Berliner Zeitung, 30.6.99

"Wenn sie ihn hängen, explodiert der kurdische Kessel"

von Frank Herrmann 
ISTANBUL, 29. Juni. Das ist der Augenblick, auf den seit Februar alle gewartet haben. Im streng bewachten Gerichtssaal von Imrali stimmen Soldatenmütter das "Fürchte dich nicht" an, die türkische Nationalhymne. Im Hafen Mudanya schwenken Kriegsveteranen rot-weiße Halbmondflaggen. In Istanbul hat sich der Dauerstau aufgelöst, weil selbst die Taxifahrer vor den Fernsehern sitzen.

Soeben hat Richter Turgut Okyay das Urteil gesprochen. "... haben wir einstimmig entschieden, ihn zum Tode zu verurteilen nach Artikel 125 des Strafgesetzbuches. Der Angeklagte hat die bewaffnete terroristische Organisation PKK gegründet und Aktionen befohlen, die Tausende unschuldige Opfer forderten und niemanden verschonten - weder Säuglinge noch Kinder, Frauen, Greise oder Zivilisten." Öcalan habe einen Teil des Staatsgebiets abtrennen und einen "sogenannten Kurdenstaat" gründen wollen. Darauf stehe wegen Hochverrats die Todesstrafe. Es gebe keinen Grund, mildernde Umstände bei erwiesener Reue anzuwenden und auf lebenslange Haft zu entscheiden.

Abdullah Öcalan nimmt den Richterspruch mit versteinerter Miene entgegen. Die Arme hat er hinter dem Rücken verschränkt. Eine halbe Stunde zuvor hat er ein letztes Mal versucht, Okyay und dessen Kollegen milde zu stimmen: "Ich hoffe, daß das Problem, das historische Gründe hat, gelöst werden kann. Ich will dem Gericht dabei helfen."

Als Turgut Okyay das Urteil verkündet, erfüllen Schreie der Genugtuung den Märtyrerfriedhof von Istanbul, auf dem die Soldaten des Kurdenkrieges begraben sind. Mütter kauern weinend an den Gräbern ihrer Söhne. Andere halten Fotos der Toten in den Händen. "Blut für Blut. Das ist unsere Rache", ruft Nese Kolay, deren Ältester vor vier Jahren in den Bergen bei Hakkari ums Leben kam. "Dieser Verbrecher muß hängen. Er hat nichts anderes verdient."

"Wir hatten kein anderes Urteil erwartet", sagt die Kurdin Müseyer, die vor kurzem die Initiative "Mütter für den Frieden" gründete. "Aber wenn sie ihn tatsächlich hinrichten, dann gehe ich sogar selbst zur Guerilla." Das klingt martialisch, aber die Frau aus dem südostanatolischen Bitlis meint es ernst. Einen Sohn hat sie im Krieg verloren. Bis 1990 studierte er Geschichte in Istanbul. Dann ging er zur PKK. Drei Jahre später erhielt Müseyer die Nachricht, er sei tot. Der Zweitälteste dient gerade beim Militär, der Dritte ist bei den Rebellen. Es könnte sein, daß sie eines Tages aufeinander schießen. Aber das ist ein Gedanke, den Müseyer lieber verdrängt. Während des Prozesses versuchte sie, Kontakte zu Müttern gefallener Soldaten zu knüpfen. Eine einzige kam, als sie zu einer Gesprächsrunde lud. "Doch das ist vielleicht schon ein Anfang", sagt die Bäuerin. "Vielleicht verstehen sie es langsam. Auch in kurdischen Adern fließt Blut und kein Wasser. Auch ich fühle einen furchtbaren Schmerz."

