Protokoll des Verteidigergesprächs mit Abdullah Öcalan am 10. Mai 2006

A. Öcalan: Herzlich willkommen. Sie sind alle bereits früher schon einmal hier gewesen. Ich nehme an, keiner von Ihnen ist neu. Ist sonst noch wer gekommen?

Anwälte: Vielen Dank. Wir waren alle schon einmal hier. Fatma Öcalan ist auch hier.

A. Öcalan: Wie geht es Ihnen?

Anwälte: Danke. An Ihrer gesundheitlichen Situation besteht viel Interesse. Wie geht es Ihnen?

A. Öcalan: Wie Sie sehen, dauern die alten Probleme an. Der Juckreiz am Bauch und an den Beinen dauert an. Wahrscheinlich aufgrund der mangelnden Bewegung habe ich nachts kalte Füße, wahrscheinlich Durchblutungsstörungen. Haben Sie meine Beschwerden an die Ärzte weiter geleitet?

Anwälte: Wir haben zuvor bereits mit Ärzten gesprochen, aber sie sagen, dass auf diese Weise keine wirkliche Diagnose und Behandlung möglich ist. Wir haben vom Justizministerium und der Oberstaatsanwaltschaft in Bursa eine aus Haut- und anderen Spezialisten bestehende Ärzteabordnung für Diagnose und Behandlung Ihrer gesundheitlichen Beschwerden angefordert. Ist ein Hautarzt gekommen?

A. Öcalan: Nein. Andere Ärzte kommen für die Routinekontrolle. Haben die Ärzte, mit denen Sie gesprochen haben, etwas gesagt, was es sein könnte?

Anwälte: Die Ärzte haben gesagt, es könnte sich um eine schlichte Allergie, ein Ekzem, einen Pilz oder mit geringer Wahrscheinlichkeit um Hautkrebs handeln. Aber für eine Diagnose sind Blutanalysen notwendig. Werden Ihnen Bücher und Zeitungen ausgehändigt? Können Sie Radio hören? Vor zwei Wochen haben wir Ihnen eine neue Uhr mitgebracht, weil die alte kaputt gegangen ist. Haben Sie die bekommen?

A. Öcalan: Nein. (In dem Moment erklärt einer der Bediensteten, die Uhr werde nach dem Besuch ausgehändigt.) Ich kann Radio hören. Aus den Zeitungen, die sie mir früher gegeben haben, waren immer drei, vier Seiten herausgerissen. Jetzt bekomme ich Zeitungen, die schon einen Monat alt sind. Manchmal geben sie mir verschiedene Zeitungen des gleichen Datums an verschiedenen Tagen. Deshalb kann ich die Zeitungen eines Tages manchmal gar nicht lesen. Deshalb wäre es gut, wenn Sie wöchentlich zehn Stück auswählen und mitbringen. (zeigt auf ein vor sich liegendes Papier) Gestern habe ich diesen Erlass bekommen.

Anwälte: Wir haben ihn vor ein paar Wochen von der Staatsanwaltschaft angefordert.

A. Öcalan: Ich habe gegen diesen Erlass einen Widerspruch an das 11. Schwere Strafgericht Ankara geschrieben. Das ist wohl passend, dass ich Widerspruch einlege, oder? In dem Erlass heißt es, ich werde bis zu meinem Tod im Gefängnis bleiben. Aber damals, als der Prozess auf Imrali zu Ende ging, hat der Staatsanwalt auf lebenslänglich plädiert. Aber gemäß der neuen Gesetzgebung gibt es jetzt eine “erschwerte lebenslängliche Haftstrafe”. In einer solchen Situation gilt als generelles Prinzip die Regel, dass das zum Nachteil reichende Gesetz nicht angewendet wird, oder? Diesen Erlass und meinen Widerspruch können Sie aus der Verwaltung holen.

Anwälte: Stimmt, das Gesetz, das zugunsten des Angeklagten reicht, findet Anwendung. Ein Verfahren, das wir in Bezug auf die “erschwerte lebenslängliche Haftstrafe” vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingeleitet haben, dauert an. Den Erlass werden wir in diesem Verfahren nachreichen. Außerdem hat das 11. Schwere Strafgericht Ankara unsere Forderung nach Neuverhandlung abgelehnt. Hat diesbezüglich unser Antrag, das Plädoyer der Staatsanwaltschaft Ankara und unsere Antwort auf dieses Plädoyer Sie erreicht?

A. Öcalan: Ja, von der Ablehnung habe ich im Radio gehört. Der Revisionsgerichtshof wird wahrscheinlich ebenfalls ablehnen. Das hatten wir ohnehin erwartet. Wenn diese Situation vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte getragen wird, kann es dort zu einer besseren Verhandlung kommen. Ihr Antrag hat mich erreicht, ich habe ihn studiert. Sie haben ihn gut vorbereitet. Sie werden wohl die Ablehnung einer Neuverhandlung vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bringen. Dieser Weg steht uns offen, oder?

Anwälte: Ja. Das Urteil ist uns noch nicht zugestellt worden. Wenn wir es bekommen, werden wir Berufung einlegen und an den Revisionsgerichtshof senden.

A. Öcalan: Wie lange kann das dauern, einen Monat?

Anwälte: Das kann vier bis fünf Monate dauern. Wenn der Revisionsgerichtshof das ablehnende Urteil bestätigt, leiten wir ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Denn dieser Artikel im Gesetz bedeutet eine offene Diskriminierung. Außer dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gibt es auch noch die Ebene des Ministerrates, der verantwortlich ist für die Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte bezüglich Ihrer Neuverhandlung. Aber in Ihrem Fall haben sie noch keine Empfehlung beschlossen. Wie Sie wissen, hat der Ministerrat im Fall der DEP’ler und von Hulki Günes Empfehlungen ausgesprochen.

