Neue Zürcher Zeitung, 27.05.1999

Erhöhte Spannung vor dem Prozess gegen Öcalan
Schwierige Arbeitsbedingungen für die uneinigen Anwälte

Wenn am kommenden Montag auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali der Hochverratsprozess gegen den Führer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, beginnt, werden es seine Anwälte schwer haben, eine Verteidigung aufzubauen. Ihre Rechte sind stark eingeschränkt, und sie sind sich uneinig über die einzuschlagende Strategie. it. Istanbul, 26. Mai

Vier Monate nach seiner spektakulären Verschleppung aus Kenya steht der Kurdenführer Abdullah Öcalan am 31. Mai auf der Marmara- Insel Imrali vor seinen Richtern. Die türkische Staatsanwaltschaft wirft dem PKK-Vorsitzenden Hochverrat sowie zahlreiche Morde vor und fordert gegen den fünfzigjährigen Angeklagten die Todesstrafe. Öcalan hat in den letzten 15 Jahren den längsten und auch kostspieligsten Kurdenaufstand in der Geschichte der türkischen Republik angeführt. Der Mammutprozess sei ein wichtiger Prüfstein für die türkische Justiz, sagte im Gespräch das Vorstandsmitglied der Istanbuler Anwaltskammer Osman Ergin. An diesem Verfahren werde sich zeigen, ob die Türkei wirklich ein Rechtsstaat sei. 105 Anwälte haben eine Vollmacht für die Verteidigung Öcalans beantragt. Sie sind sich darin einig, dass bei diesem Prozess von in einem Rechtsstaat üblichen Verteidigungsmöglichkeiten keine Rede sein kann. Die Stimmung in den Anwaltsbüros schwankt deshalb zwischen Empörung und leiser Hoffnung. Einige der Verteidiger meinen, auf Imrali könnte am Ende doch die Vernunft obsiegen. Exponenten der beiden Strömungen sind einerseits Ahmet Zeki Okcuoglu, der in Istanbul vor allem als kurdischer Verleger bekannt ist, und anderseits Hasip Kaplan, der im kurdischen Südosten auch als gemässigter Politiker auftritt.

Eine Häufung praktischer Probleme

Die Schwierigkeiten begannen, so erläuterte Kaplan in einem Gespräch, schon bei ganz einfachen technischen Fragen, wie beispielsweise dem Transport der Verteidiger nach Imrali. Die abgelegene Gefängnisinsel ist lediglich vom Hafenstädtchen Mudanya aus mit einem Motorboot erreichbar. Von dort dauert die Überfahrt rund zweieinhalb Stunden. Dies bedeute, so sagt Kaplan, dass die Rechtsvertreter während des Prozesses täglich fünf Stunden im Boot unterwegs sind, und dies wohlbemerkt nur bei gutem Wetter. Bei hohem Wellengang dürfen die kleinen Motorboote nicht ablegen. Die drei Richter und der Staatsanwalt sollen mit einem Militärhelikopter nach Imrali geflogen werden. Dieses Transportmittel auch der Verteidigung zur Verfügung zu stellen, hat Ankara bisher abgelehnt. Private Helikopter dürfen nicht benützt werden, da Imrali nach der Festnahme Öcalans zur militärischen Sperrzone erklärt worden ist. Als problematisch bezeichnet Kaplan ferner die Tatsache, dass die Anwälte bei jedem Besuch in Imrali gleich fünf Leibesvisitationen unterworfen werden und die Wächter vor jedem Gespräch mit dem prominenten Mandanten Papier, Kugelschreiber und Gerichtsakten beschlagnahmen. Schon kurz nachdem Okcuoglu zum Hauptanwalt Öcalans wurde, beklagte er sich öffentlich über ständige Drohungen gegen die Rechtsvertreter und bat die staatlichen Institutionen um Schutz. Tatsächlich wurden er und eine Kollegin das erste Mal, als sie ihren Mandanten in Imrali besuchen durften, in Mudanya von einem aufgebrachten Mob mit Steinen beworfen und als Landesverräter beschimpft. Bei der ersten Anhörung im Öcalan-Prozess in Ankara mussten sich die Anwälte durch ein Fenster aus dem Gerichtsgebäude retten, weil zornige Familienmitglieder von in Südostanatolien gefallenen Soldaten die Verteidiger zu lynchen drohten. Zu Tumulten gegen die Anwälte des als Babymörder verschrieenen Kurdenführers kam es schliesslich Ende April bei der letzten Anhörung vor dem Staatssicherheitsgericht in Ankara. Die Verteidiger wurden mit Tritten und Schlägen malträtiert, wobei ausser Rechtsextremisten auch Polizeibeamte die Rechtsvertreter bedroht haben sollen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International bezeichnete die Vorfälle in einer öffentlichen Erklärung als ein beunruhigendes Zeichen für ein Klima der Einschüchterung der Verteidigung. Anstatt die Unruhestifter zu massregeln, hätten die Richter die Verteidiger davor gewarnt, den Zorn der Menschenmenge nicht zu provozieren, berichtet Okcuoglu. Am vergangenen Dienstag wurde Niyazi Ulgan, einer der Verteidiger Öcalans, der Unterstützung einer terroristischen Organisation angeklagt. Ihm wird vorgeworfen, in einem Schreiben an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gefordert zu haben, den Prozess gegen Öcalan als rechtswidrig zurückzuweisen. Die Anklage gegen Ulgan wenige Tage vor Beginn des Prozesses brachte für Okcuoglu das Fass zum Überlaufen. Am späten Dienstagabend hat er seinen Rücktritt angekündigt und alle 105 Verteidiger Öcalans aufgefordert, den Prozess zu boykottieren. Er weigere sich, bei dieser Farce weiterhin mitzumachen, erklärte er öffentlich.

