Neue Zürcher Zeitung, 08.03.1999

Griechischer Bericht zur Festnahme von Öcalan
Botschafter in Kenya bricht Schweigen
H. G. Athen, 7. März
Ein ausführlicher Bericht des griechischen Botschafters in Nairobi an das Athener Aussenministerium hat am Wochenende endlich Klarheit über die Rolle der griechischen Führung bei der Überführung des Kurdenführers Abdullah Öcalan nach Kenya sowie bei seiner dortigen Überantwortung an ein ungewisses Schicksal geschafft. Der Bericht von Botschafter Georges Kostoulas beschreibt von Anfang an eine zweifelhafte Vorgehensweise der für das Fiasko im Fall Öcalan Verantwortlichen. Es kann nun kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass der PKK-Chef aus Griechenland nach Kenya gebracht wurde, ohne dass dort Voraussetzungen für sein sicheres Verbleiben oder die Weiterleitung an einen anderen Zufluchtsort geschaffen worden waren.  Später drängte Athen auf einen regelrechten Hinauswurf Öcalans aus der Botschafterresidenz und entsandte dazu eine eigene Gruppe von Agenten nach Nairobi, als längst klar war, dass bereits Geheimdienste von Drittländern auf Öcalan lauerten.
Die Aufzeichnungen des Botschafters erhärten weiter den Verdacht, dass diese Weisungen keineswegs nur von einzelnen Ministern in Überschreitung ihrer Befugnisse - das ist nach wie vor die offizielle griechische Version - ausgesprochen worden waren, sondern dass sie Regierungspolitik dargestellt haben. Unter Tarnnamen ist in dem Dokument von den «drei Sängern» - die inzwischen entlassenen Minister - sowie vom «grossen Sänger» die Rede, mit dem kein anderer als Ministerpräsident Simitis gemeint sein kann. Der Inhalt des Berichts deckt sich fast vollständig mit den früheren Aussagen der griechischen Öcalan-Anwälte, die von einer Quasi-Auslieferung des PKK-Chefs an die türkische MIT sprachen, und den Behauptungen einer Kurdensprecherin, wonach es eine Verschwörung zu seiner Überführung in den Gewahrsam der Türkei gegeben habe. Von griechischer Regierungsseite war das bisher als «undankbare Verleumdung» hingestellt worden. Mit den neuesten Enthüllungen ist die politische Zukunft der Regierung Simitis vor dem Parteitag der Sozialisten, der am 18. März beginnt, und im Hinblick auf die Europawahlen im Juni erneut in Frage gestellt.


