Proteste gegen "Prozess-Farce"

Öcalan Designierter Premier Ecevit strebt die Ausschaltung des Militärrichters an

Birgit Cerha, Ankara

Unter ausserordentlich scharfen Sicherheitsvorkehrungen soll Montag auf der Insel Imrali im Marmara-Meer der Hochverratsprozess gegen den "grössten Staatsfeind" der jüngeren türkischen Geschichte beginnen. Seit vielen Wochen haben Medien und Politiker die türkische Öffentlichkeit auf dieses historische Ereignis eingestimmt, wenn Abdullah Öcalan, der Führer der kurdischen Guerillaorganisation PKK, gedemütigt dem türkischen Staat für seine Taten Rechenschaft ablegen muss. Den Tod von mehr als 30 000 Menschen wirft die Anklage ihm vor, "Babymörder" beschimpfen ihn Medien, und man will ihm die Hauptverantwortung zuschieben für den Krieg, der seit 15 Jahren tobt. Wenn schuldig befunden, wird das Urteil Tod durch Erhängen lauten. Dann wird das Parlament über die Exekution entscheiden. Seit 1984 wurde in der Türkei kein Todesurteil vollstreckt. Doch die rechtsextreme "Partei der nationalistischen Bewegung" (MHP), seit den Wahlen die zweitstärkste Fraktion, stellte bereits klar, dass sie in diesem Fall auf der Hinrichtung bestehen werde.

Seit Februar ist der Guerillachef in der Gefängnisfestung von Imrali der einzige Häftling. Dort wurde nun auch ein Gerichtsgebäude eingerichtet, in dem sich Öcalan, in einem Glaskasten, verantworten muss. Proteste der Anwälte gegen diese "Verletzung des Verteidigungsrechts" wehrt die Justiz mit dem Argument ab, nur auf diese Weise sei Öcalans Sicherheit garantiert. Der Glaskasten schütze vor Schüssen und Handgranaten. Zugleich aber macht er dem Angeklagten die Verständigung mit dem Richter lediglich durch ein Mikrofon möglich, während er gleichzeitig Erklärungen seiner Anwälte akustisch nicht zu folgen vermag.

Unterdessen kündigte Öcalans mehr als hundertköpfiges Anwaltsteam an, dass es sofort nach Eröffnung des Prozesses dessen Verschiebung beantragen wolle, um dem Staat die Möglichkeit zu einer Justizreform zu geben.

Zeigt westliche Kritik Wirkung?

Westliche Kritik an der unfairen Verfahrensweise haben führende Politiker in Ankara offenbar doch nicht ganz unbeeindruckt gelassen. Die Kritik konzentriert sich vor allem auf die Präsenz eines Militärs im dreiköpfigen Richterteam des Staatssicherheitsgerichts, das Öcalan aburteilen soll. Diese Zusammensetzung lässt nach Ansicht unabhängiger Kreise die Unabhängigkeit des Verfahrens ernsthaft in Zweifel ziehen.

Das Staatssicherheitsgericht, das in Fällen von Terrorismus oder anderen Aktionen zur "Gefährdung der Republik" zu entscheiden hat, war 1975 gegründet, doch bereits ein Jahr später wegen Verfassungswidrigkeit wieder abgeschafft worden. Nach dem Militärputsch wurde es 1984 wieder eingeführt und ist seither eifrig in Aktion. Der designierte Premier Ecevit will nun den Militärrichter ausschalten. Bei intensiven Verhandlungen um die Bildung einer Koalitionsregierung habe er die Zusicherung seiner potentiellen Partner - der MHP sowie der "Mutterlandspartei" (ANAP) - zu einer entsprechenden Justizreform errungen. Die Koalition, kommt sie zustande, würde dann auch im Parlament über die nötige Mehrheit verfügen.

Doch die Zeit drängt. Noch streiten sich die Parteien um die Ministerposten. Unabhängig von der Präsenz eines Militärrichters, ist auch sonst die Fairness des gesamten Verfahrens nach Ansicht unabhängiger Beobachter höchst zweifelhaft. Öcalans Anwaltsteam, wiederholt physisch attackiert, steht unter massivstem Druck einer Öffentlichkeit, die den Guerillachef längst als Hochverräter und Massenmörder verurteilt hat. Sogar Präsident Demirel lässt keinen Zweifel an der Schuld eines Mannes, über den das Gericht erst zu entscheiden hat. In den vergangenen Wochen hatte die Justiz auch den Anwälten jede Vorbereitung des Verteidigungsdossiers unmöglich gemacht, ein unbeobachtetes Gespräch mit Öcalan stets verhindert. Deshalb legte der Hauptverteidiger, Ahmet Okcuoglu, nun auch aus Protest sein Mandat zurück und appellierte an seine Kollegen, das Verfahren zu boykottieren, um der Welt damit die "Farce" dieses Prozesses zu demonstrieren.

Aargauer Zeitung, 28.5.99