Neue Zürcher Zeitung 08.06.1999

Vertiefte Gräben zwischen Türken und Kurden
Eindrücke vom Prozess gegen Abdullah Öcalan auf Imrali

 Seit seiner Festnahme plädiert der Kurdenführer Abdullah Öcalan für einen Frieden zwischen den Türken und den Kurden der Türkei. Der laufende Prozess gegen den Staatsfeind Nummer eins in der Türkei auf der Insel Imrali dient nicht der Versöhnung. Er hat vielmehr den Graben, der die beiden Bevölkerungsteile voneinander trennt, noch vertieft.

it. Imrali, 7. Juni
 «Was um Gottes willen haben wir euch denn getan?» Diese Frage hat im Prozess gegen den Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, die Zeugin Yildiz Namdar so eindringlich gestellt, als wollte sie die Begründung für den Mord an ihrem Ehemann gleich von dem neben ihr in einem kugelsicheren Glaskasten eingesperrten Kurdenchef persönlich hören. Der Unteroffizier Murat Namdar war erst 23 Jahre alt, als er im September 1995 zusammen mit seiner jungen Frau und ihrem Baby auf dem Weg zu seiner Mutter von Kämpfern der PKK aus dem Auto gezerrt und mit einem Kopfschuss getötet wurde. Murat habe in der Kaserne doch nie einen Unterschied zwischen Türken und Kurden gemacht, sagte die Witwe Namdar. Er habe auch den kurdischen Soldaten Geld gegeben, wenn diese ihre Familien hätten besuchen wollen. «Was ist also der Grund für so viel Hass», sagte die Zeugin unter Tränen weiter. Ihr mächtiger und spontaner Ausbruch von Schmerz löste in dem modernen, für den Hochverratsprozess gegen Öcalan errichteten Gerichtssaal grosse Emotionen aus.

Die Todesstrafe gefordert

 Die Familienangehörigen der PKK-Opfer und ihre Rechtsvertreter auf der linken Seite des Gerichtssaals sahen in der Erzählung der jungen Witwe die Wiederholung der eigenen Geschichte und weinten mit ihr. Der Gerichtspräsident, Turgut Okyay, suchte, wenn auch etwas unbeholfen, hinter der Brille seine Rührung zu verbergen. Selbst der Angeklagte Öcalan war sichtlich bewegt und teilte der jungen Witwe sein tiefes Beileid mit. Die Zeugenaussagen von Yildiz Namdar am letzten Donnerstag, vom staatlichen Fernsehsender TRT ungekürzt ausgestrahlt, haben auch die türkische Bevölkerung erschüttert. Erst durch ihre Erzählung schien nämlich der Krieg im kurdischen Südosten auf einmal auch für die breite Öffentlichkeit im Westen des Landes ein Gesicht zu bekommen. Die Frage, wie viele Personen in den letzten 15 Jahren ihr Leben auf beiden Seiten verloren haben, wird wohl für immer unbeantwortet bleiben. In der Anklageschrift werden vor allem die Opfer auf der Seite des Staates genannt. Demnach sind insgesamt 3874 Soldaten, 247 Polizisten sowie 1225 Mitglieder der staatstreuen kurdischen Dorfwehren bewaffneten Auseinandersetzungen zum Opfer gefallen. Diese Opfer werden laut offizieller Sprachregelung «Märtyrer» genannt. Ihre Familienangehörigen treten im Verfahren gegen Öcalan als Nebenkläger auf.

Die Aussagen der Nebenklägerin Yildiz Namdar erschütterten die Öffentlichkeit auch deshalb, weil die junge Frau in schlichten Worten das zusammenfasste, was die Mehrheit der türkischen Bevölkerung zum Kurdenkonflikt denkt. Die Kurden in der Türkei hätten keinen Grund für einen Aufstand, und die Kämpfer der PKK seien lediglich das Instrument einer internationalen Konspiration gegen die Türkei. Sie seien Bestien, die ausser Morden nichts anders zu tun wüssten, erklärte Yildiz Namdar. Wie auch die übrigen Familienangehörigen der «Märtyrer» im Saal wünschte die junge Krankenschwester, dass Öcalan so schnell wie möglich hingerichtet wird.