Unterschiedliche Strategien

Unter den Anwälten Öcalans sind inzwischen ernsthafte Meinungsunterschiede über die Verteidigungsstrategie entstanden. Eine Gruppierung um Okcuoglu glaubt, dass der türkische Staat in der Person Öcalans in Wirklichkeit das kurdische Volk vor Gericht bringen möchte. Deshalb will diese Gruppe Öcalan als Stellvertreter der Kurden verteidigen. Wie diese Anwälte immer wieder beteuern, sollte neben den Terroraktionen der PKK auch der tägliche Terror türkischer Sicherheitskräfte gegen die kurdische Bevölkerung angeklagt und verurteilt werden. Im Gegensatz zu dieser Gruppe will Kaplan eine Spaltung zwischen Kurden und Türken möglichst vermeiden. Als zentralen Punkt seiner Verteidigung sieht er deshalb einen Friedensprozess im kurdischen Südosten sowie eine demokratische Lösung der Kurdenfrage. Dies entspreche auch dem ausdrücklichen Wunsch seines Mandanten, betont Kaplan. Öcalan bereite sich ebenfalls auf seine Verteidigung vor, wobei er weder auf die Anklageschrift eingehen noch die Klagen vereinzelt beantworten möchte. Der Kurdenführer sei offenbar davon überzeugt, dass dieser Prozess noch eine letzte Chance für eine friedliche Lösung des Kurdenkonfliktes biete. Aus diesem Grunde habe Öcalan die PKK dazu aufgefordert, trotz seiner Festnahme den im September 1998 einseitig ausgerufenen Waffenstillstand zu respektieren. Öcalan werde in Imrali die Richter zu überzeugen versuchen, dass der türkische Staat von einem Frieden profitieren könne. Erst das Ende des Krieges im Südosten könne dem Land die bitter nötige Stabilität garantieren. Mit dieser Strategie erhofft sich Kaplan, seinen Mandanten vor der drohenden Exekution zu retten. Der gemässigte kurdische Verteidiger betrachtet es als seine persönliche Mission, zum Ausgleich zwischen Kurden und Türken beizutragen.

Unterschiedliche Hoffnungen

Kaplans Hoffnungen steht die Absicht der türkischen Armeeführung entgegen. In diesen Kreisen besteht der Wunsch, mit dem Prozess den militärischen Sieg über die kurdische Rebellion zu dokumentieren. «Eine Nation, eine Heimat, eine Sprache und eine Fahne.» Dies seien die geltenden Stützpfeiler des türkischen Staates, hiess es in einer vor kurzem verbreiteten Erklärung des Generalstabs. Der amtierende Regierungschef Ecevit möchte den Prozess als Tribüne benützen, um angeblich feindlich gesinnte Nachbarländer, namentlich Griechenland, Zypern, Syrien und Russland, der Unterstützung des Terrors in der Türkei zu bezichtigen. Obwohl Ecevit für eine Abschaffung der Todesstrafe eintritt, will er nicht ausschliessen, dass der Kurdenführer hingerichtet wird. Ecevits voraussichtlicher Koalitionspartner in der Regierung, die rechtsextreme Partei der nationalistischen Bewegung, forderte nachdrücklich die Exekution Öcalans. Die PKK, deren Auflösung entgegen den Erwartungen in Ankara offenbar nicht stattgefunden hat, nahm zum Prozess auch Stellung. In einer Erklärung des neuen kollektiven PKK-Vorstandes vom 6. Mai hiess es, die Guerilla werde sich während des politischen Prozesses an den Waffenstillstand halten und weder im Südosten Angriffe gegen Militärziele ausführen noch im Westen Selbstmordattentate verüben. Die PKK-Kommandanten liessen aber keinen Zweifel daran, dass sie den Konflikt landesweit ausdehnen werden, wenn Ankara eine politische Lösung der Kurdenfrage weiterhin ablehnen sollte oder die gegen Öcalan geforderte Todesstrafe vollstreckt würde.

Verschiebung des Prozessbeginns?

Ankara, 26. Mai. (afp/dpa) Der türkische Regierungschef Ecevit hat eine Verschiebung des Prozesses gegen Öcalan in Aussicht gestellt. Laut einem Bericht der Tageszeitung «Milliyet» sagte Ecevit, er strebe vor dem Prozess eine Verfassungsänderung an, damit dem Staatssicherheitsgericht künftig kein Militärrichter mehr angehöre. Die im Parlament vertretenen Parteien hätten ihre Unterstützung bereits zugesagt. Den Entscheid über einen Aufschub des Prozesses könnten jedoch nur die Mitglieder des Gerichtshofes - zwei zivile sowie ein Militärrichter - treffen, sagte Ecevit. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hatte erklärt, das Gericht könne angesichts des beteiligten Militärrichters nicht als unabhängig gelten.