Auszüge aus der Konsultation Öcalans mit seinem Verteidigerteam am 24. 5.2006

Dialoge in Spanien, Vorbild für Türkei
Dass der spanische Ministerpräsident Zapatero Gesprächen mit der ETA zustimmt, ist eine positive Entwicklung. Zapatero hat einen Begriff verwendet, dem ich hundertprozentig zustimme. Er redet von einem „pluralen Spanien“. Ich rede von einer „pluralen Demokratie Türkei“. Spanien besteht aus sieben Regionen und 17 Provinzen. Obwohl die ETA nur eine kleine Organisation ist, akzeptiert die spanische Regierung Verhandlungen mit ihr. Israel sagt zur Hamas: „Erkenne mein Existenzrecht an, und wir sind bereit zum Dialog mit Dir.“ Karzai sagt zu den Taliban: „Kommt und macht Politik.“ Im Sudan finden Verhandlungen zwischen der Regierung und den Guerillagruppen statt. Selbst Gaddafi erklärt, dass die Israel-Palästina-Frage durch eine „Isra-Fil“ (Isra-Pal) Formel gelöst werden könnte, die den Nationalstaat überwindet. Wir haben solche Verhandlungen schon längst verdient. Gespräche zu verweigern zeugt von einer unangemessenen Überheblichkeit.

Die Türkei kann sich an Spanien ein Beispiel nehmen. Soweit ich informiert bin war Katalonien ohnehin autonom, aber durch die neuen gesetzlichen Regelungen wird diese Autonomie noch ausgeweitet. Das ist der Punkt, wo das „plurale Spanien“ ins Spiel kommt. Es gibt außer in Spanien auch in der Schweiz, in Belgien und auch in der Bundesrepublik Deutschland Vorbilder, über die man diskutieren sollte. Ich sage nicht, dass man eines dieser Vorbilder eins zu eins nachahmen sollte, aber die Türkei kann von diesen Vorbildern profitieren und eine eigene, türkeispezifische Lösung finden. Wie ich schon beim letzten Mal betont habe, reicht es angesichts dieser Entwicklungen auf der Welt , wenn die Türkei sagt: „Kommt, macht Politik.“

Kriminelle Banden in der Türkei
Ich verfolge die Ereignisse um das Attentat im Obersten Gerichtshof. Das ist eine äußerst gefährliche Situation. Der Attentäter kommt aus Bingöl. Auch Mahmut Yildirim, der unter dem Namen „Yesil“ in den 90er Jahren viele der „Morde unbekannter Täter“ organisiert hat, stammt aus Bingöl. Es handelt sich um dieselbe Strömung, die sich aus derselben Quelle speist. Sowohl die AKP als auch Deniz Baykals CHP versuchen, daraus politisches Kapital zu schlagen. Beide sind jedoch im Unrecht. Die CHP beharrt auf der nationalistischen Linie der 1920er und 30er Jahre. Die AKP bewegt sich auf der Linie der Türkisch-Islamischen-Synthese, also einer islamisch-nationalistischen Linie. Diese beiden Haltungen bringen keine Lösung. Die Lösung liegt vielmehr in den Thesen, die ich hier vorlege. Das Prinzip des Laizismus als einem der grundlegenden Prinzipien der Republik ist von großer Bedeutung. Ich negiere die Religion nicht, ich bin nicht antireligiös. Über die Religion habe ich viel gesprochen und geschrieben, meine Haltung zu dem Thema ist bekannt. Die Religion ist eine Kultur, sie hat ein Existenzrecht genau wie es andere Kulturen haben. Ich rufe Deniz Baykal auf, mich nicht als schädlich für die Türkei darzustellen. Ich rufe auch den Ministerpräsidenten auf, seine Rede von Diyarbakir in die Praxis umzusetzen. Er ist der Ministerpräsident, er kann diesbezüglich die Initiative ergreifen. Ich tue in dieser Hinsicht das Meinige, ich unterstütze ihn.

