Hamburger Abendblatt 9.6.99

Der Prozeß gegen den kurdischen Rebellenführer Abdullah Öcalan
Ankaras schwieriger Balanceakt

FRANK HERRMANN
Ankara - Der Prozeß gegen den kurdischen Rebellenführer Abdullah Öcalan steht auf des Messers Schneide. Die Anklage verlangte gestern die Todesstrafe für den PKK-Vorsitzenden, dessen Partei, die für einen unabhängigen Kurdenstaat kämpft, drohte mit Vergeltung. Die Staatsanwaltschaft setzte sich mit ihrer Forderung über die Warnungen der Anhänger Öcalans aber auch internationale Appelle gegen die Verhängung der Todesstrafe hinweg. Öcalan habe versucht, die Einheit der Türkei mit Waffengewalt zu zerstören, erklärte Staatsanwalt Cevdet Volkan in seinem Schlußplädoyer. Außerdem sei er für den Tod von 29 000 Menschen verantwortlich und seine Friedensangebote seien unaufrichtig. Die Anwälte des Guerrillachefs haben nun 15 Tage Zeit, um die Verteidigungsrede vorzubereiten. So lange wird das Verfahren unterbrochen. Die zwischenzeitlich aufgeflackerten Signale für einen Kompromiß sind kaum noch erkennbar. Seit der Prozeß auf der Insel Imrali am 31. Mai begann, hatten wilde Gerüchte die Runde gemacht. Öcalan habe sich unterderhand mit dem Militär verständigt, glaubten Beobachter. Er wolle seine Anhänger aus den Bergen holen, dafür garantierten ihm die Generale seinen Kopf. Doch gut eine Woche später waren die Fronten wieder klar. Die Armeespitze dementierte jegliche Kontakte mit der PKK und wiederholte ihre frühere Position: Mit Terroristen könne man nicht verhandeln. Auch die Guerrilla schlug harte Töne an. Der türkische Staat würde "Selbstmord" begehen, wenn er Öcalan hinrichte, ließ die PKK in einer Erklärung gestern wissen. Dann wäre jede Art des Kampfes legitim. Daß Emissäre des Generalstabs spätestens seit 1998 mit den Rebellen redeten, daß lokale Kommandeure schon lange eine Art ständigen Draht zu ihren Gegnern haben, ist zwar ein offenes Geheimnis. Aber aus Sicht der Offiziere wäre das Eingeständnis von Kontakten jetzt die falsche Botschaft. Der Druck der öffentlichen Meinung ist enorm. Kriegsveteranen und Soldatenmütter bilden eine einflußreiche, emotionsgeladene Lobby. Auch die Presse hat sich auf die Kopf-ab-Parolen eingeschossen. Als der Angeklagte eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts vorschlug, erntete er bei den meisten Kommentatoren Hohn und Spott. "Jusuf, Jusuf, Öcalan", schrieb das Massenblatt "Sabah" - so hänselt man einen Angsthasen auf türkisch. Heftig wird allerdings darüber debattiert, ob der Prozeß das schwierige Verhältnis zu Europa noch mehr belastet. "Die Europäer schauen uns sehr genau zu", meint Mehmet Ali Birand, einer der bekanntesten "Eckenschreiber", einer der Starkolumnisten des Landes. Zwischen Bonn und Paris, London und Rom warte man auf den Ausgang des Verfahrens, erst dann werde man die Weichen stellen. Ankara steht ein schwieriger Balanceakt zwischen Racheschwüren und Europa-Interessen bevor. Trotz des Öcalan-Prozesses sah es außenpolitisch zuletzt nach Entspannung aus. Nach Birands Worten glaubt die Türkei, daß ihr die EU nach dem Luxemburger "Nein" von 1997 wieder die Tür zum Beitritt öffnen will. Der neue Premier Bülent Ecevit, so der Kommentator, sei in der Praxis viel weniger europafeindlich als befürchtet. Ecevit schrieb dem deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder kürzlich einen Brief, in dem er sich zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtete. Doch das Tauwetter könnte von kurzer Dauer sein. Allein das Todesurteil gegen Öcalan dürfte kaum zu neuen Spannungen führen. Sollte es aber vollstreckt werden, ist ein Kälteschock zu befürchten.