Frankfurter Allgemeine 20.3.99

Distanz zu den Europäern
Gemeinsam mit Washington schmiedet die Türkei neue Bündnisse / Von Rainer Hermann

ISTANBUL, 19. März
Die separatistische kurdische Arbeiterpartei PKK hat ihre Drohung wahrgemacht und den Bürgerkrieg vom Südosten der Türkei auch in die großen Städte getragen. Eine Welle blutiger Anschläge überzieht die Türkei; dem Land stehen israelische Zustände bevor. Die nicht zimperlichen Sicherheitskräfte bemühen sich darum, die Ausweitung des Terrors zu verhindern. Doch in Ankara sind die Politiker abermals mit sich selbst, beschäftigt und kaum handlungsfähig.
An diesem Sonntag droht eine neue Welle der Gewalt. Dann feiern die Kurden ihr Neujahrsfest (Nevroz). Schon 1992 und 1993 hatten militante Kurden den Konflikt vorübergehend bis nach Istanbul getragen. Heute gehen sie brutaler vor. Unberechenbar werden sie durch die Wahllosigkeit ihrer Ziele. Zudem haben sie ihren Feldzug gegen den türkischen Staat, auch. nach Europa getragen.
Den militanten Kurden stehen Sicherheitskräfte gegenüber, die in dem Trauma gefangen sind, daß das Staatsgebiet des Osmanischen Reichs über Jahrhunderte immer kleiner geworden ist. Diesem Prozeß
haben erst der Vertrag von Lausanne 1923 und die Ausrufung der Republik Türkei Einhalt geböten. Seither geht die in der Türkei herrschende Klasse gegen alles vor, was ihr als separatistisch erscheint.. Zugeständnisse - etwa die kulturelle Autonomie der Kurden - würde die Mehrheit der türkischen Bevölkerung als Zeichen der Schwäche und als Aufbruchsignal für die Abspaltung auslegen.
Die internationale Kritik an der Türkei konzentriert sich bisher darauf, daß Ankara den Kurden nicht die kulturelle Autonomie gewährt. Diese Kritiker verkennen aber, daß auch die nichtkurdischen Bewohner der Türkei nicht in einer europäischen Idealen entsprechenden Demokratie leben. In den achtziger Jahren - einem Jahrzehnt des kalten Krieges - hatte Özal mit mutigen Reformen den übermächtigen Staat in die Schranken verwiesen, die Gesellschaft freier gemacht und die Türkei nach außen geöffnet. 1990 trat sogar ein Generalstabschef zurück, weil er sich in der Irak-Politik nicht gegen Staatspräsident Özal durchsetzen konnte. Heute stehen die Errungenschaften jener Epoche auf dem Spiel. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte sich die Welt schnell verändert. Doch für die Türkei könnten die neunziger Jahre zu einem verlorenen Jahrzehnt werden. Nun bestimmt wieder das Militär den Kurs des Landes.
Mit jeder Verschärfung des Kurden-Konfliktes wächst auch die Wahrscheinlichkeit, daß das Militär die Zügel noch energischer in die Hand nehmen wird. Zudem dient auch der eskalierende außenpolitische Konflikt mit Griechenland als ein Vorwand, um Forderungen der türkischen Bevölkerung nach mehr Demokratie zurückzuweisen. Türkische Politiker wiesen in den vergangenen Wochen europäische Kritik wiederholt mit dem Argument zurück, die Europäische Union beschütze den „Schurkenstaat" Griechenland. Europäer dürften der Türkei daher keine Ratschläge erteilen.
Schon vor der Verschleppung Öcalans hatte sich die Türkei von den Europäern distanziert. Fast schon gebetsmühlenhaft hatte Ankara die Europäer bezichtigt, zu große Sympathien für die Kurden zu hegen und damit insgeheim an den Vertrag von Sevres anzuknüpfen, der 1920 das türkische Kernland Anatolien unter den Alliierten aufgeteilt hatte. Trotzdem zeigten sich die türkischen Generäle lange an einer EU-Mitgliedschaft ihres Landes interessiert. Doch ihr Ziel war dabei vorrangig die Einflußnahme auf die neu entstehenden Sicherheitsstrukturen. Um sie mitgestalten zu können, wollte die Türkei politisch in der Europäischen Union vertreten sein. Die türkischen Militärs strebten aus machtpolitischem Kalkül in die Europäische Union. Innenpolitische Fragen spielten bei diesem Ansinnen keine Rolle. Aus diesem Grund war die Türkei Mitglied in der Nato geworden, und so hatte sie sich auch die Mitgliedschaft in der EU vorgestellt.
Europa hat heute aufgrund der Agenda 2000 und der Ost-Erweiterung weder die Zeit noch die Energie, um die Anbindung der Türkei aktiv zu fördern. Im Europäischen Parlament gewinnt sogar eine parteienübergreifende Bewegung an Gewicht, die den Ausschluß der Türkei aus dem Europäischen Parlament fordert. Man fühlte sich unlängst in Ankara brüskiert, weil die Türkei trotz ihres politischen Dialoges mit Brüssel und trotz der deutschen Ratspräsidentschaft nicht zu zwei Ministerratssitzungen eingeladen worden war.
Ein Grund für die jüngsten Verstimmungen zwischen Brüssel und Ankara ist der „Bericht der Kommission über den Fortschritt der Türkei in Richtung eines Beitritts". Er wurde im vergangenen November bekannt. In diesem Bericht kritisiert die Kommission die mangelnde Kontrolle der türkischen Armee durch zivile Institutionen. Diese Kritik ließ das Interesse der herrschenden Kreise an Europa erkalten. Die Krise um Öcalan könnte jetzt als Vorwand dazu dienen, der Öffentlichkeit zu erklären, daß die Mitgliedschaft in der Europäischen Union nicht länger ein wünschenswertes Ziel ist.
Ankara setzt vielmehr auf die Vereinigten Staaten und den regionalen Verbündeten Israel. Am 16. Februar hatte der private türkische Fernsehsender ntv als erster die Ergreifung Öcalans in Nairobi bekanntgegeben - noch vor der Pressekonferenz von Ministerpräsident Ecevit - und sich dabei auf amerikanische Offiziere in Ankara berufen. In Nairobi selbst waren türkische Geheimdienstoffiziere an der Aktion kaum beteiligt gewesen. Die Fäden hatten amerikanische und vor allem israelische Geheimdienste gezogen.
Die Überstellung Öcalans durch die Israelis an die türkischen Behörden fügt sich in die geostrategischen Vorstellungen der Vereinigten Staaten im östlichen Mittelmeer. Offenbar setzt Washington, auf eine Allianz zwischen Ägypten, der Türkei und Israel. Ägypten ist eines der wenigen arabischen Länder, mit denen die Türkei traditionell gute Beziehungen unterhält. Nach anfänglichen Vorbehalten ging auch die Türkei eine enge militärstrategische Allianz mit Israel ein. Acht der zwölf Abkommen zwischen beiden Staaten soll der mächtige Kommandant des ersten türkischen Heereskorps, Cevik Bir, unterzeichnet haben. Der türkische Erzfeind Griechenland läßt amerikanische Kampfflugzeuge vom europäischen Eurofighter-Konsortium modernisieren, die Türkei aber hat Israel beauftragt. Die Interessen der Vereinigten Staaten in der Region reichen über Israel und die Türkei hinaus. Sie sind auch an der künftigen Stabilität Eurasiens interessiert.