"Das Urteil bedeutet noch nicht das Ende", prophezeit die Rechtsanwältin Hatice Korkut, die mit ihren Kollegen in Revision gehen wird. "Aber wenn sie Apo hängen", fügt Korkut hinzu, "dann explodiert der kurdische Kessel. Da ist so viel Druck drin, das kann man nicht stoppen." Für die meisten Kurden sei Öcalan kein Bandit, sondern ein nationales Symbol. Er habe auf Imrali die Hand zur Versöhnung ausgestreckt. Wenn er trotzdem am Strang sterbe, bleibe den Kurden nur Wut und Verzweiflung.

Aber Öcalans Advokaten-Team scheint nicht an das Äußerste zu glauben. Vielmehr beobachtet es einen leichten Stimmungsumschwung in der türkischen Öffentlichkeit. Die nationalistische, oft kurdenfeindliche Gefühlsaufwallung unmittelbar nach der Festnahme des Rebellenführers ist Nachdenklichkeit gewichen. In den Buchläden der Istiklal Caddesi, der weltoffenen Bummelmeile Istanbuls, gibt es inzwischen sogar Öcalans Verteidigungsrede zu kaufen. Ein schmales Büchlein in blauem Einband, ohne Vorwort, ohne Polemik eines Zensors. Vor ein paar Monaten wäre das undenkbar gewesen.

Auch die kurdische Aktivistin Müseyer, die aus Angst ihren Familiennamen nicht nennt, berichtet von ersten Anzeichen eines Umdenkens in den Medien. In den vergangenen Wochen hat sie allen großen Fernsehsendern und Zeitungen angeboten, über die Kehrseite des Kurdenkonflikts und über die Leiden der Rebellenfamilien zu berichten. Viele Redakteure lehnten ab. "Aber die meisten sagten uns: Ja, das ist ein wichtiges Thema. Darüber muß man schreiben. Im Moment können wir es nur leider nicht bringen", erzählt Müseyer. Für Aufsehen sorgte das Magazin "Aktüel", das einen langen Bericht über die Familien gefallener PKK-Kämpfer veröffentlichte. Selbst mit Rahsan Ecevit, der einflußreichen Frau von Premier Bülent Ecevit, hat Müseyer am Telefon gesprochen.

Auch die Leitartikler kommentieren in den letzten Tagen das Verfahren weitaus sachlicher als zuvor. So schreibt Hasan Cemal in der "Milliyet", er sei allein aus nationalem Interesse gegen den Strang. "Der Schmerz in unseren Herzen wird bleiben. Aber wenn wir den Frieden planen, sollten wir dann nicht mit dem Verstand statt nach dem Gefühl handeln?" "Laßt uns den Terror beenden, auch die Kurden sind unsere Kinder", mahnt das Massenblatt "Sabah".

Die Anwältin Hatice Korkut bleibt dennoch vorsichtig. "Es gibt Signale, die hoffen lassen. Aber konkrete Taten sehe ich noch nicht."

INSTANZEN

Das Urteil des Staatssicherheitsgerichts ist der erste Teil des juristischen Verfahrens gegen Öcalan. Nun wird der Fall dem Berufungsgerichtshof in Ankara vorgelegt. Öcalans Anwälte wollen dort eine Neuverhandlung durchsetzen. Wenn die Berufungsinstanz dem Antrag folgt, wird der Prozeß neu aufgerollt. Bestätigen die Richter das Todesurteil, müssen Parlament und Staatspräsident der Hinrichtung ausdrücklich zustimmen.

Die Beratungen im Parlament in Ankara können sich lange hinziehen. Votieren am Ende die Abgeordneten mehrheitlich für den Tod Öcalans, sind alle Möglichkeiten in der Türkei ausgeschöpft. Ein Gnadenerlaß des Staatspräsidenten käme nur aufgrund des hohen Alters oder wegen einer unheilbaren Krankheit des Verurteilten in Frage.

Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg ist die letzte Instanz, die eine Vollstreckung des Urteils verhindern könnte. Seine Urteile sind für Ankara bindend. Öcalans Anwälte wollen sich an Straßburg wenden, das aber eine Grundsatzentscheidung erst fällen kann, wenn alle Rechtswege in der Türkei ausgeschöpft sind.