Berliner Zeitung, 30.6.99

EUROPARAT

Der Türkei droht nun der Ausschluß

von Sigrid Averesch
BERLIN, 29. Juni. Der Leiter der deutschen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, Wolfgang Behrendt, warnt die türkische Regierung vor einer Vollstreckung des Todesurteils gegen Abdullah Öcalan. "Das würde bedeuten, daß wir die Suspendierung der Mitgliedschaft der Türkei im Europarat vornehmen müßten", sagte der SPD-Politiker der "Berliner Zeitung". Dann sei auch ein Beitritt der Türkei in die Europäische Union (EU) "ausgeschlossen". Der Europarat gilt für alle Beitrittsländer als Tor zur EU.

Behrendt zeigte sich enttäuscht über das Urteil. "Das Gericht hat eine Chance vergeben", sagte er. Es habe "nicht deutlich gemacht, daß es die Verpflichtungen respektiert, die die Türkei im Europarat eingegangen ist". Er hoffe aber, daß das Parlament in Ankara "politische Reife zeigt und einer Vollstreckung nicht zustimmt". Würde die Todesstrafe nicht vollstreckt und die Türkei sich um eine politische Lösung bemühen, wäre dies nach Einschätzung Behrendts "das richtige Signal auch für eine Mitgliedschaft der Türkei in die EU". Dann solle der Europarat ein Gespräch zwischen Vertretern der türkischen Regierung und der Kurden initiieren, um das Problem zu lösen.

Behrendt nannte mehrere Voraussetzungen für eine Aufnahme der Türkei in die EU. So müsse die Regierung anerkennen, "daß die kurdische Minderheit Rechte nach der Minderheitenkonvention des Europarats erhält, etwa die Wahrung der kulturellen Identität". Er forderte auch die Aufhebung des Ausnahmezustands in den südöstlichen Provinzen der Türkei.

Behrendt verwies darauf, daß der Europarat ein Überprüfungsverfahren gegen die Türkei in Gang gesetzt und Kritik an der Verletzung von Menschenrechten, an der Folter in Gefängnissen und der Einschränkung der Meinungsfreiheit geübt habe. Er betonte, daß es Anhaltspunkte gebe, daß die türkische Regierung zu Änderungen bereit sei. Als wichtiges Signal nannte Behrendt den Austausch des Militärrichters durch einen Zivilrichter im Öcalan-Prozeß. "In der Regierung Ecevit ist ein Umdenkungsprozeß erkennbar", sagte der Politiker.

Er räumte "Versäumnisse" der europäischen Staaten und ihrer Institutionen bei der Lösung des Kurdenproblems ein. In den vergangenen Jahren "ist ab zu ein Auge zugedrückt worden", da wirtschaftliche und militärstrategische Interessen in den Beziehungen zum Nato-Partner Türkei im Vordergrund gestanden hätten. "Vor allem die amerikanische Seite hat starken Einfluß genommen", sagte Behrendt. Der Europarat dürfe aber nicht mit zweierlei Maß messen. "Für Altmitglieder wie die Türkei muß das gleiche gelten wie für Neumitglieder." Er führte dabei die Ukraine an. Ihr droht der Ausschluß, falls sie keine rechtsstaatlichen Reformen in Gang setzt.