Auszüge aus der Konsultation Öcalans mit seinem Verteidigerteam – 17.05.2006

Dort, wo meine Aussagen in der Presse verzerrt werden, sollt man sie richtigstellen. Man muss der türkischen Öffentlichkeit gegenüber klarstellen, dass es sich nicht um taktische Überlegungen handelt, dass ich auch vor Imrali derartige strategische Überlegungen angestellt habe und dass ich in meinen Ansichten aufrichtig bin. Es gibt Leute, die behaupten, dass ich Unsinn rede. Es gibt solche, die mich des Stalinismus bezichtigen. Meine Ansichten sind strategischer Natur. Ich habe ausgeführt, wie sehr ich gegen Dogmatismus bis und wohin der Dogmatismus führen kann.

Im Westen findet seit 300 Jahren ein Prozess der Aufklärung statt. Vor der Aufklärung folgte der Dialog und das Wechselspiel zwischen den Menschen und den politischen Machthabern einer religiösen Logik. Das gilt für das Christentum ebenso wie für den Islam. Später haben nationale und klassenbezogene Gesinnung diesen Platz eingenommen. Nietzsche ist der letzte große Philosoph der westlichen geistlichen Systematik oder sogar, wenn der Ausdruck erlaubt ist, ihr letzter großer Prophet. Schon damals hat er das Heute gesehen. Es gibt solche, die ihn des Rassismus und Faschismus bezichtigen. Ich finde diese Behauptung nicht zutreffend. Tatsächlich ist er später dem Wahnsinn verfallen. Aber entscheidend ist, dass er schon damals die heutige Realität vorausgesehen hat.

Nach dem Sieg Deutschlands über Frankreich 1871 begann sich die Einheit Deutschlands zu festigen. Als die deutsche Einheit errichtet wurde, herrschte überall eine große Begeisterung, aber Nietzsche wurde von einem tiefen Pessismismus erfasst. Über das politische System der Menschheit, einschließlich der Einheit seines eigenen Staates, sagte er: „Gott ist tot.“ Michel Foucault fügte dem später noch sein „Auch der Mensch ist tot“ hinzu. Tatsächlich erlebte die Menschheit nach der deutschen Einheit im 19. Jahrhundert dann im 20. Jahrhundert die größte Tragödie der Menschheit, den zweiten Weltkrieg und das Massaker an den Juden. Nietsche jedoch hat das vorausgesehen. All das hat gezeigt, dass Nationalstaaten, die auf Nationalismus beruhen, keine dauerhafte Lösung darstellen können.

In meinem Leben gab es verschiedene Phasen, in denen ich mehr auf Religion, Klasse und Nation konzentriert habe. Eine religiöse Gesinnung hatte ich von den 1950er Jahren bis Anfang der 70er. Dass ich dann zu klassenorientierten, sozialistischen Auffassungen überging, war nur durch einen heftigen geistigen Kampf und geistige Qualen möglich. Die 70er Jahre sind die Zeit, in der ich am meisten über den Sozialismus nachdachte. Ich habe viele Bücher vieler Philosophen gelesen. Damals habe ich eine starke geistige Verdichtung erfahren. Als Folge davon habe ich mich dann intensiv auf die Auffassungen von der Nation konzentriert. Meine Konzentration auf die Nationwerdung, den Nationalsbegriff, hat 25-30 Jahre meines Lebens in Anspruch genommen. Jetzt habe ich diese Auffassungen überwunden und bin zu einem neuen Denken vorgestoßen.

Dieses Denken ist sehr systematisch. Ich kritisiere das westliche Denksystem sehr radikal. Im sozialistischen Denken dominierte früher die Klasse. Ich sehe heute ganz klar, dass es falsch war, nur von einer Klassenperspektive aus auf soziale und politische Ereignisse und Tatsachen zu blicken. Das gleiche gilt für das religiöse Paradigma. Eine Blickwinkel, der auf einer Klassen- oder einer religiösen Gesinnung beruht, beharrt darauf, der einzig wahre zu sein. Aus solche einer Perspektive kann man bestenfalls 10% der politischen und gesellschaftlichen Vorgänge sehen. Auf diese Weise ignoriert man die übrigen 90% der gesellschaftlichen Realität. Heute beginnt man langsam zu verstehen, dass ein solches Denken falsch ist, dass all dies nur eine Ableitung aus Allgemeinplätzen ist und nur einen Ausschnitt aus der Realität wiedergibt. Viele Autoren wie John Holloway, dessen „Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen“ ich gerade lese, sehen diese Tatsachen, allerdings bleibt ihr Ansatz fragmentarisch und es gelingt ihnen nicht, eine Systematik zu schaffen. Eine solche Systematik ist es, worum ich mich intensiv bemühe.

