Frankfurter Rundschau 9.6.99

Angeklagter ohne Rechte
Gastbeitrag: Der Prozeß gegen den Kurdenführer Abdullah Öcalan wird vor allem von einem sogenannten Krisenstab bestimmt

Von Norman Paech (Hamburg)
Imrali ist nicht Stammheim. Der umgebaute Kinosaal auf der meerumspülten Insel im gleißenden Sonnenschein ist kein martialischer Hochsicherheitstrakt. Der bombensichere Glaskäfig für den Angeklagten nicht anders als in Jerusalem oder Düsseldorf. Der Militärrichter in Robe ist von den beiden zivilen Richtern nicht zu unterscheiden, und die alte Sitzordnung ist geändert. Nun sitzen die zwölf Verteidiger und Verteidigerinnen auf gleicher Höhe vor dem Richterpodium neben den Anklägern. Im Zuschauerraum die Angehörigen des Angeklagten, sorgsam getrennt von den Angehörigen gefallener Armeesoldaten. Ein paar ausländische Beobachter sind anwesend, allerdings nur Parlamentarier, andere sind nicht zugelassen. Ihre Anwesenheit ist auf wenige verstreute Sitzungstage verteilt worden. Das Bild stimmt optimistisch und es wird an wohlwollenden Kommentaren nicht fehlen.

Doch was stimmt nicht an einem Prozeß, bei dem jeder die Entscheidung bereits kennt und keiner Zweifel an dem Todesurteil für den Angeklagten hat? Dieser hat zur Eröffnung sein Mitgefühl für die Toten dieses Krieges - in der überwältigenden Mehrzahl Kurden - ausgedrückt und bei den Hinterbliebenen um Entschuldigung gebeten. Er hat seine Angebote, für Frieden und brüderliches Zusammenleben in einer demokratischen Republik mit dem türkischen Staat zusammenzuarbeiten, wiederholt. Er hat dafür aber auch eine Generalamnestie für alle kurdischen Kämpfer eingefordert - nicht nur das wurde in der Berichterstattung unterschlagen -, dann wolle er innerhalb von drei Monaten die PKK in eine rein politische Organisation umformen. Er hat die Frage des Militärs auf der Richterbank für nebensächlich erklärt, da er die Legitimität des gesamten Prozesses sowieso nicht anerkenne. Seine Entführung, die Umstände seiner Inhaftierung mit einer neuntägigen totalen Isolation und die Behinderungen der Verteidigung stempele das Verfahren zu einem rein politischen Prozeß. Er werde sich dementsprechend nicht juristisch, sondern allein politisch verteidigen. Dazu hat er eine 80seitige Erklärung vorbereitet.

Mit seiner Einschätzung über die juristische Seite des Prozesses liegt er nicht ganz falsch, wie bereits der erste Tag gezeigt hat. Die Anwälte haben einen Antrag auf Einstellung des Verfahrens gestellt, der die weniger vorzeigbare Seite des Verfahrens enthüllt. Sie haben ihn nicht nur mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte aus dem vergangenen Jahr begründet, das die Beteiligung eines Militärrichters als schweren Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtscharta gewertet hat. Sie haben darauf hingewiesen, daß das Verfahren faktisch von dem beim Ministerpräsidenten eingerichteten Krisenstab bestimmt wird. Dieser aus Militär und Regierung zusammengestellte Stab hat die Insel zum militärischen Sperrgebiet im Krisenzustand erklärt. Laut Gesetz kann er allerdings nur im Falle von Naturkatastrophen, größeren Bevölkerungsbewegungen, Nuklearunfällen und ökonomischen Krisen einen Krisenzustand ausrufen, nicht aber bei der Sitzung eines Staatssicherheitsgerichts. Der Krisenstab hat bestimmt, wann und wie oft die Verteidigung mit dem Angeklagten sprechen konnte. Vor einem Monat hat er den Verteidiger Erfan Dynda wegen dessen Äußerungen im Ausland von der Vertretung ausgeschlossen. Seine Beamten waren nicht nur bei jedem Gespräch mit dem Angeklagten maskiert anwesend, sondern auch bei den prozeßvorbereitenden Gesprächen mit den Richtern, die sie dabei zu Zuhörern degradierten. Der Krisenstab, nicht das Gericht bestimmt die Isolationsbedingungen des Gefängnisses ebenso wie die Entscheidung, wer zum Prozeß zugelassen wird. Entweder, so die Forderung der Anwälte, werde Krisenzustand und Sperrgebiet oder aber der Prozeß aufgehoben.

