Süddeutsche Zeitung 15.03.99
Kongreß in Bremen
Strafverteidiger kritisieren Entführung Öcalans
Für internationale Beobachtung des Prozesses / Justizreform im EU-Rahmen gefordert

ker. Bremen (Eig. Bericht) – Der 23.  Strafverteidigertag in Bremen hat die Entführung von PKK-Chef Abdullah Öcalan die Türkei als Verletzung international anerkannter Grund- und Menschenrechte kritisiert und vor einem „inszenierten Schauprozeß“ sowie der Verhängung der Todesstrafe gewarnt. Der Kongreß mit mehr als 400 Teilnehmern befürchtete in einer Resolution eine „massive Verletzung des Rechts auf Verteidigung“ und setzte sich für eine internationale Beobachtung des Prozesses ein. Bisher seien zwei Verteidiger sowie sieben kurdische Anwältinnen und Anwälte kurzfristig inhaftiert worden.
Der Strafverteidigertag forderte vom Auswärtigen Amt, sich gegenüber der türkischen Regierung für Garantien zum Schutz der Verteidiger und für die Einhaltung der Verfahrensgarantien einzusetzen, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarats enthalten sind. Die Türkei ist eines der 40 Mitglieder des Europarats. Für „diplomatischere Formulierungen“ hatte als Gast vergebens der langjährige deutsche Mitarbeiter der Europäischen Menschenkommission in Straßburg, Wolfgang Peukert, plädiert. Nach seinem Eindruck ist die Türkei durchaus bemüht, die Menschenrechtskonvention umzusetzen. Er warnte vor einer Vorverurteilung und bat darum, einige Formulierungen in den Konjunktiv zu setzen. Dem widersprach die Rechtsanwältin und Grünen-Politikerin Renate Künast. Diplomatie sei nicht Aufgabe der Strafverteidiger.
Der Strafverteidigertag ist eine Fachtagung von elf Landesverbänden, denen 1400 überwiegend linksliberale Mitglieder angehören. Über das Thema „50 Jahre Grundgesetz – Kritische Würdigung, Europäische Bezüge in der Strafgerichtsbarkeit“ wurde in sechs Arbeitsgruppen und zwei Podiumsgesprächen diskutiert. Auf der Schlußveranstaltung fragte der Richter am Bundesgerichtshof, Wolfgang Schomburg: „Wo ist in diesem europäischen Haus ein Raum für die Justiz?“. Er kritisierte einen auch für Experten völlig undurchschaubaren „Dschungel von Rechtsnormen“. Zur Verbesserung und als Reaktion auf die Gründung von Europol müsse zumindest eine Institution „Eurojust“ entstehen, die zentral das geltende Recht erfasse und öffentlich zugänglich mache. In den Arbeitsgruppen wurden sowohl eine „bedrückende Überfüllung“ der psychiatrischen Krankenhäuser mit Straftätern als auch der Gefängnisse beklagt. Die Anwälte forderten eine Verkürzung langer Strafen und die Möglichkeit, auch Freiheitsstrafen von mehr als zwei Jahren zur Bewährung auszusetzen.  Gemeinnützige Arbeit zur Vermeidung der Ersatzfreiheitsstrafe sei sinnvoll. Bei den Untersuchungsgefangenen gebe es den höchsten Nachkriegsstand, weshalb verstärkt über Möglichkeiten der Haftvermeidung und Haftalternativen nachzudenken sei.
Sehr kritisch äußerte sich ein Arbeitskreis über die Qualität psychiatrischer Gutachten. Sie seien häufig mit schweren fachlichen Mängeln behaftet.  Insbesondere die Prognose-Gutachten seien oft unvollständig und vordergründig. Nach einer Untersuchung über Rückfälle bei schwersten Straftaten sei es ein besonders häufiger Fehler, daß Straftaten von Jugendlichen häufig nur als Störung in einer entwicklungsbedingten Phase bewertet würden. Oft werde die Aussagekraft der sozialen Anpassung in einer Anstalt über-, die Art der begangenen Straftat unterschätzt.