Auszüge aus der Konsultation Öcalans mit seinem Verteidigerteam – 8.11.2006

Öcalan: Wer muss wen amnestieren?
Bei einem Gespräch mit Anwälten aus seinem Verteidigerteam hat Abdullah Öcalan die Türkei am 8. November aufgefordert, bis zum Frühjahr eine klare Antwort auf den von der PKK einseitig ausgerufenen Waffenstillstand zu geben. Wenn keine eindeutigen Schritte gesetzt werden, bliebe ihm nichts anderes übrig, als „die Freunde um Verzeihung zu bitten. Dann kann ich nur sagen, ich habe getan, was ich konnte, aber es hat nicht geklappt.“

Wahrheitsfindungs- und Gerechtigkeitskommission
Öcalan verwies auf die von der DTP und verschiedenen Intellektuellen durchgeführte Versammlung, auf der eine Unterstützung des Waffenstillstandsprozesses beschlossen worden war, und erklärte, es bestehe Bedarf nach einer Friedenskonferenz mit breiterer Beteiligung von Intellektuellen und Schriftstellern. Diese müsse alle übrigen Friedensinitiativen mit einschließen. Er halte es für einen bleibenden gesellschaftlichen Frieden für wichtig, dass die Gründung einer Wahrheitsfindungs- und Gerechtigkeitskommission auf die Tagesordnung genommen werde. „Es sollte keine Konferenz sein, wie sie ständig stattfinden, auf der Beschlüsse gefasst werden und hinterher nichts passiert. Notwendig ist die Gründung einer Wahrheitsfindungs- und Gerechtigkeitskommission ähnlich wie in Südafrika. Die angedachte Konferenz könnte dafür die Vorarbeit leisten. Die Situation in der Türkei ähnelt in vieler Hinsicht der in Südafrika.“ Eine solche Arbeit müsse auch von der Regierung unterstützt werden. Aufgabe der Kommission sei es, die von beiden Seiten im Verlauf des Krieges begangenen Verbrechen aufzuklären. „So wie der Staat viel Unrecht begangen hat, hat es auch von unserer Seite aus Unrecht gegeben. Die Kommission muss dieses aufdecken und dafür sorgen, dass die Täter die Gesellschaft um Verzeihung bitten.“ Die Arbeit einer solchen Wahrheitsfindungs- und Gerechtigkeitskommission sei zeitlich und in ihrer Funktion begrenzt. Nach Erfüllung ihrer Mission müsse sie sich auflösen.

Koordination der Zivilgesellschaft
Der zweite Schritt nach der Wahrheitsfindungs- und Gerechtigkeitskommission sei die Gründung einer Zivilgesellschaftskoordination. „Diese sollte jedoch nicht zeitlich begrenzt sein.“ Er wisse, so Öcalan, dass seine Worte oftmals Unverständnis hervorriefen: „Aufgrund der örtlichen und zeitlichen Bedingungen kann ich meine Gedanken nicht ausreichend erklären. In der Türkei gibt es Tausende zersplitterte zivilgesellschaftliche Organisationen. Wenn all diese sich unter einem Dach versammeln, entsteht eine Zivilgesellschaftskoordination.“ Alle Umwelt- und feministischen Organisationen, linke Gruppen, Gewerkschaften, politische Parteien, Frauen- und Jugendbewegungen sollten sich entsprechend demokratischer Prinzipien zusammen tun. „Auch religiöse Kreise, die hinter diesen Prinzipien stehen und der Meinung sind, dass die Türkei Demokratie braucht, sollten sich daran beteiligen können. Ebenso sollten Gespräche mit anderen kurdischen Organisationen und Persönlichkeiten geführt werden, um sie zu einer Teilnahme zu bewegen.“

Diyarbakir hat seine historische Rolle gespielt
Weiter machte Öcalan auf die besondere Rolle Diyarbakirs aufmerksam: „Bis heute hat Diyarbakir seine historische Rolle erfüllt, aber auch jetzt und in Zukunft muss es für eine Demokratisierung diese Rolle weiter spielen.“ Der Bevölkerung und den zivilgesellschaftlichen Einrichtungen in der Stadt falle eine große Aufgabe zu. Eine Vorreiterrolle dabei könnten Juristen von der Anwaltskammer spielen.
Eine Mitgliedschaft der DTP in der Sozialistischen Internationale und weiteren EU-Organisationen könne von Nutzen sein, legte Öcalan dar. Die DTP könne im Projekt der Zivilgesellschaftskoordination die Initiative ergreifen und es könne ein ähnliches Bündnis wie in Italien angestrebt werden.

