel Imrali mit dem verurteilten Kurdenführer Abdullah Öcalan, der von manchen Blättern immer schon als "Babykiller" bezeichnet wurde. Jetzt können sie darauf hinweisen, daß diese Anschuldigung im Gerichtsurteil vom Dienstag ausdrücklich bestätigt wurde. Eine der wenigen Ausnahmen ist die linke, kurdennahe Özgür Bakis, die auf ihrer Titelseite vor einer Wiederholung von historischen Fehlern warnt.

Neben den ausführlichen Bildberichten über die Freude und Zufriedenheit der Familien der Märtyrer sind die Zeitungen voll mit Kommentaren, Analysen und Spekulationen über die Kernfrage: Soll Apo hängen oder nicht? Die Stimmung in der Bevölkerung scheint im Moment eindeutig für eine Vollstreckung zu sprechen.

"Apo durchfüttern"

Am Tag nach dem Richterspruch drehen sich im Hafenort Mudanya, von dem das Schiff zur Insel Imrali im Marmarameer abfährt, alle Diskussionen um dieses Thema. Unwillig wird zur Kenntnis genommen, daß eine Türkei, die Apo hängt, in Europa nichts zu suchen hat. "Das heißt, wir müssen ihn auch noch durchfüttern", empört sich der Hotelkellner.

Sind alle Rechtsmittel ausgeschöpft, wird es an den Politikern liegen, den Schuldspruch noch zu bestätigen. "Kein Politiker kann es sich leisten, gegen eine Vollstreckung des Urteils zu sprechen, sonst verliert er die nächsten Wahlen", sagt Mükrettin Türkmen, einer der Anwälte der Märtyrerfamilien, im Gespräch.

Ecevit dagegen

Tatsächlich haben sich die meisten Parteichefs bereits dafür ausgesprochen, im Parlament für eine Exekution zu stimmen. Einziger gewichtiger Gegner der Todesstrafe ist Premier Bülent Ecevit und seine Demokratische Linke. Aufhorchen ließ aber auch eine Bemerkung von Staatspräsident Süleyman Demirel, der dem Militär nahesteht. Er mahnte zur Besonnenheit.

In den vergangenen Tagen haben immer mehr türkische Kolumnisten die Frage gestellt, ob es sich die Türkei leisten kann, Apo zu hängen. Die meisten Kommentare endeten allerdings nicht mit einer klaren Stellungnahme, sondern mit der Mahnung, daß dieser Entscheid die Zukunft des Landes maßgeblich beeinflussen werde.

Ismet Berkan in der liberalen Radikal beispielsweise zählte fünf Gründe für und ebenso viele Gründe dagegen auf. Zahlreicher geworden sind die Stimmen, die klar zum Ausdruck bringen, daß das eigentliche Problem nicht Apo ist, sondern die Vogel-Strauß-Politik der Regierung, die die Kurdenfrage nicht ernsthaft angehen will.

Gegen eine Vollstreckung sprechen in erster Linie außenpolitische Erwägungen. Apos Tod würde die Türkei für lange Jahre von einer weiteren europäischen Integration ausschließen. "Davon, ob es zu einer Vollstreckung kommt oder nicht, werden maßgeblich unsere Beziehungen zu Amerika und zu Europa abhängen", ist auch Türkmen überzeugt.

Die schwerwiegendsten Einwände gegen eine Exekution Öcalans machen Juristen geltend, und sogar Richter Turgut Okyay, der das Todesurteil gesprochen hat, erklärte, er persönlich sei gegen die Todesstrafe. Ein Todesurteil zu fällen sei nicht leicht. Da diese Strafe aber in den Gesetzen vorgesehen sei, müsse er als Richter nach dem Buchstaben handeln.

Bakir Caglar, der selbst mehrere Jahre am Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg als Richter amtierte, weist darauf hin, daß die Türkei für die Todesstrafe faktisch ein Moratorium ausgesprochen habe. 1994 hatte ein türkisches Gericht den Straßburger Richtern schriftlich versichert, in der Türkei würde niemand mehr exekutiert. Damals verlangte ein zum Tode verurteilter Türke Schadenersatz, weil unter dieser Todesdrohung zu leben Folter sei.