Schwierige Lage für die Verteidiger

 Die Anwältin Öcalans, Mükrime Tepe, wollte mit ihrer Intervention am letzten Freitag in der emotionsgeladenen Atmosphäre offenbar einen Ausgleich schaffen. Zu einem Krieg gehörten immer zwei Seiten, sagte sie mit klarer, leicht zittriger Stimme. In diesem Gerichtssaal höre man lediglich vom Terror der PKK. «Wer aber ist der PKK-Gegner?» Es gab laute Proteste aus den Reihen der Familien der «Märtyrer». Für die junge Anwältin hat der Krieg im Südosten ein anderes Gesicht. Mükrimes 20jähriger Bruder, Ferhat Tepe, hatte gerade angefangen, als Journalist bei der prokurdischen Tageszeitung «Özgür Gündem» zu arbeiten, als er 1993 von türkischen Kommandos festgenommen und zu Tode gefoltert wurde. Über 4000 kurdische Oppositionelle wurden im Laufe der letzten 15 Jahre Opfer der sogenannten anonymen Mörder. Es sind aus kurdischer Sicht die Opfer staatlich gelenkter illegaler Hinrichtungen. Keiner dieser Morde wurde bislang aufgeklärt.

Auch der kurdische Anwalt Irfan Dündar kennt eher diese Seite des Kriegs - schliesslich haben 1994 türkische Sicherheitskräfte seinen Geburtsort Baykan unweit der südostanatolischen Stadt Siirt zwangsevakuiert. Was Irfan Dündar dieser Tage am meisten zu schaffen macht, sind die erschwerten Arbeitsbedingungen für die Anwälte der Verteidigung. Tagelang hatten diese in der Hafenstadt Mudanya, die gegenüber der Gefängnisinsel Imrali liegt und zum Zentrum der internationalen Presse geworden ist, sowie im nahegelegenen Städtchen Gemlik und in Bursa Hotelzimmer gesucht. Immer wieder hiess es, dass es für die Anwälte des «Babymörders Öcalan» keine Räume gebe. Die Anwälte landeten nach einer Intervention des Gouverneurs von Bursa zuletzt im einfachen Hotel «Ömür», dessen Zimmer aber weder Tische zum Arbeiten noch Steckdosen für die Computer hatten. Durch die ständigen Drohungen türkischer Rechtsextremisten, die jeden Tag vor dem kleinen Hotel demonstrierten, wurde der Hotelbesitzer eingeschüchtert. Am letzten Mittwoch hat er die Anwälte auf die Strasse gesetzt, worauf diese am Donnerstag nicht zum Prozess erschienen sind.

Die Frage, ob eine Verteidigung unter diesen Umständen noch möglich sei, beantwortet Irfan Dündar mit einem Schulterzucken. Das Verfahren gegen Öcalan sei ein politischer Prozess, sagte er im Gespräch. Wesentliche Regeln des türkischen Strafrechts würden in einer Weise missachtet, dass das Verfahren schon jetzt rechtswidrig sei. Die Anwälte der Verteidiger hätten dennoch die Absicht, bis zuletzt den Prozess zu verfolgen. Wenn sie Öcalan nicht gemäss rechtsstaatlichen Prinzipien verteidigen könnten, dann sollten sie zumindest seine Zeugen in diesem Prozesses sein.

Der Anwalt der Verteidigung, Kemal Bilgic, forderte vom Gerichtspräsidenten das Wort. Männer, die grosse Kriege verursacht hätten, könnten auch einen grossen Frieden schaffen, zitierte er aus einer Erklärung der PKK. Dies löste laute Proteste auf der linken Seite des Saals aus. PKK-Propaganda werde nicht geduldet, riefen die Anwälte der Nebenkläger und die Familienangehörigen der «Märtyrer». Der Gerichtspräsident wies die Unruhestifter auf ihren Platz zurück. Der Krieg habe über 30 000 Personen das Leben gekostet, setzte Kemal Bilgic seine Rede fort. Man müsse die Familienangehörigen auch dieser Opfer anhören, wollte er noch hinzufügen. Doch da brach im Saal ein Tumult aus. Die Anwälte der Nebenkläger beschimpften jene der Verteidigung als PKK-Militante, die Familienangehörige der «Märtyrer» verliessen lärmend den Saal, ein Kriegsverletzter streckte aus Protest gegen diese «PKK-Propaganda» im Gerichtssaal seine Beinprothese in die Höhe. Der Gerichtspräsident rief, früher als sonst, zur Mittagspause. Die Rede der Verteidigung und die Unruhen im Saal wurden vom Fernsehen nicht gezeigt.