Frauen als eine Nation
Seine Gedanken beträfen nicht nur die Türkei, sondern den gesamten Mittleren Osten, führte Öcalan weiter aus. In der Türkei könne eine einzige demokratische Nation geschaffen werden. Jedem das Türkentum aufzudrängen, stehe im Widerspruch zur Natur und soziologischen Regeln: „Es ist nicht möglich, dass in der Türkei jeder in ethnischer Hinsicht Türke ist. Eine solche Politik kann keine einheitliche Nation schaffen, sondern führt im Gegenteil zu einer Spaltung. Ich bin kein klassischer ethnischer Nationalist. Ich sehe auch die Frauen als eine Nation. Ich spreche von einer demokratischen Nation Türkei. Es ist möglich, eine gemeinsame Definition von Staatsbürgerschaft zu finden. Türken, Kurden, Lasen, Tscherkessen und alle weiteren ethnischen Identitäten können sich innerhalb einer Türkei-Identität zum Ausdruck bringen. Eine juristische Verbindung kann über die verfassungsrechtliche Staatsbürgerschaft hergestellt werden. So wie die Türken können sich dann auch die Kurden und andere ethnische Identitäten entsprechend ihrer eigenen Kultur frei organisieren und ihre eigene Sprache frei in allen Bereichen sprechen. Das muss gesetzlich gesichert werden. Die Schweiz, Großbritannien, Spanien und die USA haben das gemacht. Unsere Forderungen sind nicht darauf angelegt, die Türkei zu spalten. Es sind keine unmöglich umzusetzenden Forderungen, sondern vernünftige und demokratische Mindestforderungen. Was wir wollen, ist dass die Türkei auf EU-Standard kommt.“

Ohne Lösung der kurdischen Frage keine EU-Mitgliedschaft
Für die EU sei es unmöglich, die Türkei als Mitglied aufzunehmen, solange die kurdische Frage ungelöst und die notwendigen Kriterien nicht erfüllt seien. Kulturelle, soziale und politische Rechte müssten im Rahmen der EU-Kriterien gewährleistet werden. Öcalan betonte erneut die Bedeutung des Rechtes auf muttersprachlichen Unterricht und erklärte: „Aus diesem Grund bin ich sogar gegen die Ehe. Niemand soll es mir übel nehmen, aber ich würde kein Kind wollen, dass ich nicht mit seiner eigenen Kultur aufziehen kann. Das kommt mir würdelos vor. Wenn man seinem Kind nicht selbst einen Namen geben kann, wenn das Kind nicht in seiner eigenen Sprache sprechen kann, in seiner eigenen Sprache unterrichtet werden kann, dann erscheint es mir besser, überhaupt kein Kind zu haben. Deshalb habe ich nie an diese Art der Ehe und an Kinder gedacht. Wenn die türkischen Intellektuellen ein bisschen Empathie aufbringen, werden sie verstehen, wie schwer das ist. Mit dieser Denkweise und ohne eine Lösung dieser Probleme kann doch die Türkei nicht in die EU aufgenommen werden und es kann in dieser Form zu keinem bleibenden Frieden in der Türkei kommen.“