Auch im Auslieferungsgesuch, das die türkischen Behörden nach dem Auftauchen Öcalans an Rom, an die italienische Justiz, richteten, ist eine Beteuerung enthalten, daß die Todesstrafe in der Türkei nicht mehr angewendet werde. Caglar ist der Meinung, diese internationalen Versprechen seien bindend für die türkische Regierung.

Auch Öcalan selbst glaubt, die Wahrscheinlichkeit sei gering, daß er exekutiert werde. Diese Äußerung machte er nach dem Urteilsspruch auf Imrali gegenüber seinen Anwälten. Bis die letzte Instanz, das Straßburger Gericht, entschieden hat, wird auf alle Fälle noch viel Zeit verstreichen. Vor dem türkischen Parlament liegen derzeit bereits 36 andere Dossiers mit 47 Todesurteilen. Seit 1984 ist aber keine Exekution mehr vorgenommen worden. Am 25. Oktober 1984 war Hidir Aslan, ein Mitglied der verbotenen, linken Dev-Sol, der letzte Verurteilte, der in Izmir durch den Strang hingerichtet wurde.

Hamburger Abendblatt, 1.7.99

Ankara in der Zwickmühle zwischen Anti-Öcalan-Gefühlen und wiedererwachten Europa-Ambitionen

Von FRANK HERRMANN Istanbul - Den 18. November dieses Jahres haben türkische Politiker in ihren Kalendern rot angestrichen. An diesem Tag soll in Istanbul ein Gipfel der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beginnen. Mit der Konferenz will die Türkei wieder salonfähig werden und dem Beitritt in die EU einen Schritt näher kommen. Bis dahin, glauben Beobachter am Bosporus, wird der Fall Öcalan in der Schwebe hängen. Eine Hinrichtung des Rebellenführers würde monatelange diplomatische Kleinarbeit mit einem Schlag zunichte machen. Diese Aussicht bringt die Regierung in Ankara in die Zwickmühle. Ministerpräsident Bülent Ecevit versucht einen Balanceakt. Einerseits muß er den Emotionen der eigenen Öffentlichkeit Rechnung tragen, andererseits will er nicht auf Kollisionskurs gegen Europa gehen. Das Ergebnis: Ecevit hält sich völlig bedeckt. Im Fall Öcalan habe die Justiz das Sagen, gibt der Premier jedesmal zu Protokoll. Selbst Vizepremier Devlet Bahceli, als Führer der Rechtsnationalisten Verfechter eines harten Kurses gegenüber den Kurden, bleibt vage: "Das Gewissen der Nation ist erleichtert. Der Prozeß geht aber weiter." Die dürren Erklärungen sprechen Bände. Anders als befürchtet, hat sich das neue Kabinett nach dem Rechtsruck bei der Parlamentswahl im April nicht von Europa abgewandt. Eher scheint es den "Schock von Luxemburg" allmählich zu verdauen. Auf dem Luxemburger EU-Gipfel 1997 war die Türkei als Beitrittskandidat vorläufig ausgeschlossen worden. Ankara zog sich in den Schmollwinkel zurück. Doch kurz vor dem Öcalan-Urteil sprach Außenminister Ismail Cem von einem Klimawechsel. Die Stimmung in der EU sei türkeifreundlicher geworden. Deutschland setze sich wieder für türkische Interessen ein. Ganz oben auf der Prioritätenliste steht allerdings das Verhältnis zu Nachbarn wie Griechenland, Iran und Syrien. Ankara will sie zwingen, jede Unterstützung für die PKK einzustellen. Die neuste Idee ist ein Anti-Terror-Pakt mit Athen. Ende Mai schlug Cem seinem griechischen Amtskollegen Georgios Papandreou ein solches Abkommen vor. Der Adressat antwortete jetzt und schlug vor, auch in Bereichen wie Tourismus, Kultur und Umweltschutz sowie beim kampf gegen Menschenschmuggler und Mafiabosse zusammenzuarbeiten. Ob das Tauwetter zwischen den früheren Erzfeinden nur eine Episode ist, wird sich am 20. Juli auf Zypern erweisen. Dann gedenkt die geteilte Insel des 25. Jahrestages der türkischen Invasion.