Unbeteiligter Angeklagter

 Das Geschehen im Gerichtssaal liess überraschenderweise den Angeklagten Öcalan kalt. In seinem Glaskasten eingesperrt, schien er am letzten Freitag auch von seiner Umgebung abgekoppelt zu sein. Während der ganzen Verhandlung las er aufmerksam Akten, die er am Morgen mitgebracht hatte. Er schaute auch seine Anwälte kein einziges Mal an. In seiner braunen, weiten Jacke sah dieser Mann, der bis vor wenigen Monaten eine grosse Widerstandsbewegung befehligt hatte, abgemagert und seltsam hilflos aus. Er reagierte nur auf Fragen des Gerichtspräsidenten, den er mit «Hochwürden» ansprach und zu dem er eine innige Beziehung zu haben schien. Öcalan glaubt offenbar, die Zielscheibe einer internationalen Verschwörung zu sein. Weil Europa ihm während seiner monatelangen Odyssee kein Asyl gewährt hat, rächt er sich im Gerichtssaal an Europa. Er beschuldigt Griechenland und England, die PKK-Kämpfer aus eigennützigen Interessen gegen die Türkei instrumentalisiert zu haben. Er unterstellt Italien, Deutschland, Holland und Belgien, den PKK- Kämpfern Ausbildungslager zu Verfügung zu stellen oder diese finanziell zu unterstützen. Syrien, wo seine Bewegung Zuflucht gefunden hatte, behandelt er allerdings rücksichtsvoll, wie übrigens auch die USA, über die er in seinen Reden kein böses Wort sagte.

Öcalan erklärt, dass der Islamistenführer Erbakan und der verstorbene Präsident Turgut Özal ihm Friedensbotschaften hätten zukommen lassen. Wie der Gott der Antike Kronos, der seine Kinder auffrisst, schlägt er aber am meisten auf die kurdische Bewegung ein. Aus der Überzeugung heraus, der PKK-Vertreter in Europa, Kani Yilmaz, habe ihn verraten, erklärt Öcalan, Yilmaz sei ein Instrument von London und Bonn. Er bestätigt dem Gericht bereitwillig, dass der türkische Menschenrechtsverein sowie die prokurdische Partei Hadep eine PKK-freundliche Politik betrieben hätten. Er verspricht, Frieden zwischen den Kurden und Türken zu stiften. Im selben Atemzug warnt er aber vor dem Ausbruch eines brutalen türkisch-kurdischen Krieges in der Türkei, sollte er hingerichtet werden. Öcalan scheint nicht zu begreifen, dass er auch das Vertrauen des türkischen Staates nicht gewinnen kann.

Ein faires Verfahren?

 Der Gerichtspräsident, Turgut Okyay, erlaubte dem Angeklagten zu sprechen, ohne ihn zu unterbrechen. Auch intervenierte er energisch gegen die Familienangehörigen der «Märtyrer», als der Tumult im Saal ausbrach. Turgut Okyay geniesst in der Türkei den Ruf, einer der liberalsten Richter des Landes zu sein. Im Gerichtssaal von Imrali bemüht er sich zudem, in- und ausländischen Beobachtern zu beweisen, dass die Türkei rechtsstaatliche Prinzipien respektiere und fähig sei, selbst ihrem Feind Nummer eins einen fairen Prozess zu machen. Okyay wird laut übereinstimmenden Schätzungen der türkischen Presse am Ende des Prozesses dennoch seinen Bleistift in zwei Teile brechen müssen - was hierzulande das Symbol für die Todesstrafe ist. Die Gesetzgebung der Türkei verlangt für das Verbrechen des Hochverrats die Todesstrafe.

Auch scheint der Prozess auf der Gefängnisinsel Imrali kaum der Versöhnung der Türken und Kurden zu dienen. Reisserische Berichte der türkischen Presse in den letzten Monaten haben die kurdische Bevölkerung ihrer Würde beraubt und auf der türkischen Seite das Gefühl des Triumphes und der Rache gestärkt. Dass der Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereins, Akin Birdal, am letzten Donnerstag seine Haftstrafe hatte antreten müssen, wird als Signal für die Absichten der neuen Regierung bezüglich ihrer Kurdenpolitik gewertet. Birdal muss eine Haftstrafe von zehn Monaten absitzen, weil er in einer Rede1995 für den Frieden zwischen Kurden und Türken plädiert hatte.