Auszüge aus der Konsultation Öcalans mit seinem Verteidigerteam am 31.05.2006

Die Lösung liegt in einer pluralen Demokratie Türkei
In der Türkei gibt es einen ernsten Kampf zwischen den Kriegstreibern und den Befürwortern der Demokratie und einer friedlichen Lösung. Im kommenden Monat wird sich herausstellen, wer die Oberhand behält. Es gibt diejenigen, die eine Eskalation der Gewalt befürworten. Die Vorfälle von Semdinli und im Obersten Gerichtshof zeigen, dass die Kriegsclique aktiv ist. Das neue Anti-Terror-Gesetz, das sie verabschieden wollen, zielt in die gleiche Richtung. Das Anti-Terror-Gesetz ist eine offene Einladung zum Krieg. Wenn Kinder ihr Recht auf muttersprachlichen Unterricht fordern, wird man sie wegen „Organisationspropaganda“ ab einem Alter von 15 Jahren ins Gefängnis werfen können. Statt einem Anti-Terror-Gesetz muss das Parlament ein Demokratiepaket verabschieden. Wir warten auf eine solche Initiative, stattdessen beharrt man mit dem Antiterrorgesetz auf kollektiver Vernichtung. Das kurdische Volk wird das nicht akzeptieren. Der totalen Vernichtung wird es einen kollektiven Aufstand entgegensetzen. Die Vorfälle von Diyarbakir hatten den Charakter einer Generalprobe dafür. Daraus sollte man lernen. Damit sich so etwas nicht wiederholt, müssen sich alle vereint der Verabschiedung des Antiterrorgesetzes entgegenstellen.
Ich war jahrelang ein Teil der PKK. Ich kenne die PKK sehr gut und sage dies, weil ich sie kenne. Man versucht, durch eine Dreierallianz USA-Türkei-Irak auf ihre Vernichtung zu drängen. Wenn von Südkurdistan aus mit Operationen auf einen Vernichtungsprozess gedrängt wird, dann wird die Türkei „irakisiert“. Ich schätze, dass die PKK gut vorbereitet ist, dass sie eine totale Verteidigung leisten kann. Die Naturgegebenheiten und das Klima sind dafür geeignet. Zurzeit gehören vielleicht an die 10.000 Personen der Guerilla an, diese Zahl würde dann steigen. Es gibt tausende von Jugendlichen. Weil ich Jahrelang ein Teil der PKK war, kenne ich sie sehr gut; wenn ein totaler Krieg beginnt, können Situationen entstehen, die die PKK nicht mehr unter Kontrolle zu halten in der Lage ist. Leider hat es in der Vergangenheit derartig Dinge gegeben. Dies geschah außerhalb meiner Kontrolle, da, wo ich mich nicht durchsetzen konnte. In Dörfern wurden Zivilisten getötet. Damals ist es mir nicht gelungen, das zu verhindern. Wenn die Türkei sich „irakisieren“ würde, entstünde ein furchtbares Panorama, in dem solche unkontrollierten Aktionen, die in der Vergangenheit in Dörfern abgelaufen sind, in die Städte wanderten. Dann stürben Zehntausende. Ich staune darüber, wie die Türkei das nicht zu erkennen scheint.

Gerade habe ich im Radio gehört, dass bei einem Gefecht insgesamt fünf Personen ums Leben gekommen sind. Das ist traurig, ein Jammer. Ich hatte seinerzeit Herrn Erdogan einen Brief geschrieben. Bei den Vorfällen in Diyarbakir sind Kinder ums Leben gekommen. Die Händler und Geschäftsleute in Diyarbakir beschweren sich, dass ihre Läden verwüstet worden sind. Aber wenn die Ursachen für diese Vorfälle nicht beseitigt werden, dann wird man vielleicht außer dem eigenen Laden noch viel mehr verlieren. Daher müssen sich alle darum bemühen, diesen Prozess zu stoppen, müssen sich alle für eine demokratische Lösung in Bewegung setzen.

Zu diesem Zweck kann man beispielsweise in Diyarbakir einen 400 Personen umfassenden Stadtrat gründen. So etwas kann man auch in anderen großen Städten wie Van oder Batman verwirklichen. Ein regionaler Rat ist ebenso möglich. Dort kann man alle Arten von Problemen diskutieren. In dieser Richtung kann man weiterdenken.

Ich will jetzt etwas zur Lösung sagen. Seit ich 1999 hierher gebracht wurde, habe ich mich in meinen Schriften um eine demokratische Lösung und einen dauerhaften Frieden bemüht. Meine ganze Anstrengung gilt diesem Ziel. Ich habe am Ende dieses Prozesses die PKK überzeugt, diese Tatsache ist von großer Bedeutung. Sowohl die PKK als auch die Bevölkerung stehen zu mir. Das weiß ich. Dies bietet eine einmalige Gelegenheit, diese muss man nutzen. In diesem Sinne ist es positiv, dass es mir in den letzten vier Wochen möglich war, mit Ihnen zu konsultieren. Es ist jedoch notwendig, dass es in diesem Sinne weitergeht, dass konkrete Schritte unternommen werden.