Mit einem Denken, das auf der Klasse beruht, und durch den Staat, dieses jahrtausendealte Unterdrückungsinstrument, kann man den Sozialismus nicht erreichen. Oder aber, wenn man ihn auf diese Weise bringt, geht der Sozialismus zugrunde. Wir haben gesehen, wie die Sowjetunion, für die zehntausende Menschen ihr Leben gegeben haben und in die so viele Menschen ihre Hoffnungen gesetzt haben, in der Praxis aussah und wie sie endete. Auch religiöses Denken und so gar mythologisches Denken enthält bedeutende Wahrheiten. Jedoch berücksichtigen diese nur ihre eigene Perspektive und sehen nur ihre eigenen Wahrheiten. Nationales Denken hingegen betont lediglich die eigene Nation und denkt nur an ihren Vorteil. Ergebnis waren die nicht enden wollenden Kriege der auf Nationen beruhenden Staaten, Millionen von Menschen sind darin umgekommen. In der Entstehungsphase der Nationalstaaten wurden Nationen und Kulturen, die schwach waren und sich nicht schützen konnten, vernichtet.

Wenn ich all dies sage, lehne ich nationales Denken natürlich nicht komplett ab. Ich lehne auch das Denken in Klassen nicht völlig ab. Ich möchte auch nicht so verstanden werden, dass ich all dies jetzt völlig beiseite gelegt habe. Ich sage nur, dass wir religiöses Denken, Klassendenken, nationales Denken überwinden müssen. Wie können sich die Völker auf demokratische Weise organisieren? Wie können die Kurden zu einer demokratischen Nation werden? Wie kann man den Staat und seine Institutionen demokratisieren? Darüber denke ich intensiv nach. Die Überlegungen, die ich mir mache, führen zu einem Denken, dass sich in letzter Zeit auf der Welt entwickelt.

Manche sagen, meine Überlegungen führten in eine Falle, da ich den Begriff der Nation verwende, ohne entsprechend eine Lösung zu wollen, die auf einem Staat beruht. Ich sage aber: Nein, das ist keine Falle. In meinem letzten Buch habe ich vor zwei Jahren die Macht des Staates heftig kritisiert. Demokratisierung beinhaltet nicht nur den Weg über die Macht. Demokratisierung kann über viele verschiedene Kanäle und mit vielen verschiedenen Methoden erfolgen. Ich sage hier nicht, es soll gar keinen Staat geben. Wenn man den Staat vernichtet, was will man dann an seine Stelle setzen? Darüber muss man in vielerlei Hinsicht nachdenken. Daher gewinnt es an Bedeutung, den Staat dazu zu bringen, dass er sich an Demokratie und Recht hält, demokratische Prinzipien respektiert, ihn entsprechend zu strukturieren und ein wenig weiter einzugrenzen. Der Bevölkerung kommt dabei die Aufgabe zu, sich auf demokratische Weise selbst zu organisieren, tausende zivilgesellschaftliche Institutionen zu schaffen und das Bewusstsein einer demokratischen Nation zu etablieren. Mit dieser Methode sollte die Bevölkerung den Staat zur Demokratisierung drängen und erreichen, dass der Staat sich demokratisiert. Der Staat sollte denn Willen dazu bekunden.

Diese Auffassung geht über Regionalismus hinaus, diese Auffassung ruft alle Seiten auf, die Regeln der Demokratie einzuhalten. Es geht auch nicht darum, die Völker durch Zwang beisammen zu halten. Es geht um eine freie und freiwillige Einheit. Selbst im Osmanischen Reich war die Situation in dieser Hinsicht besser als heute. Seit Sultan Selim I. Anfang des 16. Jahrhunderts wollten die Sultane 400 Jahre lang Unterstützung von den Kurden für ihre regionale und allgemeine Politik, darüber hinaus haben sie sie in Ruhe gelassen. Es gab also kein „Zusammenhalten durch Gewalt“ in diesem Sinne.

Es gibt eine alte Redensart, in der das Zusammenleben von Nationen mit einer Ehe verglichen wird, einer Ehe von Nationen also. Ich will es hier einmal ansprechen, vielleicht finde ich einmal Gelegenheit, es weiter auszuführen. In Spanien ist dieses Problem der Zwangsehe durch das baskische Modell überwunden worden. Insofern sind die Ereignisse von Diyarbakir [Exzessiver und tödlicher Gewalteinsatz gegen Demonstranten und tagelange, aufstandsartige Proteste, Anm. d. Ü.] ein Funken, eine Scheidungseklärung.