Agar kann Rolle von de Klerk spielen
Öcalan verglich die Situation von Kurden und Türken in der Türkei mit der von Weißen und Schwarzen in Südafrika und kommentierte die Verlautbarungen von Mehmet Agar zur Lösung der kurdischen Frage [Mehmet Agar, Vorsitzender der Partei des rechten Weges (DYP), ehemaliger Innenminister und verwickelt in den Susurluk-Skandal, hatte vor kurzem in Diyarbakir die Guerilla dazu aufgerufen, „anstatt in den Bergen zu kämpfen, in den Tälern Politik zu machen“. Diese Aussage fand große Beachtung in der Öffentlichkeit in der Türkei]. In Südafrika seien Schwarze jahrelang ausgebeutet worden. Später hätten die an der Macht befindlichen Weißen begriffen, dass sie das Land auf diese Weise nicht länger regieren könnten. De Klerk als Staatschef des Apartheid-Regimes habe gesehen, dass der klügste und logischste Weg eine Einigung sei. „Und so wurde Mandela nach jahrelanger Haft freigelassen. Mandela verhielt sich sehr reif. Er sann nicht auf Rache. Nach dieser gegenseitigen Einigung kam Mandela bei den ersten Wahlen an die Macht. Wenn den Verlautbarungen von Agar eine Fortsetzung folgt und er wirklich aufrichtig ist, kann er eine ähnliche Rolle wie De Klerk in der Türkei spielen. De Klerk war verantwortlich für die Misshandlungen der Schwarzen und die gesamte Apartheidpolitik. Auch was Agar in den neunziger Jahren gemacht hat, ist uns allen bekannt. Ich kann von hier aus nicht genau wissen, was Agar zu tun versucht, aber wenn er die Rolle De Klerks spielt, könnte das wichtig für die Türkei sein. Deshalb ist auch die Gründung einer Wahrheitsfindungs- und Gerechtigkeitskommission wichtig.“


Kritik an der AKP
Die Verlautbarungen Agars hätten zumindest eine Diskussion eingeleitet, teilte Öcalan mit und rief die AKP-Regierung dazu auf, so mutig wie Agar zu handeln und die Initiative zu ergreifen. Außenminister Gül habe verschiedene negative Erklärungen abgegeben, die er nicht richtig finde: „Was sollen wir noch machen? ‚Waffenstillstand’ hieß es, diese Phase wurde begonnen. Und ich habe meinen Part daran erfüllt. Ich stehe immer noch hinter dem Waffenstillstand. Ich glaube auch, dass die PKK ihren Part erfüllt. Auch sie stehen hinter diesen Entwicklungen. Niemand sollte sich auf dem Waffenstillstand ausruhen. Die Kurden verfolgen keinen nationalstaatlichen Nationalismus mehr. Die PKK hat sich vom Nationalismus entfernt.“

Warnung vor Faschismus
Ein auf dem Nationalstaat basierender Nationalismus werde dagegen von Barzani verfolgt. Das im Nordirak von den USA installierte staatsähnliche Gebilde entwickele sich Schritt für Schritt zu einem Nationalstaat. Die KDP arbeite auch daran, Parteien im Iran, in Syrien und in der Türkei zu gründen. In dem neu entstehenden Staat werde es dazu kommen, dass die Familien, die die Reichtümer in ihrem Besitz halten, noch reicher werden. Die Ausbeutung der Normalbevölkerung werde dagegen fortgesetzt. „Dieser Punkt ist mir sehr wichtig. In der Türkei ist der Nationalstaat auf höchster Ebene angelangt. Ein Beharren auf dem Nationalstaat wird nach dieser Etappe zum Faschismus führen. In Spanien und Deutschland haben ähnliche Prozesse stattgefunden. An die Katastrophen, die Hitler und Franko angerichtet haben, erinnert sich die gesamte Menschheit. Erst nachdem Millionen Menschen den Tod gefunden hatten, konnte der Nationalstaat und der Faschismus als seine letzte Entwicklungsstufe überwunden werden. In der Türkei tragen bestimmte imperialistische Kräfte bzw. ihnen bewusst oder unbewusst dienende Kräfte, also die Vertreter des Nationalstaates, dazu bei, dass die Türkei diesen Weg einschlägt. Deniz Baykal [CHP-Vorsitzender] weiß nicht, was er tut. Das beste Beispiel dafür, dass der Nationalstaat keine Lösung darstellt, ist der Palästina-Israel-Konflikt. Die Auseinandersetzungen hören nicht auf, jeden Tag sterben Menschen, es kommt nicht zu Frieden. Aus diesem Grund kann das Nationalstaatsmodell keine Lösung für die strukturellen Probleme im Mittleren Osten sein.“