Die Anwälte hatten diesen Einwand schon in dem Verfahren vor dem Staatssicherheitsgericht in Ankara am 30. April vorzubringen versucht. Damals waren sie dabei vom Publikum mit Steinen gestoppt und vom Gericht zur Ordnung gerufen worden, sie sollten Gericht und Publikum nicht provozieren. Nun bezogen sich die Richter auf diesen Vorfall und wiesen den Antrag mit der Begründung ab, daß er schon einmal vorgebracht worden sei. Auch die Beteiligung des Militärrichters wollen sie solange akzeptieren, wie nicht der dem Parlament vorliegende Antrag auf Änderung der Verfassung verabschiedet worden sei. Dann könne der anwesende zivile Ersatzrichter eingewechselt werden. Zwei der Anwälte legten daraufhin noch im Gerichtssaal ihr Mandat nieder, ein dritter folgte. Hier ist ein rechtsfreier Raum geöffnet worden, in dem weder die "UN-Grundprinzipien über die Rolle der Verteidiger" noch selbst das türkische Strafprozeßrecht beachtet wird. Nach Art. 144 der türkischen Strafprozeßordnung wie nach Art. 8 der UN-Grundprinzipien muß der Verteidigung privater Zugang zum Angeklagten garantiert werden. Diese dürfen jedoch unter der ständigen Bewachung nicht einmal Aufzeichnungen machen oder ihrem Mandanten Dokumente zeigen. Spätestens nach 48 Stunden hätte Öcalan der Kontakt zu seinen Anwälten erlaubt werden müssen, Art. 7 UN-Grundprinzipien. Schon vor Eröffnung des Prozesses zirkulierten in der türkischen Presse angebliche Zitate aus den Vernehmungsprotokollen, die zu manchen Spekulationen Anlaß gaben und wohl auch geben sollten.

Auch mit dem Gerichtshof in Straßburg hat die Türkei ihre Schwierigkeiten. Seine regelmäßigen Verurteilungen wegen grober Verletzung der Menschenrechte im Kurdenkonflikt gehen der Staatsführung sichtbar auf die Nerven. Ihre jüngste Reaktion wird das Gericht allerdings noch weniger erfreuen. Denn sie ließ eine Mitarbeiterin des Anwalts Niyazi Bulgan am 7. Mai auf dem Istanbuler Flughafen verhaften, als diese Prozeßunterlagen und Briefe der Verteidigung zu den Anwälten nach Holland und zum Gerichtshof in Straßburg bringen wollte. In Straßburg sind derzeit Beschwerden wegen Prozeßmängeln und Behinderung der Verteidigung anhängig. Beide stehen nun wegen "Unterstützung der PKK" unter Anklage und die Mitarbeiterin ist in Untersuchungshaft. Denn, so die Anklageschrift, die Materialien "sollten unter Berücksichtigung aller Umstände in der Absicht, die Organisation (PKK) zu unterstützen, ins Ausland gebracht werden, um sich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte über die Türkische Republik sowie das Rechtssystem, unter dem Abdullah Öcalan gerichtlich verfolgt wird, zu beschweren und hierdurch psychischen Druck auf die hiesigen Richter auszuüben".

Das Anwaltsteam - "Verräterbüro des Jahrhunderts", wie es in der türkischen Presse genannt wird - steht unter ganz anderem Druck. Bei drei Anwälten wiesen die Gerichte schon lange schwebende Berufungen ab, wodurch einjährige Freiheitsstrafen wegen politischer Äußerungen rechtskräftig wurden. Am 3. Juni hat Akin Birdal, der bei einem Attentat schwer verletzte Vorsitzende der türkischen Menschenrechtsvereine, eine einjährige Haftstrafe wegen Erwähnung der Kurden in einer öffentlichen Rede angetreten. Der Chauvinismus der Bevölkerung produziert Morddrohungen und verhindert, daß die Anwälte vor Ort ein Hotel finden konnten. Die Nacht verbrachten sie so im Bus auf der Straße von Istanbul an der Küste vor Imrali. Und ausgerechnet die Polizei mußte ihnen nach dem ersten Verhandlungstag ein Quartier in Bursa besorgen, was nicht vor Mitternacht gelang.

Nun wird der Prozeß zur Normalität werden. Das internationale Interesse wird abnehmen, aber die Gefahren für die Verteidiger werden wachsen. In Art. 18 der UN-Grundprinzipien heißt es: "Rechtsanwälte sollen auf Grund ihrer Tätigkeit nicht mit ihrem Mandanten oder dessen Fall identifiziert werden." Aber dieses Prinzip hat in der türkischen Öffentlichkeit keine Geltung. Und die Regierung wird die Chance vertun, die Hand zur Versöhnung auszustrecken, um eine gemeinsame Zukunft von Türken und Kurden zu suchen. Glaubt sie, daß sie mit der Exekutierung des PKK-Führers der Lösung ihres Problems einen Schritt näher gekommen ist? Und was glauben die Europäer nach den Erfahrungen in Kosovo? Nur große Dialektiker vermögen vermutlich in einem derartigen Spektakel Keime einer besseren Zukunft zu erblicken.

Der Hamburger Völker- und Verfassungsrechtler Norman Paech beobachtete den Prozeß gegen Öcalan in der Türkei und sprach auch mit dessen Anwälten.