Als ich noch in Syrien war, habe ich einen Brief aus der Türkei bekommen. Der Absender war zwar nicht genau auszumachen, aber ich nehme an, dass er aus Armeekreisen kam. Im Brief wurde an mich die Frage gerichtet: „Was kann es den Kurden nützen, wenn die Republik zerschlagen wird, die Türkei zersplittert?“ Das war noch vor unserer Waffenstillstandserklärung. Ich habe darüber ausführlich nachgedacht. Ich bin überzeugt, dass der Absender recht hatte, weil ich die gemeinsame Geschichte beider Völker kenne und an der Utopie einer gemeinsamen Zukunft festhalte.

Wir haben eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Kultur und haben gemeinsam für die Gründung der Republik gekämpft. Die Republik, die durch den Sieg Mustafa Kemals in den 1920er Jahren erreicht wurde, ist genauso eine Errungenschaft der Kurden, wie sie ein. Errungenschaft der Türken ist. Übrigens hat selbst Mustafa Kemal Gesandte zu Scheich Mahmut Bersendschi geschickt. Dieser Kampf war genauso der nationale Befreiungskrieg der Kurden, wie er der der Türken war.

Man hat einen Staat für die Armenier gegründet, aber der größte Teil armenischen Bodens blieb dabei außen vor. Wenn man damals einen Staat für die Kurden gegründet hätte, hätten sie lediglich die Gegend um Hakkari und Sirnak bekommen. Als die Republik gegründet wurde, gab es eine türkische Militär- und Wirtschaftsschicht. Weil die Kurden überwiegend feudal geprägt waren, existierte diese Schicht bei ihnen nicht. Mit dem Prozess von Aufständen und ihrer Niederschlagung sowie der Verleugnung und Vernichtung der Kurden hat die Republik viel verloren. Aus diesem Grund wurden die Kurden ins zweite Glied abgedrängt. Die Kurden probten damals den Aufstand, weil auf der einen Seite das Kalifat abgeschafft wurde, auf der anderen Seite die Briten wegen der Mossul-Frage den Nationalismus schürten. Diese Aufstände wurden gewaltsam niedergeschlagen. Mustafa Kemal hat Ismet Inönü gegenüber gelegentlich gestanden, dass über die Maßen Gewalt eingesetzt wurde. Die Haltung, die die Republik ab dem II. Weltkrieg und seit den 1950er Jahren in der Frage an den Tag legt, hat sie in die Sackgasse geführt.

Als wir in den 1970er Jahren die PKK gründeten, interpretierten wir das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Recht auf die Gründung eines eigenen Staates. Damals gab es auch keine Alternative dazu. Daher war der Aufbruch der PKK damals richtig, und dazu stehe ich auch heute noch. Auch der sowjetische Realsozialismus vertrat damals diese Auffassung. Schon Lenin warnte damals vor den chauvinistischen Emotionen Stalins. Nach siebzig Jahren führte Stalins Linie schließlich zum Zusammenbruch. Das gleiche gilt für China. Auch in Südamerika, Südostasien und dem Mittleren Osten fehlte bei der Entwicklung das demokratische Element. Ich habe mich mit all diesen Modellen intensiv befasst. Lenin, Bakunin, Trotzki, Stalin und die bürgerlichen Demokratien laufen alle letztlich auf das Gleiche hinaus und setzen das Selbstbestimmungsrecht der Nationen mit dem Nationalstaat gleich. Der Nationalstaat wurde zum Endpunkt aller dieser Ideologien. Der Nationalstaat bedeutet jedoch Blut und Tränen, die Verschwendung des Nationaleinkommens durch das Kapital. Nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, auch in politischer Hinsicht hat er große Verluste mit sich gebracht.

