Frankfurter Neue Presse , 22.4.99

Hinrichtung Öcalans wurde wahrscheinlicher

Von Ralph Boulton
Ankara. Der Erfolg der Nationalisten bei der türkischen Parlamentswahl macht eine Hinrichtung von PKK-Chef Abdullah Öcalan nach Ansicht von Diplomaten sehr viel wahrscheinlicher. Sollte Öcalan nämlich im Sommer wegen Hochverrats zum Tode verurteilt werden, müßte das Parlament über die Ausführung der Strafe entscheiden. Und es sei davon auszugehen, daß das neue, nationalistisch geprägte Parlament Öcalan nicht begnadigen werde.
Immerhin sei es auch die euphorische Stimmung nach der Verhaftung Öcalans gewesen, die der nationalistischen Partei MHP am Sonntag zum zweiten Platz bei der Wahl verholfen habe. Stimmt das Parlament der Hinrichtung zu, kann nur noch Präsident Süleyman Demirel Öcalan begnadigen - wegen Krankheit, Gebrechlichkeit oder Senilität. Westeuropäische Proteste gegen eine Hinrichtung würden die Entschlossenheit des Parlaments vermutlich nur stärken.
Die Enttäuschung über Europa ist einer der Faktoren, der den Nationalisten zu Wählern verhilft. Viele Türken sind gekränkt, wie die Europäische Union ihr Land 1997 von der Liste der Beitrittskandidaten strich. Zudem wird die EU als Fürsprecher der PKK betrachtet, weil sie die Garantie von Minderheitenrechten durch die Türkei einfordert. In der Türkei bezweifelt kaum jemand, daß Öcalan schuldig gesprochen werden wird. Die Türkei macht ihren Staatsfeind Nummer Eins für den Tod von fast 30 000 Menschen im 14 Jahre dauernden Terror der PKK im Südosten des Landes verantwortlich.