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Frankfurter Rundschau 1.7.99

Öcalan-Anwälte wollen schnell nach Straßburg
Berufungsverhandlung in Türkei soll nicht abgewartet werden / Zwölf Tote bei neuen Kämpfen im Kurdengebiet

Die Anwälte des zum Tode verurteilten PKK-Chefs Abdullah Öcalan wollen bereits in den kommenden Tagen beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg Beschwerde gegen das Urteil einreichen. Aus der Türkei wurden keine Ausschreitungen gemeldet; dagegen gab es in Deutschland mehrere Brandanschläge. Bei Gefechten im kurdisch besiedelten Südosten der Türkei kamen zwölf PKK-Kämpfer ums Leben.

ISTANBUL/FRANKFURT A. M., 30. Juni (öhl/rtr/afp/ap). Öcalan-Anwalt Kemal Bilgic kündigte am Mittwoch an, nicht erst die anstehende Berufungsverhandlung vor einem türkischen Gericht abzuwarten, sondern wegen der akuten Gefahr für das Leben seines Mandanten sofort nach Straßburg zu ziehen. Die Verteidiger des PKK-Chefs wiesen in diesem Zusammenhang auf "Unrechtmäßigkeiten" des Verfahrens auf der Gefängnisinsel Imrali hin. So hätte der Prozeß gegen Öcalan in Diyarbakir im türkischen Kurdengebiet stattfinden müssen; auch hätten die Sicherheitsmaßnahmen für das Verfahren auf Imrali in der Zuständigkeit eines Krisenstabes in Ankara gelegen, der eigentlich zur Koordination von Hilfsmaßnahmen bei Naturkatastrophen ins Leben gerufen worden sei.

Das Urteil vom Dienstag ist nur eine Station in einem Verfahren, das sich noch über Jahre hinziehen könnte. Zunächst einmal kommt der Fall nun vor ein Berufungsgericht. Das geschieht automatisch mit allen Todesurteilen. Eine Entscheidung wird frühestens im September erwartet. Verwirft das Appellationsgericht das erstinstanzliche Urteil, muß der Prozeß neu aufgerollt werden. Bestätigt es den Richterspruch von Imrali, würde der Fall an den Justizausschuß des Parlaments weitergeleitet. Der müßte eine Beschlußvorlage ausarbeiten, mit der dem Parlament entweder die Vollstreckung der Todesstrafe oder ihre Umwandlung in lebenslange Haft vorgeschlagen wird. Seit 1984 hat der Justizausschuß aber keines der ihm vorgelegten Todesurteile auch nur aufgegriffen. Sie kamen damit gar nicht erst zur Abstimmung ins Plenum.

Die Akten von 47 Todeskandidaten verstauben teils seit 15 Jahren in den Parlamentsarchiven. Würde der Ausschuß jetzt nur den Fall Öcalan herausgreifen, die bereits seit Jahren anhängigen 47 anderen Verfahren jedoch weiterhin auf sich beruhen lassen, würde das den Verdacht bestätigen, daß mit zweierlei Maß gemessen wird. Eine Welle von Exekutionen würde andererseits scharfe Proteste des Auslands provozieren.

In mehreren deutschen Städten wurden in der Nacht zum Mittwoch Brandanschläge auf türkische Einrichtungen verübt. Die meisten Anschläge gingen laut Polizei vergleichsweise glimpflich aus, allerdings wurden in Stuttgart eine Person verletzt und in Sindelfingen Besucher einer türkischen Einrichtung verprügelt. In Bremen wurden zwei Tatverdächtige festgenommen.

Bei neuen Gefechten im kurdisch besiedelten Südosten der Türkei kamen unterdessen zwölf PKK-Kämpfer ums Leben. Wie die halbamtliche türkische Nachrichtenagentur Anatolia berichtete, wurden die PKK-Mitglieder in der Provinz Hakkari getötet. Am Dienstag abend griff eine PKK-Einheit außerdem ein Gebäude in der Provinz Sirnak mit einer Rakete an, die ihr Ziel jedoch verfehlte.

Die türkische Presse feierte am Mittwoch den Urteilsspruch gegen Öcalan. Geteilte Meinungen gab es aber hinsichtlich der Frage, ob das Todesurteil auch vollstreckt werden sollte. Tourismusminister Erkan Mumcu zeigte sich zuversichtlich, daß sich das Urteil nicht negativ auf den Fremdenverkehr auswirken werde.