junge Welt 31.05.1999

Steht das Urteil gegen Öcalan schon fest? jW sprach mit Hans-Eberhard Schultz, einem der Verteidiger

(Der Rechtsanwalt ist Herausgeber des Buches »10 Jahre grenzüberschreitende Kurdenverfolgung«, erschienen im GNN-Verlag Köln)

F: Heute soll auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali das Verfahren gegen Abdullah Öcalan beginnen. Mehr als 700 Medienvertreter und zahlreiche internationale Prozeßbeobachter haben sich angekündigt. Ist von einem fairen Verfahren gegen den Vorsitzenden der PKK auszugehen?

Ich bezweifle das sehr stark. Nach allem, was bisher gelaufen ist, kann es kein faires Verfahren geben. Die Verteidigung ist systematisch behindert worden. Der früher federführende Verteidiger hat deshalb das Mandat niedergelegt. Alle Öcalan- Anwälte sind mit dem Tod bedroht und teilweise unter den Augen der Justiz von uniformierter Polizei verprügelt worden.

Hinzu kommt natürlich auch, daß eine inhaltliche Vorbereitung auf die sehr umfangreiche Anklageschrift, die die Verteidigung seit gerade einmal zwei Wochen hat, überhaupt noch nicht möglich war. Es gab bisher kein einziges unüberwachtes Verteidiger- Gespräch zwischen den Anwälten und dem Mandanten Abdullah Öcalan - obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg das schon am 4. März beschlossen und die Türkei dazu aufgefordert hatte, das dringend zu gewährleisten. Das schert überhaupt nicht.

F: Was ist von dem Verfahren selbst zu erwarten? Ist das Urteil offen?

Die Anklageschrift umfaßt etwa 140 Seiten. Bei den Ermittlungsakten handelt es sich um eine Materialschlacht. Die 22 000 Seiten liegen den Verteidigern erst seit wenigen Wochen vor. Die können überhaupt noch nicht durchgearbeitet sein. Nein, das Ergebnis des Verfahrens steht für mich fest: Es wird ein Todesurteil herauskommen wegen Hochverrat und Separatismus. Das sieht man nicht zuletzt daran, daß einer der führenden Kommandanten der PKK vor kurzem vor dem gleichen Gericht zum Tode verurteilt worden ist, obwohl er versucht hat, alles auf Öcalan abzuschieben und sich ausdrücklich angeboten hat, als Kronzeuge auszusagen. Selbst den haben sie ganz eindeutig verurteilt: Todesstrafe.

Außerdem hat Bülent Ecevit mit diesem Sieg über die PKK - der Gefangennahme in Kenia und der Entführung Öcalans in die Türkei - seinen Wahlkampf bestritten. Die neofaschistische MHP, die Grauen Wölfe, haben ganz offen gefordert, Öcalan muß hängen. Damit sind sie bei den Wahlen zweitstärkste Partei geworden. Das Ergebnis steht also fest.

Vielleicht kann durch großen Druck aus Europa und von der Weltöffentlichkeit erreicht werden, daß es nicht vollstreckt wird. Das ist eine andere Frage.

F: Wie lange wird diese »Farce«, wie das Verfahren von einem anderen Öcalan-Verteidiger genannt wird, voraussichtlich dauern?

Die Dauer ist schwer vorherzusehen. Es wurde immer gesagt, es soll nicht sehr lange dauern. Entgegen der sonstigen Übung soll nicht nur einmal in der Woche oder einmal im Monat verhandelt werden, sondern jeden Tag hintereinander weg.

Ich vermute allerdings, daß das Gericht auf die Bestrebungen von Ministerpräsident Ecevit Rücksicht nehmen wird, den Militärrichter aus diesem Gericht herauszunehmen. Dafür muß allerdings erst das entsprechende Gesetz geändert werden. Das Verfahren dürfte also zunächst einmal vertagt werden. Sonst wäre vorprogrammiert, daß der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Urteil nicht anerkennt - ein Militärrichter kann im Sinne der Menschenrechtskonvention kein unabhängiger Richter sein.

F: Mit welchen Konsequenzen ist infolge des Verfahrens, im Falle einer Verurteilung Abdullah Öcalan, zu rechnen. Es ist ja ein politischer Konflikt, der hier auf eine juristische Ebene gehoben worden ist.

Das ist schwer zu sagen. Ich denke aber, es wird einige Entwicklungen und möglicherweise auch Überraschungen geben. Öcalan selber hat über seine Anwälte immer wieder Friedensbotschaften, auch aus dem Gefängnis, an die Türkei gesendet und gesagt, er möchte diesen Prozeß nutzen, damit endlich eine politische Lösung gefunden wird und Frieden einkehrt. Das wäre, so Öcalan, auf der Grundlage der türkischen Geschichte möglich. Gemeinsam könnte man das Beste für das türkische und kurdische Volk erreichen und so weiter.

Wenn er trotzdem zum Tode verurteilt wird, wird es einen großen Protest und Aufschrei unter den Kurden aller politischen Parteien und Anhänger geben. Denn der Einfluß der PKK ist ja durch die Entführung erheblich gewachsen - in ganz Kurdistan, also auch in den kurdischen Gebieten im Iran, im Irak und in Syrien. Vor kurzem kam der Nationalkongreß - 300 kurdische Persönlichkeiten, die von Organisationen und nationalen religiösen Minderheiten delegiert waren - in den Niederlanden zusammen. Das alles zeigt, daß da ein großer neuer Prozeß im Gange ist, dessen Perspektiven im einzelnen noch nicht klar sind. Auf der anderen Seite gibt es unter den Kurden schon jetzt viele Stimmen, die sagen, die Friedenslinie der PKK hat uns nichts gebracht. Wir müssen so etwas wie die Hamas, die islamischen Fundamentalisten, aufbauen. Gewalt sei die einzige Sprache, die die Türkei versteht. Daher müsse auch der Westen der Türkei, müsse Istanbul in ein Meer von Blut getaucht werden. Nur dann wären sie vielleicht bereit, auf unsere Forderungen einzugehen.

Diese Ansicht gewinnt an Boden und fände natürlich erst recht größere Verbreitung, wenn Öcalan wie geplant vom türkischen Militär, von der türkischen Justiz, von den Parteien, zum Tode verurteilt würde. Dann wird man sich zurücksehnen, vor allem in Westeuropa, nach einer PKK und nach einem Öcalan, der Garant für einen Friedenskurs und die Einhaltung des humanitären Kriegsvölkerrechts war.

Interview: Rüdiger Göbel