junge Welt  03.03.1999

Warum unterstützen Sie als Türkin die Kurden?
junge Welt sprach mit Nebahat Dertli
(Nebahat Dertli ist Vorsitzende des Volkshauses der Türkei e.V. in Hamburg)

F: Wie bewerten Sie die Reaktion der kurdischen Bevölkerung in Deutschland auf die Entführung von Abdullah Öcalan?
Die Stimmung der Kurden in Deutschland und in Kurdistan kann man nicht voneinander trennen. Diejenigen, die im Exil leben, sind mit ihren Gedanken in der Türkei, in Kurdistan. Dort leben ihre Verwandten und Freunde. Die Kurden waren zunächst überall wie gelähmt, standen unter Schock. Ich bin keine Kurdin, sondern Türkin, doch ich habe genauso empfunden. Dann kam die Angst. Das Verschwindenlassen von Oppositionellen und die Folter sind in der Türkei etwas Alltägliches. Jetzt fürchteten alle, daß es noch schlimmer wird. Die türkischen Medien entfachten eine Pogromstimmung, und die Faschisten tanzten auf den Straßen. In einem solchen Klima machen sich die Menschen Sorgen um ihre Angehörigen, um das Leben ihrer Kinder. Ich erhielt Anrufe von Freunden aus der Türkei. Einige drohten damit, sich umzubringen. Andere machten mir Vorwürfe, weil wir in Europa nicht dafür gesorgt hätten, daß Abdullah Öcalan hier aufgenommen und geschützt wird. Die Menschen waren völlig verzweifelt. Die ersten Aktionen in Europa waren Ausdruck eben dieser Verzweiflung. Ich habe mich natürlich an den Protesten beteiligt. Das alles war doch wohl kein »Kurden-Krieg«. Die Menschen haben keine Waffen, sondern nur ihre eigenen Körper eingesetzt. Es gab niemals einen Aufruf, hier zu kämpfen und Menschenleben zu gefährden. Und Gewalt ist immer die Gewalt des Stärkeren gegen den Schwächeren. Da hätten die deutschen Behörden durchaus besonnener reagieren und damit etwas zur Beruhigung der Lage beitragen können.

F: Halten Sie die Bundesregierung für mitverantwortlich an der Eskalation?
Natürlich ist die Bundesregierung mitverantwortlich. Sie arbeitet nur noch mit Drohungen. Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Abschiebungen sollen die Kurden einschüchtern und davon abhalten, für ihre Rechte zu kämpfen. Aber es gibt eine noch schwerwiegendere Verantwortung. Die Bundesregierung hat die Chance, den Konflikt in Kurdistan friedlich zu lösen, nicht ergriffen. Mit der Ankunft Abdullah Öcalans in Europa hätte eine Zeit der Verhandlungen und Gespräche beginnen können. In Deutschland gab es einen Haftbefehl gegen ihn. Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Ich bin nicht für eine Anklage, aber das ist hier nicht wichtig. Wenn die Gesetze in Deutschland es so vorsehen, hätten sie ihn hier anklagen sollen. Sie beachten noch nicht einmal ihre eigenen Gesetze. Sicher spielte bei ihrer Entscheidung der Gedanke der Inneren Sicherheit eine Rolle. Sie wollten sich nicht mit den Kurden in Europa auseinandersetzen. Außerdem wäre die Beweislage in einem Prozeß gegen den PKK-Vorsitzenden dürftig gewesen, und irgendwann hätte die Türkei mit auf der Anklagebank gesessen. Darauf habe ich gehofft. Das wäre der Beginn einer politischen Lösung des Konfliktes gewesen. Die USA hätten sicher versucht, dieses zu verhindern. Sie wollen kurdische Bewegungen aufbauen und unterstützen, die kontrollierbar sind. Masud Barzanis KDP in Südkurdistan ist dafür ein gutes Beispiel. Die macht das, was ihr vom Westen diktiert wird. Die PKK dagegen wird bekämpft und soll vernichtet werden.

F: Hat die PKK den Kampf verloren?
Nach der Entführung Abdullah Öcalans sind die Kurden überall aufgestanden. Auf der ganzen Welt hat es Proteste gegen dieses internationale Komplott gegeben. Die PKK ist nicht besiegt. Die Entführung hat ihr Ziel verfehlt. Die USA und die Türkei haben das falsch eingeschätzt. Die Kurden sind sich wieder einiger geworden. Und Öcalan hat sehr viele Öcalans hervorgebracht, die den Kampf fortsetzen. Auch der Versuch, die PKK und Abdullah Öcalan zu trennen, wird zu keinem Ergebnis führen. Selbst wenn der PKK-Vorsitzende jetzt unter Folter und Drogen nicht mehr in der Lage ist, das kurdische Volk als Präsident zu vertreten, seine Ideen haben weiter Gültigkeit.

F: Was fordern Sie für Abdullah Öcalan und die anderen Gefangenen in der Türkei?
Als erstes natürlich die Lebensgarantie, nicht nur für die Gefangenen, sondern für das ganze kurdische Volk. Die von dem PKK-Vorsitzenden im türkischen Fernsehen gezeigten Bilder beweisen, daß er Drogen verabreicht bekommt. Es muß eine internationale Ärztekommission gebildet werden, die seinen Gesundheitszustand regelmäßig überwacht. An dieser sollte sich Deutschland beteiligen. In den letzten Wochen sind in der Türkei Hunderte Menschen von der Polizei und dem Militär an unbekannte Orte verschleppt worden. Hier sind die internationalen Menschenrechtsorganisationen aufgefordert, Nachforschungen anzustellen. Und die Bundesregierung sollte endlich aufhören, mit Drohungen und Repressionen zu reagieren. Niemand darf in die Türkei abgeschoben werden, und die Kriminalisierung der hier lebenden Kurden muß aufhören.

F: Von der sind Sie ja auch betroffen. Ihre beiden 16 und 17 Jahre alten Söhne befinden sich seit der Besetzung des Hamburger SPD-Büros in Untersuchungshaft.
Seit 22 Jahren leiste ich Widerstand gegen das türkische Regime. Wir mußten vor politischer Verfolgung aus der Türkei
fliehen. Seit zehn Jahren leben wir jetzt in Deutschland. Ich habe meine Kinder immer dazu erzogen, die Wahrheit zu sehen. Meine Kinder sind in einer politischen Familie großgeworden. Der Ältere engagiert sich seit drei Jahren im Hamburger Komitee zur Unterstützung der Samstagsmütter in Istanbul - für die Mütter, die jeden Samstag für ihre verschwundenen Söhne und Töchter demonstrieren. Er hat mitgefühlt, er hat sich selbst mit dem Schicksal der Verschwundenen identifiziert. Nie hat er jemandem Gewalt angetan. Bei der Besetzung des SPD-Büros ist keinem Menschen etwas passiert. Doch meine Kinder mußten in Deutschland erfahren, was Gewalt ist. Wir haben jetzt das erste Mal für sie die Koffer gepackt. Nicht für eine Reise. Für das Gefängnis. Seit zehn Jahren läuft unser Asylverfahren, die ganze Zeit durften auch die Kinder Hamburg nicht verlassen. Darunter haben sie sehr gelitten. Sie mußten Diskriminierung ertragen, die Erniedrigungen, nur weil ihre Haare schwarz sind. Das ist Gewalt.

Interview: Jörg Hilbert, Hamburg