taz. 18.2.1999

„Die Kurden sind bereit, den Kampf fortzusetzen“
Die Europasprecherin der PKK, Mesgin Sen, über die Folgen der Verhaftung Abdullah Öcalans 

taz: Was haben Sie empfunden, als Sie von der Verhaftung Öcalans erfuhren? 
Mesgin Sen: Das war ein Schock. Stundenlang herrschte Verwirrung darüber, was wir machen sollten - eine Stellungnahme abgeben oder nicht. 

Aber was haben Sie persönlich empfunden? 
Es war eine große Enttäuschung. Wir wußten, daß dieses Risiko bestand, auch in Eurupa. Wir haben versucht, die Angelegenheit publik zu machen, die EU dazu zu bringen, sich ihrer anzunehmen. Als ich dann die Nachricht hörte, habe ich gedacht: Wir sind von der EU und der internationalen Gemeinschaft betrogen worden. 

Waren Sie auf eine solche Situation vorbereitet? 
Ja und nein. Wir haben die Gefahr immer gespürt, aber wir haben versucht, nicht daran zu denken. Wir haben nie geglaubt, daß der Führer des kurdischen Volkes so einfach in die Türkei verschleppt werden könnte. 

Was bedeutet die Festnahme für die PKK? Manche meinen, Öcalan sei mehr als ein Generalsekretär, er sei die PKK. 
Er ist ein nationaler Führer, nicht nur Führer der PKK. Er ist immer noch eine bedeutende Figur. Aber dies ist ganz sicher nicht das Ende des Kampfes. Der Kampf geht weiter, weil es die kurdische Frage noch immer gibt. Es ist völlig ausgeschlossen, daß das kurdische Volk aufgibt. Wir sind bereit für eine politische Lösung. Wir ziehen eine politische Lösung vor. Aber die Türkei lehnt das ab. Deshalb sind die Kurden bereit, den bewaffneten Widerstand fortzusetzen. 

Welchen Einfluß hat Öcalans Verhaftung auf die Kurden? Entmutigt das nicht? 
Im Gegenteil. Sie wissen, daß der Kampf jetzt noch wichtiger ist - für seine Freiheit und für die Kurden. Jeder weiß, daß Öcalan das so gewollt hätte. Natürlich sind die Kurden über den Verlust verbittert.  Aber sie wissen auch, daß sie an die Zukunft denken müssen, daß wir nicht aufgeben können. 

Wird in der PKK über einen Nachfolger diskutiert? 
Ja. Derzeit findet ein Parteikongreß statt. Ich denke, das Öcalan immer der Führer des kurdischen Volkes bleiben wird. Aber in der Partei wird jetzt darüber diskutiert. Das Zentralkomitee hat sich getroffen, aber wir haben noch nicht gehört, ob jemand zum Präsidenten gewählt oder ernannt worden ist. Das wird sich in den nächsten drei Tagen zeigen. 

Glauben Sie, daß jemand die Rolle des unbestrittenen Führers übernehmen kann? 
Ich glaube nicht. Persönlich denke ich, daß es einen Nachfolger geben wird. Aber ich glaube nicht, daß irgend jemand so sein kann wie Präsident Abdullah Öcalan. Aber natürlich braucht jede politische Partei einen Präsidenten. Es gibt viele Leute, die diesen Job übernehmen können, und die Partei wird den geeignetsten wählen. 

Wird der Verlust Öcalans die PKK verändern? Bisher war es eine sehr zentralistische Organisation. Könnte sie sich jetzt öffnen, vielleicht sogar demokratisieren? 
Wir sprechen nicht über eine normale, legale Partei. Wir reden über eine verbotene Bewegung, die sich im Krieg befindet. Es wäre ein bißchen unfair, die PKK mit anderen Parteien zu vergleichen. Es ist richtig, daß Abdullah Öcalan eine sehr wichtige, starke Figur in der PKK war. Aber Dinge können sich immer verändern, auch in der PKK. Als Öcalan in Europa ankam, hat er selbst von Rücktritt gesprochen, von Umstrukturierung der Partei und der Armee. Das wird Auswirkungen haben. Nichts bleibt beim alten. 

Der militärische Arm der PKK hat in den letzten Monaten zahlreiche Niederlagen erlitten... 
Da muß ich widersprechen. Das ist die türkische Version. Wir haben weiterhin unsere Armee, und wir kämpfen weiter. Aber natürlich wird sich die Kriegsstrategie ändern müssen. 

Wie? 
Bisher findet der Krieg nur in Kurdistan in den Bergen statt. In Zukunft muß er ausgeweitet werden. Wir haben bisher einen Bergguerillakrieg geführt, keinen Krieg in den Städten. 

Wird also der Krieg jetzt in die türkischen Großstädte getragen? 
Ich fürchte, daß das unter den bestehenden Umständen passieren muß.  Die PKK und die Kurden haben alles für einen Dialog getan, einschließlich eines einseitigen Waffenstillstands und der Vorlage eines Friedensplans mit sehr moderaten Forderungen. Aber selbst das wurde abgelehnt. 

Demnächst werden also in Ankara, Izmir oder Istanbul Bomben explodieren? 
Das kann ich nicht sagen. Ich spreche von Krieg, Krieg so wie im Kosovo, in Exjugoslawien oder zwischen Israelis und Palästinensern.  Bei uns kämpft das kurdische Volk gegen den türkischen Staat. 

Interview: Thomas Dreger