Man darf den Blickwinkel auf gesellschaftliche und nationale Fragen nicht verengen. Wenn man immer „meine Nation“, „meinen Staat“, „meine Region“ in den Mittelpunkt des eigenen Denkens stellt, reicht das nicht aus, und es führt zu Konflikten. Bei der Sicht und den politischen Analysen in der Türkei in Bezug auf die gesellschaftlichen Probleme fehlt entweder der wissenschaftliche Blickwinkel völlig, oder er ist zu großen Teilen falsch. Das wissenschaftliche Denken in der Türkei beruht auf einem positivistischen Wissenschaftsbegriff. Man betrachtet die Realität stur nur im Rahmen der Phänomene. Dabei ignoriert man den Hintergrund der Phänomene, ihren historischen Ablauf und ihre soziokulturellen Ursachen. Aus diesem Grunde ist das wissenschaftliche Denken in der Türkei sehr rückständig und weit davon entfernt, gesellschaftliche Vorgänge korrekt zu analysieren. Dieser Wissenschaftsbegriff ist zu simpel und gefährlicher als der Dogmatismus.

Um die Gesellschaften des Orients soziologisch analysieren zu können, darf man nicht nur westliche Begriffe verwenden, sondern muss auch die Begriffe analysieren, in denen der Orient selbst seine Kultur ausdrückt. Ich habe die Kulturen des Orients und seine Begriffe intensiv untersucht. Dabei habe ich mich insbesondere auf die Mythologie und die Sumerer konzentriert. Auch in meinen Büchern habe ich dem breiten Raum eingeräumt.

Es heißt, dass Europäische Beobachter sagen, mein Prestige habe gegenüber den südkurdischen Führern zugenommen. Ich will natürlich eine Lösung der Probleme. In diesem Punkt bin ich völlig aufrichtig. Deshalb bemühe ich mich so, Projekte zu erstellen. Mit tut es weh, wenn auch nur das Blut eines einzigen Menschen vergossen wird. Ich weiß auch, dass es im Staat eine Strömung gibt, die diesen Überlegungen zustimmt. Leider stellt die AKP ihr Modell eines „gemäßigten Islam“ in den Vordergrund. Die CHP dagegen beharrt auf dem Republikmodell der 1920er Jahre. Als Mustafa Kemal 1923 die Republik gründete, stützte er sich auf die Republik als Regierungsmodell jener Zeit. Das Modell der Republik ist das Modell des 19. und 20. Jahrhunderts. In den 1920er Jahren war eine Republik das Beste, was man gründen konnte. Aber das Modell der Republik ist weit davon entfernt, das einzige politische Modell des 21. Jahrhunderts zu sein.
Diese beiden Strömungen führen nicht zu einer Lösung. Der Säkularismus der Türkei ist nicht in Gefahr, wie es die CHP behauptet. Alle unterstützen diesen Begriff. Aber in der Türkei verschärft sich die Krise des Staates zusehends. Um dieses wichtige Problem zu lösen, ist eine Demokratisierung der Gesellschaft und des Staates nötig. Wenn die Türkei keine demokratische Wende vollzieht und auf der Republik der 1920er Jahre beharrt, wird sich die Krise des Staates weiter verschärfen.

Die imperialen Mächte, allen voran die USA, wollen die Kurden an ihre Seite ziehen, denn sie stellen eine bedeutende Dynamik dar. Sie können dafür sorgen, dass die Konfliktsituation dauerhaft wird, indem sie die Kurden immer in Bewegung halten. So war es in der Vergangenheit. Die Briten haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts Scheich Mahmut Bersendschi unterstützt. Aber Berzendschi ist es nicht gelungen, einen Staat „Kurdistan“ zu gründen. In diesem Gebiet sollten statt einem kurdischen ein armenischer und ein assyrischer Staat gegründet werden. Ich möchte das nicht so verstanden wissen, als ob ich gegen die Assyrer oder die Armenier sei. Jedoch entstand später der heutige Status quo. Auch im Moment unterstützen die USA die Kurden wegen ihrer regionalen Politik. Heute profitiert Südkurdistan davon. Wenn aber eines Tages das Gleichgewicht in der Region kippt, werden Kurden gegen Türken, Kurden gegen Araber, Kurden gegen Perser stehen. Das wäre sehr gefährlich. Daher muss Südkurdistan den Rahmen des engstirnigen Nationalismus verlassen und die Demokratie verinnerlichen.