In den USA hat es in dieser Form einen Nationalismus und einen Nationalstaat nie gegeben. Auch Großbritannien ist kein Nationalstaat. Die Stärke der USA beruht nicht nur auf seiner militärischen Macht, sondern auf der Tatsache, dass sie nicht in dieser Weise nationalistisch sind und ein wenig von Demokratie verstehen und umsetzen. In der EU ist es Frankreich, das auf dem Nationalismus beharrt und in einer Volksabstimmung die europäische Verfassung abgelehnt hat. Frankreich hat seit 1958 die Fünfte Republik, aber dass sie immer noch auf dem Nationalstaat beharren, stellt ein Hindernis für die Europäische Union dar. Wenn Frankreich weiter auf dieser Linie des Nationalstaats beharrt, dann kann das in der Zukunft zu einem Zerfall der EU führen. Entweder wird sich Frankreich ändern, oder die EU wird zerfallen. Frankreich muss sich vom Nationalismus verabschieden.

In einer Zeit, da die Fünfte Republik in Frankreich nicht mehr zeitgemäß ist, kann es die Türkei mit ihrer Republik, die als Imitation der Dritten Französischen Republik gegründet wurde, erst recht nicht sein. Die Türkei hat immer noch ein Verständnis von der Republik wie in den 1920er und 30er Jahren. Mustafa Kemal wurde 1881 geboren. In den 1880er Jahren bestand in Frankreich die Dritte Republik. Als Mustafa Kemal die Republik gründete, übernahm er das Verständnis der Dritten Französischen Republik. Damals war die Dritte Republik fortschrittlich, aber unter den heutigen Bedingungen kann sie das unmöglich sein.

Die Rede Zapateros vom „pluralen Spanien“ ist von großer Bedeutung. Meiner Meinung nach, sollte auch die Türkei über den Begriff „plurale Demokratie Türkei“ reden, ihn diskutieren. Seit Jahren wird in der Türkei der Nationalismus geschürt. Ich habe das „Rote Apfel“-Fraktion genannt [nach einem Buch Z. Gökalps, Amn. d. Ü.]. Momentan redet man über eine Koalition zwischen MHP und CHP. Das ist wie, in einen mit Nationalismus gefüllten Krug Wasser zu gießen. Der Krug läuft über, und niemand hat etwas davon. Man muss sich vielmehr auf das Prinzip Atatürks konzentrieren, das am meisten vergessen worden ist: das der Volksnähe. Volksnähe bedeutet Demokratie. Der Krug der Volksnähe ist zurzeit leer. In diesen Krug muss man Wasser gießen. Es ist vernünftiger, Wasser in einen leeren Krug zu gießen, als es in einen vollen zu gießen.

Wenn ich vom Kemalismus rede, geht das ein wenig in die Richtung der Dinge, die Kemal Dervis [CHP] gesagt hat. Aber er hat es nicht konsequent weitergeführt. Auch Kemal Dervis hat versucht, den Begriff der „pluralen Demokratie“ zu verwenden, aber er konnte sich innerhalb der CHP nicht durchsetzen. Der AKP wird es vielleicht gelingen, mit liberaler Politik ihr Leben zu verlängern, aber eine dauerhafte Lösung kann es nur mit dem Begriff einer pluralen Demokratie und der von mir schon erwähnten „demokratischen Nation Türkei“ geben.