Für eine Lösung muss ein zweistufiger Prozess umgesetzt werden. Das ist besonders wichtig.
In einer ersten Stufe muss das Antiterrorgesetz sofort zurückgezogen werden. Stattdessen sollte das Parlament Erdogan ermächtigen, den Weg des Dialogs für eine Lösung zu nutzen, wie das spanische Parlament Zapatero bevollmächtigt hat. Durch diese Initiative wurde die Gemeinsamkeit gestärkt, und davon profitierten sowohl Zapatero als auch das Land. In diesem Zusammenhang werde ich Briefe an den Parlamentspräsidenten Bülent Arinc, an Parlamentarier und auch an den Staatspräsidenten Sezer schreiben. Der Staat sollte grünes Licht geben, wenn auch nur ein ganz kleines, und einen Schritt wagen. Das ist wichtig.

Auf der zweiten Stufe müssen die Operationen eingestellt werden und die Kräfte der türkischen Armee sich zurückziehen. Die PKK darf außer im Fall der absolut zwangsläufigen Notwehr keine Waffen gebrauchen. Dann werde ich alles in meiner Kraft Stehende für einen unbefristeten Waffenstillstand tun. Wenn der Prozess in dieser Weise weiter funktioniert, werden die Kräfte aus den Grenzen [der Türkei] abgezogen. Wenn im Folgenden die Türkei die Bedingungen dafür schafft, werden diese Kräfte die Waffen endgültig niederlegen und sich am demokratischen politischen Leben beteiligen. Diesem Prozess messe ich große Bedeutung bei. Ich möchte, dass er gut vermittelt wird. Diese Lösung steht nicht im Widerspruch zur unitären Struktur des Staates. Ich bin nicht gegen die unitäre Struktur. Eine Lösung kann es sowohl innerhalb der unitären Struktur geben als auch außerhalb. Für mich ist das Entscheidende die Lösung des Problems.
Die Republik Türkei haben die Kurden gemeinsam mit den Türken gegründet. Damals war die Verwendung von Begriffen wie Kurdistan, kurdische Nation, kurdisches Volk ganz normal. Die Kreise, die von der nationalistischen Welle erfasst wurden, die sich in den 1920er und 1930er Jahren auf der ganzen Welt ausbreitete, drängten die Interessen des kurdischen Volkes zurück und begannen einen Prozess von Verleugnung und Vernichtung. Europa hat diese Phase schon lange hinter sich gelassen. Ich muss nicht lange erklären, wie die Lösungen zwischen der spanischen Regierung und der ETA, den Basken und den Katalanen, zwischen England und Schottland, Wales und Nordirland oder auch in Belgien aussehen, das ist bekannt. Ich sage nicht, diese Lösungen sollten eins zu eins übernommen werden, sie können an die Bedingungen der Türkei angepasst werden. Zapateros Modell eines „pluralen Spaniens“ kann in der Türkei umgesetzt werden. Ich nenne das „Plurale Demokratie Türkei“.

Ich bemühe mich seit 15 Jahren um eine realistischen und dauerhaften Frieden in der Türkei, davon 7,5 Jahre hier. 1993, in der Ära Özal, wurde uns der Vorschlag übermittelt, den Krieg zu beenden und mit der Bewegung am politischen Leben teilzunehmen. Wir haben entsprechende Schritte unternommen, aber der Prozess kam nicht in Gang. Während der Regierungszeit Erbakans bekam ich dreimal Briefe über Syrien. Sie enthielten einen Aufruf, den Krieg zu beenden und uns am politischen Leben zu beteiligen. Aber die dafür notwendigen Schritte wurden nicht unternommen. Seit ich hierher verbracht wurde, habe ich alles mir mögliche für Frieden und eine demokratische Lösung getan. Ich habe erreicht, dass die bewaffneten Kräfte sich aus den Grenzen [der Türkei] zurückgezogen haben. Diese Phase hat ungefähr fünf Jahre angedauert. Währende der Regierungszeit von Ministerpräsident Ecevit gab es einige positive Entwicklungen. Aber die AKP-Regierung hat von Anfang an pragmatisch und opportunistisch gehandelt. Herr Erdogan sagte, „Wenn ihr nicht an die kurdische Frage denkt, gibt es sie auch nicht,“ und tat so, als sei nichts gewesen und als existiere die kurdische Frage nicht. Er hat die bloße Existenz der kurdischen Frage geleugnet. Dann haben sie gedacht, das Problem mit einer halben Stunde Fernsehen auf Kurdisch lösen zu können. Das war nicht realistisch, und so sind wir da, wo wir heute sind. Jetzt heißt es seit einigen Monaten, die AKP sei als Regierungspartei mit einem eigenen Willen erledigt. Die AKP deckt sich mit der Armee. Während die AKP die Durchdringung des Staatsapparates durch ihre Kader verstärkt, überlässt sie die Lösung der kurdischen Frage komplett der Armee. Es liegt jedoch auf der Hand, dass diese Angelegenheit nicht vom Militär gelöst werden kann. Wenn sie sie lösen könnte, hätte sie sie während der letzten 20 Jahre gelöst. Die Gefechte führen zu neuen Problemen. Das Problem würde auch durch die Vernichtung der PKK nicht beseitigt. An die Stelle der Toten kommen neue. Man hat versucht, den Eindruck zu vermitteln, die PKK sei am Ende, indem man behauptete, sie sei zerfallen und gespalten. Es hat sich gezeigt, dass dem nicht so ist. Es zeigt sich sogar, dass die PKK auch im Iran, im Irak und in Syrien stark organisiert ist.

Übersetzung aus dem Türkischen