Frankfurter Rundschau 30.6.99

Kommentar
Gnade für Öcalan
Mit der Hinrichtung des PKK-Chefs kann die Türkei dem Kurdenproblem nicht beikommen 

Von Gerd Höhler 
Der Prozeß gegen den PKK-Chef Abdullah Öcalan ist so zu Ende gegangen, wie man erwarten mußte: mit dem Todesurteil. Der Beobachter des Europarats nannte es ein "faires Verfahren", aber das war es nicht. Öcalan hatte erst spät und dann nur sporadisch Kontakt zu seinen Anwälten, nie ohne Aufsicht martialisch maskierter Bewacher. Unter solchen Bedingungen war eine ordentliche Verteidigung nicht möglich. Öcalans Entführung aus Kenia war rechtswidrig, und wie er von seinen Häschern vor den Kameras erniedrigt wurde, entsprach nicht dem Gebot der Humanität, die ein zivilisierter Staat selbst seinen ärgsten Feinden schuldet. Auch an dem Klima der Vorverurteilung, das sich in den türkischen Medien und, schlimmer noch, mit Duldung der Richter im Gerichtssaal ausbreitete, muß man Anstoß nehmen. So gesehen, gäbe es gewiß Gründe, das Urteil in der Revisionsinstanz zu kassieren. Wahrscheinlich aber ist das nicht. Letztlich werden die türkischen Politiker das Wort haben. Parlament und Staatspräsident müssen entscheiden, ob das Todesurteil vollstreckt werden soll. An Öcalans Händen klebt viel Blut. Tausende Regierungssoldaten und PKK-Rebellen starben, seit er 1984 die bewaffnete Revolte ausrief. Auch kurdische Zivilisten ließ Öcalan umbringen, ihre Dörfer niederbrennen, wenn sie seiner Guerilla die Unterstützung verweigerten. Dissidenten, die gegen seinen despotischen Führungsanspruch aufbegehrten, wurden liquidiert. Öcalan, seit 1979 im komfortablen syrischen Exil, mag nie selbst abgedrückt haben, aber daß er sich nun als Vorkämpfer des Friedens brüstet, als ein Rebell wider Willen, wirkt wenig glaubwürdig. Die große Mehrheit der Türken will seine Hinrichtung. Dem öffentlichen Druck glauben sich auch viele Politiker nicht entziehen zu können. Der Staat, so die vorherrschende Meinung, müsse nun Stärke zeigen. In diese Richtung gehen auch jüngste Anregungen hoher Militärs. In der Türkei hat man gelernt, auf sie zu hören. Aber kann es nicht auch einer richtig verstandenen Staatsräson entsprechen, Gnade walten zu lassen? Abgesehen von allen grundsätzlichen Argumenten gegen die Todesstrafe, gibt es im Fall Öcalan zusätzliche gute Gründe, auf eine Vollstreckung zu verzichten. Jenen "totalen Krieg", den die PKK für den Fall einer Hinrichtung ihres Führers androht, wird sie sicher nicht entfachen können. Aber die Fanatisierung der PKK-Anhänger und das daraus resultierende Terrorpotential sind nicht zu unterschätzen. Die nach Öcalans Verschleppung in ganz Europa inszenierten Gewaltaktionen, die Selbstverbrennungen und die Selbstmordattentate waren nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was nach seiner Hinrichtung drohen könnte. Eine Exekution des PKK-Chefs würde überdies das Verhältnis der Türkei zu Europa auf lange Zeit schwer belasten. Wer all das abwägt, zeigt nicht Schwäche, sondern Besonnenheit. Vor allem aber sollten die türkischen Politiker bedenken, ob sich mit einer Begnadigung Öcalans nicht doch noch die Tür zu einer Lösung der Kurdenfrage öffnen läßt. Daß es in der Türkei offiziell "kein Kurdenproblem gibt, sondern nur ein Terrorismusproblem", kann man getrost vergessen. An diese Beschwörungsformel glauben nicht einmal mehr jene, die sie immer wieder gebetsmühlenartig vortragen. Ob Abdullah Öcalan noch über die Autorität verfügt, die PKK-Rebellen zur Aufgabe ihres bewaffneten Kampfs zu bewegen, wie er selbst anbietet, ist fraglich. Aber selbst wenn es ein Strohhalm ist, nach dem man greift: Nichts darf unversucht bleiben, diesen Krieg, der 30 000 Menschen das Leben kostete, die Kurdenprovinzen verwüstete, die türkischen Staatsfinanzen ruinierte und die Türkei Europa entfremdet hat, zu beenden. Allerdings: Selbst wenn die PKK kapitulierte, wäre damit das Kurdenproblem nicht gelöst. Es überschattet die Geschichte der türkischen Republik seit deren Gründung. Der Konflikt ist angelegt im Konzept des Nationalstaats, den Mustafa Kemal 1923 auf den Ruinen des Osmanenreichs proklamierte. Das war ein Vielvölkerstaat; die neue Republik hingegen kannte nur noch stolze Türken. Die Methoden, mit denen man die Kurden zu "türkisieren" versuchte, waren in den 76 Jahren seither immer dieselben: Sprachverbote, kulturelle Entmündigung, die gezielte wirtschaftliche Vernachlässigung der Kurdenregion, Zwangsumsiedlungen und, wann immer sich Widerstand gegen die Assimilierung regte, Bajonette, brennende Dörfer und Galgen. Die PKK ist ein Produkt der türkischen Kurdenpolitik. Das entbindet Öcalan nicht von seiner Verantwortung für den Tod Tausender Menschen. Aber es sollte zu der Einsicht führen, daß mit seiner Hinrichtung dem Kurdenproblem nicht beizukommen ist.