DIE WELT, 21. 06. 1999

Ankara reformiert umstrittene Sondergerichte
Offizier wird aus dem Richtergremium verbannt = Bessere Chancen für PKK-Chef Abdullah Öcalan?

Von Dietrich Alexander

Berlin/Ankara = Es ging alles ungewöhnlich schnell. Das türkische Parlament beschloß eine Verfassungsänderung zur Reform der umstrittenen Staatssicherheitsgerichte, die auch für den Prozeß gegen den Chef der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, zuständig sind. Mit 423 Stimmen nahm die Volksvertretung den Gesetzentwurf der Koalitionsregierung von Ministerpräsident Bülent Ecevit an = 56 Stimmen mehr als für die erforderliche Zweidrittelmehrheit.

Seit dem Militärputsch von 1980 gibt es die Staatssicherheitsgerichte in der Türkei. Der Umstand, daß diesen Gerichten neben zwei zivilen auch ein Militärrichter zugeteilt ist, rief die Kritik diverser Menschenrechtsvereinigungen und auch des Europarats hervor, in dem die Türkei Mitglied ist.

Nun also die Reform, die vorsieht, den Militärrichter gegen einen zivilen Juristen auszutauschen. Ohne Zweifel ist diese Entscheidung im Zusammenhang mit dem Prozeß gegen Öcalan zu sehen, der seit Ende Mai wegen Hochverrats vor einem Staatssicherheitsgericht steht. An den bisher sechs Verhandlungstagen nahm vorsorglich bereits ein ziviler Ersatzrichter teil, der nun wohl den Platz des Militärrichters einnehmen wird. Da er die Verhandlung von Anfang an verfolgt hat, kann der Prozeß wie geplant am Mittwoch mit den Plädoyers der Verteidigung fortgesetzt werden.

Zweifellos wollen die Türken mit der Verfassungsänderung europäische Bedenken an der Rechtsstaatlichkeit dieses Prozesses zerstreuen: Ankara will sich keine formalrechtliche Blöße geben. Die unabhängige türkische Menschenrechtsvereinigung in Ankara bezeichnete die Gesetzesänderung jedoch als "politisches Manöver". Die Verfassungsänderung sei Kosmetik.

Möglicherweise sind mit der Verfassungsänderung Öcalans Chancen gestiegen, dem Galgen zu entkommen. Am Ende des Prozesses wird = daran besteht kaum ein Zweifel = der Vorsitzende Richter mit theatralischer Geste seinen Bleistift zerbrechen: schuldig, Todesstrafe. Sollte das Berufungsgericht Öcalans Einspruch ablehnen, wird der Fall an das Parlament weitergereicht. Bestätigen die Abgeordneten das Todesurteil, kann nur noch Staatspräsident Suleyman Demirel den PKK-Führer vor einer Hinrichtung retten. Demirel ist ein Gegner der Todesstrafe. Doch stimmt auch er zu, wäre Öcalan der erste Mensch, der seit 1984 in der Türkei hingerichtet wird. Europaweite Proteste und Ausschreitungen wären dann höchst wahrscheinlich. Am Wochenende demonstrierten 10 000 Kurden in deutschen Städten für die Freilassung Öcalans = bisher friedlich.

Für Ecevit wird der Fall zu einer innen- wie außenpolitischen Bewährungsprobe. Das Volk will Öcalans Tod. Und Ecevits Koalitionspartner, die Nationalisten der MHP, haben sich die Hinrichtung des Kurden schon im Wahlkampf auf ihre Fahnen geschrieben. Andererseits ist Ecevits Demokratische Linkspartei gegen die Todesstrafe.

Aber auch die Türkei steht auf dem Prüfstand. Mit der formaljuristischen Umbesetzung der Sondergerichte ist Rechtsstaatlichkeit nach europäischem Verständnis noch nicht erreicht. Ecevit kann seine Koalition, wie bei der Verfassungsreform, auf die Ablehnung einer Hinrichtung einschwören, wenn er es denn will. Denn in der Regierung kontrollieren die Nationalisten der MHP die Fleischtöpfe der Republik: Planungsbehörde, Investitionsamt und Finanzministerium. Es ist kaum anzunehmen, daß die MHP sich in der Öcalan-Frage einer Koalitionslinie widersetzt und damit ihre Pfründe riskiert.