Die Türkei muss es endlich schaffen, ihre eigene Realität, die kurdische Realität und die Dynamiken des globalen Wandels richtig zu erfassen und zu analysieren. Jeder Staat, der diese Realitäten nicht erfasst, wird unweigerlich in eine Krise geraten. Die Türkei soll sich nichts vormachen. Der Iran ist ein Auslaufmodell. Auch China und Russland werden den Abgang des Iran nicht aufhalten können. Das ist verlorene Liebesmüh. Die Türkei überlegt immer noch, ob sie zusammen mit dem Iran gegen die Kurden vorgehen kann. Der Iran steht vor dem Fall.

Wenn aber andererseits auf der Gewalt insistiert wird, dann wird die PKK noch stärker werden. Ich kenne die PKK. Sie hat verschiedene Methoden des Widerstands. Die jüngsten Vorgänge in Diyarbakir und der Region haben gezeigt, dass die PKK stark genug ist, um einen allgemeinen Aufstand auszulösen. Wenn man auf Vernichtung beharrt, wenn man den Konflikt verschärft, dann werden sich tausende Jugendliche der PKK anschließen, dann wird die Guerilla auf mehrere Zehntausend anwachsen. In diesem Fall würde ein Konflikt wie der palästinensisch-israelische entstehen. Das will ich nicht. Es würde tausende Menschen das Leben kosten. Ich will nicht, dass irgend jemand zu Schaden kommt. Aber leider werde ich falsch interpretiert. Man hat ein falsches Bild von mir.

Sie nehmen mich zum Bezugspunkt für ihre Politk. Sogar dar Rechtssystem modifizieren sie, indem sie an mich denken. Dieses Denken steht der Demokratisierung der Gesetze entgegen. Gesetzesänderungen, die speziell für mich gemacht werden, schaden anderen Gefangenen. Das ist natürlich bedauerlich. So will man auch nicht, dass rechtsstaatliche Auffassungen sich etablieren. Fast alle juristischen Reformen der letzen Zehn Jahre sind mit Blick auf uns erfolgt. Das ist ein Verbrechen. Im Strafrecht ist kein Platz für Sondergesetze für eine Person. Das steht im fundamentalen Widerspruch zur allgemeinen Logik des Rechts. Ganz im Gegenteil müsste das Unrecht im Rechtssystem entsprechend meiner Person, meiner Methode, meines Kampfes beseitigt werden. Die Türkei muss zu einem Rechtsstaat werden. Dafür nicht zu sorgen, ist ein fundamentaler Fehler. Man versucht, Punkte und Politik zu machen, indem man mich schlechtredet. Ohne mich zu kennen, ohne mich zu lesen, interpretieren sie mich. Ich schlage vor, dass sie meine Bücher lesen und mich anschließend kritisieren. Wenn sie mich kennen und verstehen, dann können sie mich auch kritisieren. Wenn sie das Problem lösen wollen, sollten sie demokratische Projekte umsetzen.

Wenn die PKK, meine Anhänger oder auch andere Kreise den Gedanken der Demokratisierung richtig verstünden, würde sich in den Türkei einiges wandeln. Ich weiß nicht, inwieweit die PKK meine Thesen umsetzt, aber es gelingt ihnen nicht, sich auszudrücken. Ihnen fehlt die intellektuelle Akkumulation. Dabei müssten sie überall Lobbygruppen gründen und Wege finden, meine Thesen überall zu erläutern. Man muss der Öffentlichkeit und zwar insbesondere der in der Türkei gut verständlich machen, dass meine Überlegungen dem Wohl der gesamten Türkei dienen und dass ich es in diesem Punkt völlig ernst und aufrichtig meine.

Ich schlage allen Kurden vor, darüber zu diskutieren, wie eine demokratische Nation aussehen kann, was das sein kann. Wie kann eine freiwillige und gerechte Einheit mit der Türkei aussehen? Diese Frage sollten sie aus allen Richtungen beleuchten und diskutieren.

In der Presse wird mein Verhältnis zur DTP verzerrt dargestellt. Die DTP wurde mit dem Anspruch gegründet, die kurdische Frage zu lösen und die Türkei zu demokratisieren. Ich kann allenfalls als Sympathisant der DTP meine Überlegungen äußern. Das Modell, das bei den jüngsten Parlamentswahlen in Italien angewandt wurde, ist ein denkbares neues Modell. Man könnte eine neue Dachorganisation auf der Linken gründen. Das kann man diskutieren. Man kann dabei sogar mit der AKP reden.

Übersetzung aus dem Türkischen