Schiitisch-kurdische Föderation im Süden
In Südkurdistan bestehe eine schiitisch-kurdische Allianz, die von Talabani angeführt werde, erklärte Öcalan weiter. In der Praxis bestehe eine schiitisch-kurdische Föderation. Der Iran unterstütze eine solche Macht natürlicherweise, ebenso wahrscheinlich China und Russland. „All diese Entwicklungen sind gefährlich für die Region. Es kann zu einem Chaos kommen, aus dem es keinen Ausweg gibt. Anstelle der seit der Zeit von Yavuz bestehenden 500-jährigen kurdisch-türkischen Allianz tritt allmählich eine schiitisch-kurdische Allianz. Die Basis verschiebt sich. Wird das nicht gesehen? Mit dem Nationalstaatsmodell können weder Syrien noch Iran oder ein anderer Staat es mit den USA aufnehmen. Saddam hat sich gegen die USA gestellt, was aus ihm geworden ist, ist bekannt. Ich glaube auch nicht, dass das, was im Irak im Namen des Widerstandes unternommen wird, zum Erfolg führen kann. Gar nichts machen, weil die Macht der USA schon ausreicht, kann auch nicht richtig sein. Die Macht und die Politik der USA in der Region muss man sich vor Augen halten. Mein Vorschlag ist es, über eine Konföderation der Zivilgesellschaft den nationalstaatlichen Nationalismus zu überwinden.“

Staat soll auf Waffenstillstand eingehen
Auch nach Ausrufung des Waffenstillstandes durch die PKK habe es den gesamten Oktober über Militäroperationen gegeben und Menschen seien zu Tode gekommen. „Ich will, dass kein einziger weiterer Mensch stirbt. Auch die Armee profitiert nicht von diesen Operationen. Auf diese Weise kann es zu keiner Lösung kommen. Es ist nicht möglich, die PKK durch Krieg zu vernichten.“ Die Türkei müsse bis zum Frühjahr auf den Waffenstillstand antworten: „Wenn das nicht geschieht, kann ich auch nichts mehr machen. Ich kann bereits jetzt sagen, dass wenn es bis zum Frühling nicht zu positiven Schritten kommt, werde ich mich bei allen Freunden entschuldigen. Dann bleibt mir nur zu sagen, dass ich alles getan habe, was in meiner Macht steht, aber es hat nicht ausgereicht. Und sie werden selbst entscheiden, was sie danach machen. Niemand soll behaupten, dass ich die Verantwortung trage. Wenn weiter auf Vernichtung gesetzt wird, werden sie kämpfen, um sich selbst zu verteidigen. Wenn wirklich eine Lösung gewollt wird und die notwendigen Schritte gesetzt werden, dann werde ich tun, was in meiner Macht steht, um die PKK aus den Bergen zu holen. Aber wenn nichts für eine Lösung getan wird, was kann ich dann noch tun?“

Wer kann wen amnestieren?
Allein eine Generalamnestie führe noch nicht zu einer Lösung der kurdischen Frage, betonte Öcalan. „Eine Amnestie ist nur ein Punkt von vielen in einer Lösung.“ Öcalan erinnerte an ein früher veröffentlichtes, aus zehn Punkten bestehendes Lösungspaket: „Wer kann wen amnestieren? Das habe ich bereits früher gesagt, wer wird die amnestieren, die eine Amnestie erlassen? Diese brauchen eine Amnestie ohnehin noch nötiger. Die Wahrheitsfindungs- und Gerechtigkeitskommission wird das aufklären. Die wirklich Schuldigen werden gegenseitig ihre Fehler öffentlich einräumen und um Verzeihung bitten. Nur so kann ein bleibender Frieden gewährleistet werden.“
Quelle: ANF, 10.11.2006, ISKU

Übersetzung aus dem Türkischen