FR, 08.03.1999

Der Ärger mit Oma
Das Tagebuch des griechischen Botschafters in Kenia enthüllt, wie PKK-Chef Öcalan in türkische Hände fiel
Von Gerd Höhler (Athen)
„Schmeißt die Oma raus, notfalls mit Gewalt!“ Diese Order gab das Athener Außenministerium am 14. Februar der griechischen Botschaft in Nairobi. „Oma“, das war der Codename für den PKK-Chef Abdullah Öcalan, der sich damals seit fast zwei Wochen in der Residenz des Botschafters versteckt hielt. 24 Stunden später war „Großmutter“ Öcalan in der Hand türkischer Geheimagenten.
Was sich während des Aufenthalts des PKK-Führers in Nairobi zutrug, hielt der griechische Botschafter Jorgos Kostoulas in einem Tagebuch fest, das jetzt als dienstlicher Bericht über die Vorgänge dem Außenministerium vorliegt. Die Athener Zeitung Ta Nea veröffentlichte am Samstag die als „streng geheim“ klassifizierte Chronik. Wie das Blatt an den Text kam, ist unklar. Seine Authentizität wird jedoch vom griechischen Außenministerium nicht bestritten.
Ein wenig vorteilhaftes Licht wirft der Bericht vor allem auf den inzwischen zurückgetretenen Außenminister Theodoros Pangalos und dessen Bürochef Vassilis Papajoannou. Aber auch Ministerpräsident Kostas Simitis stehen neue innenpolitische Stürme bevor.
Die Aufzeichungen des Botschafters belegen: Außenministerium und Geheimdienst behandelten den Fall Öcalan mit unbegreiflicher politischer Fahrlässigkeit und diplomatischem Dilettantismus.  Politisch brisant vor allem: Die bisher von der Athener Regierung gegebene Darstellung, Öcalan haben entgegen dem Rat der Griechen die Residenz verlassen, sich den kenianischen Behörden anvertraut und sei deshalb in die Hände türkischer Agenten gefallen, trifft offenbar nicht zu. Botschafter Kostoulas berichtet, sowohl das Ministerbüro als auch der griechische Geheimdienst hätten ihn tagelang massiv bedrängt, Öcalan loszuwerden, egal wie, und sei es „mit Gewalt“. Der Bürochef des Außenministers habe sogar telefonisch Weisung gegeben, den PKK-Chef notfalls zu betäuben, in einem Bettlaken aus der Residenz zu schaffen und vor irgendeinem Hotel auf die Straße zu setzen.
Öcalan war am 28. Januar von griechischen Freunden nach Athen eingeschleust worden. Doch die griechische Regierung wollte ihn möglichst schnell wieder loswerden, um keine Verwicklungen mit Ankara zu riskieren. Mehrere Versuche, für Öcalan Aufnahme in den Niederlanden, Italien oder der Schweiz zu finden, scheiterten.  Daraufhin verfiel Außenminister Pangalos auf die abenteuerliche Idee, Öcalan und seine drei Begleiter nach Kenia zu bringen. Botschafter Kostoulas wurde vom Ministerbüro lediglich die Ankunft von sechs „Reisenden“ avisiert, die er am Flughafen von Nairobi abzuholen und „für einige Tage“ zu beherbergen habe. Die Gäste, so Bürochef Papajoannou, wollten auf Safari gehen. „Sorgen Sie für Löwen und Tiger“, lautete die Weisung des damals noch zu Scherzen aufgelegten Athener Ministerialbeamten.
Als das vom griechischen Geheimdienst gecharterte Flugzeug am Vormittag des 2. November in Nairobi eintrifft und Botschafter Kostoulas die „Safari-Gäste“ in Empfang nimmt, fällt er aus allen Wolken. Kostoulas erkennt sofort, um wen es sich handelt: Abdullah Öcalan, vier Begleiterinnen und den in Athener Diplomatenkreisen als Türkei-Experten nicht unbekannten griechischen Geheimdienstler Savvas Kalenderides. Während sich der PKK-Chef und seine Begleitung in der Residenz des Botschafters versteckt halten, versuchen griechische Diplomaten und Geheimdienstler, ihm politisches Asyl auf den Seychellen oder in Südafrika zu beschaffen, vergeblich. Auch der Plan, Öcalan Aufnahme in einem griechisch-orthodoxen Kloster in Kenia zu beschaffen, scheitert.
Die kenianischen Behörden hatten frühzeitig herausbekommen, wer der unter dem Namen Lazaros Mavros mit einem gefälschten zyprischen Paß eingereiste Gast des Botschafters wirklich war. Auch US-amerikanische und türkische Agenten beginnen nun, die Residenz rund um die Uhr zu beobachten. Der mit Öcalan nach Nairobi geflogene griechische Geheimdienstmann Kalenderides wird telefonisch von seinen Vorgesetzten in Athen bedrängt, Öcalan vor die Tür zu setzen. Er müsse „Oma“ so schnell wie möglich loswerden, lautet die Order. Kalenderides verweigert das. Daraufhin fliegt der griechische Geheimdienst am 14.  Februar ein vierköpfiges Spezialistenteam nach Nairobi ein, das den PKK-Chef aus der Residenz schaffen soll, notfalls mit Gewalt. Die vier Geheimdienstler kommen unbewaffnet nach Nairobi. Die Öcalan-Begleiterinnen aber verfügen über Schußwaffen. Außerdem wird bei ihnen ein geheimnisvoller Koffer ausgemacht - ein Sprengsatz, wie die Griechen fürchten. Die Agenten kapitulieren: „Zugriff nicht möglich“, es drohe ein Blutbad, telefoniert Joannis Bombos, Chef des Teams, der Behörde in Athen durch. Die Aktion wird abgebrochen.
Tags darauf, am 15. Februar, stellen die Kenianer dem griechischen Botschafter ein Ultimatum: Öcalans Anwesenheit sei bekannt, er müsse bis zum Nachmittag des gleichen Tags das Land verlassen. Man sei bereit, ihm ein Flugzeug für die Reise in ein Land seiner Wahl zur Verfügung zu stellen. Bleibe Öcalan, wisse man nicht, was in der nächsten Nacht passieren könne, drohen die Kenianer.
Botschafter Kostoulas eröffnet Öcalan, daß er ausgeflogen werden soll.
Der weigert sich zunächst: „Ich gehe nirgendwohin, ich bleibe hier!“ Nach langem Hin und Her willigt er schließlich ein, sich von den Kenianern nach Amsterdam ausfliegen zu lassen. Dort hofft er Asyl zu finden. Was Botschafter Kostoulas nicht weiß: Während die Beamten des kenianischen Außenministeriums Öcalan den Flug „in ein Land seiner Wahl“ versprechen, steht das Reiseziel längst fest. Am Flughafen von Nairobi wartet seit vier Tagen ein türkisches Spezialkommando mit einem startbereiten Falcon-Jet.
Am späten Nachmittag des 15. Februar fährt vor der Residenz eine Autokolonne vor. Abdullah Öcalan wird in einen blauen Toyota Land Cruiser gesetzt. Botschafter Kostoulas will zusteigen, aber die Kenianer verhindern das. Auch die Begleiterinnen Öcalans müssen in einem anderen Wagen Platz nehmen. Die Kolonne fährt los, aber schon nach kurzer Fahrtstrecke schert der blaue Land Cruiser aus und verschwindet. Am Flughafen angekommen, suchen Botschafter Kostoulas und die Öcalan-Begleiterinnen vergeblich nach ihrem Schützling. Zu diesem Zeitpunkt haben die Kenianer Öcalan bereits den Türken übergeben. Botschafter Kostoulas fährt mit einem Taxi in seine Residenz zurück und meldet nach Athen: „Wir haben die Oma verloren.“