Die primitiven Nationalisten kritisieren mich wegen dieser meiner Ansichten heftig. Sie werden vielleicht Staatspräsident oder Ministerpräsident, aber ihren Status haben sie auf unserem Rücken gewonnen. Es ist auch unklar, wie lange sie diesen Status innehaben werden und wo das alles hinführt. Die Türkei versucht gegen uns eine Allianz zu schmieden, die aus dem Iran, dem Türkei und der jetzigen irakischen Regierung besteht. Aber das wird keine Lösung bringen, damit werden sie keinen Erfolg haben. Die Türkei will uns liquidieren. Das schaffen sie nicht, und eine solche Liquidierung würde ihnen auch gar nichts nützen. Selbst wenn wir annehmen, dass es ihnen gelänge, würde statt dessen die Gesinnung der Attentäter vom Obersten Gerichtshof auf den Plan treten. Diese Gesinnung ist eine Gesinnung vom Typ Irans oder Saudi Arabiens. Dafür gibt es auch eine Basis in der Region [gemeint: Kurdistan, Anm. d. Ü.]. Die Kurden würden dann in den radikalen Islam abgleiten. Als Sultan Mahmut II. die Janitscharenregimenter auflöste, stützten sich die Janitscharen auf den Bektaschi-Orden. Nach den Janitscharen stieß die Gesinnung der Nakschibendi-Bruderschaft in diese Lücke im Staat. Die Nakschibendi stammen aus Bagdad und haben kurdische Wurzeln. Uns zu liquidieren würde bedeuten, dass es zu einem Konflikt der Türkei mit kurdisch-islamischen Gruppen und Personen kommt, die es auf einen Staat abgesehen haben. Dann würden die Staatsschulden auf Billionen von Dollar ansteigen. Im Moment betragen die Staatsschulden der Türkei 400 Milliarden Dollar. Der Staat hat keine Profite mehr an irgendjemanden zu verteilen. Dann wird die Türkei sich „irakisieren“. Im Irak sterben täglich Dutzende Menschen. Wenn diese Gesinnung überhand nimmt, dann werden viele sterben, ohne dass sie wissen, wie es dazu gekommen ist. Die Türkei muss sich dieser Gefahr bewusst sein.

Ich richte eine Warnung an Deniz Baykal. Er redet davon, dass das Antiterrorgesetz eine Amnestie für mich bringe. Ich habe nicht die Absicht, um eine Amnestie zu betteln. Das habe ich schon während der Vernehmungen gesagt. Wer mich amnestieren will, muss vorher selbst von diesem Volk amnestiert werden. Baykal stellt mich ständig ins Zentrum seiner Politk. Er imitiert den Atatürk von 1924. So natürlich ein Original ist, so karikaturenhaft ist eine Imitation. Denn die Imitation einer Sache kann nichts anderes bedeuten als ihre Karikatur.

Bedauern über alle Opfer der Gefechte
Ich habe gehört, dass es in den letzten Tagen Gefechte gegeben hat. Ich gedenke mit Respekt unserer Gefallenen. Auch die getöteten Polizisten und Soldaten tun mir sehr leid. Ein Beharren auf der Gewalt [von staatlicher Seite] wird die PKK noch weiter stärken. Die jüngsten Vorfälle zeigen, dass die PKK die Stärke besitzt, einen allgemeinen Aufstand auszulösen. Ich schätze, dass es um die 10.000 Guerillaangehörige gibt, und wenn es so weitergeht, wird diese Zahl auf 50.000 steigen. Es liegt auf der Hand, dass dabei letztlich niemand gewinnt. Wenn ich in der gegenwärtigen Lage, da es keine konkreten Fortschritte gibt, einen Aufruf mache, dass die PKK die Waffen niederlegen soll, werden sie mir Verrat und Kapitulation vorwerfen. Die PKK wird das nicht akzeptieren, ich kann in der gegenwärtigen Situation einen solchen Aufruf nicht machen.

Das „Komala“-System
Ich habe schon früher das „Komala“ (Kommunen- oder Community-) System erläutert. Das Komala-System bedeutet nicht, einen Staat zu gründen. Es geht auch nicht um einen klassischen Föderalstaat und nicht um klassische konföderierte Staaten. Es geht um die demokratische Selbstbestimmung des Volkes durch nichtstaatliche Organisierung. Das Kommunensystem bedeutet also, die Bevölkerung überall und in jeder Hinsicht zu organisieren. Mein Vorschlag dazu ist, tausend Organisierungen und Vereine zu gründen. Das können zum Beispiel ein Verein zur Dorfverschönerung, zur Aufforstung eines Dorfes sein oder auch ein Eichenpflanzverein. Das historische Hasankeyf droht durch den geplanten Staudamm überflutet zu werden. Ein Verein kann sich dafür einsetzen, dass wenn überhaupt, dann ein kleinerer Staudamm gebaut wird. Man kann Umweltschutzvereine und tausende zivilgesellschaftliche Organisationen unter tausend Namen gründen.

Übersetzung aus dem Türkischen