A. Öcalan: Im Prozess werde ich eine Verteidigung schreiben. Meine neue Verteidigungsschrift wird noch umfangreicher sein als die letzte, die die Qualität eines politischen Friedensmanifestes hatte. [”Özgür Insan Savunmasi” – “Verteidigung des freien Menschen”, noch nicht auf Deutsch erschienen]. Ich habe noch nicht angefangen, zu schreiben. Wahrscheinlich werde ich fünf Hefte füllen können. Meine gedankliche Konzentration zu diesem Thema dauert an. Aber wir haben noch Zeit. Und Sie bereiten meine juristische Verteidigung vor. Ich habe das schon früher gesagt, sogar ein italienischer Anwalt hat das gesagt, als ich in Italien war und wir uns getroffen haben. Weil ich keine bewaffnete Aktion durchgeführt habe, hätte der Strafartikel zur Mitgliedschaft in einer Organisation angewendet werden müssen. Daran können Sie arbeiten. Auch das Recht Europas geht so vor. Griechenland ist wichtig. Haben Sie dort einen Anwalt finden können?

Anwälte: Ein Kollege wird dort Gespräche führen. Aber in Griechenland ist es sehr schwer, einen vom Staat unabhängigen Rechtsanwalt zu finden. Selbst linke, oppositionelle Anwälte stehen auf Seiten des Staates. Deshalb haben wir einige Schwierigkeiten.

A. Öcalan: Sie können auch mit Anwälten aus Italien oder Zypern sprechen. Einer unser alten Freunde ist sogar in Italien zum Parlamentspräsidenten gewählt worden. Uns Nahestehende sind an die Regierungsmacht gekommen. Wie Sie wissen, hat die Simitis-Regierung unsere Situation als illegal bezeichnet, aber im Prozess in Griechenland sind wir letztendlich freigesprochen worden und somit hat sich heraus gestellt, dass wir legal nach Griechenland eingereist sind. Ich hatte sogar einen Asylantrag gestellt. Aber der wichtige Punkt dabei ist, dass die Ausreise oder der Rauswurf aus Griechenland auf illegale Weise stattgefunden hat. Die erzwungene Ausreise von europäischem Territorium war unrechtmäßig. Es stand sogar in den Zeitungen, dass die CIA-Flugzeuge Tausende Male auf europäischem Territorium unterwegs waren. In diesen Umfang fällt auch meine Situation. Falls es für die Aufklärung dessen notwendig ist, legen Sie Widerspruch vor dem Berufungsgericht Griechenlands ein. Wenn diese Sache aufgeklärt wird, wird sich auch zeigen, dass der gesamte Prozess von Anfang an unrecht war. Diese Sache ist noch wichtiger als der Verlauf in Kenia. Wie ist die Lage von Ayfer, gegen die mit mir zusammen verhandelt wurde? Ist sie dagegen oder dafür?

Anwälte: Wir kennen ihre Lage nicht genau, aber etwas Gegenteiliges gibt es nicht. Sie lebt dort weiter. Haben Sie im übrigen Kenntnis vom Entwurf für ein neues Antiterrorgesetz? Anhand dieses Gesetzes können sogar Mütter und Väter für ihre Kinder verantwortlich gemacht und verhaftet werden. Aufgrund von Farben können Haftbefehle ausgesprochen werden. Es macht den Eindruck, dass dieses Gesetz die Türkei um mindestens zehn Jahre zurück wirft.

A. Öcalan: Ja, ich weiß davon. Es ist eindeutig, dass diese Gesetze nicht zum Vorteil der Türkei sein werden. Es wird außerdem viel über den Artikel 6 diskutiert. Seit einer Woche spricht jeder darüber. Für wen ist Ihrer Meinung nach dieser Artikel eingebracht worden?

Anwälte: Es heißt, er könnte für diejenigen eingebracht worden sein, die die Organisation aus hohen Führungspositionen heraus verlassen haben. Weiter heißt es, dass Gökhan Aydiner von der Polizeidirektion diesen Artikel in den Entwurf eingebracht hat, und dass dieser Artikel eingebracht wurde, um die Wirkung des Gesetzes zu verstärken. Denn es wird davon ausgegangen, dass jeder in der Organisation eine Weile Führungspositionen eingenommen hat. In juristischer Hinsicht sieht eine Anwendung auf Sie schwierig aus.

A. Öcalan: Wenn dieser Artikel in Zukunft angewendet wird, kann es sein, dass er gemäß des verfassungsrechtlichen Gleichheitsprinzips auch auf mich angewendet werden muss. Es mag auch sein, dass damit ein Unterbau für eine zukünftige mögliche Lösung geschaffen werden soll. Da Deniz Baykal so sehr auf diesem Punkt beharrt und ihn benutzt, ist es möglich, dass da eine Tür offen gelassen wird.

Über mich sind verschiedene Texte in den Zeitungen erschienen. Seit unserem letzten Zusammentreffen ist wohl viel über mich geschrieben worden. Das haben Sie wahrscheinlich verfolgt. Bezüglich meiner Haltung werden die Tatsachen verdreht. Zum Beispiel hat Ergun Babahan in der Zeitung Sabah so etwas geschrieben. Dagegen muss ich mich verteidigen und meine Ansichten deutlich machen. Es heißt, bei meinem Lösungsprojekt handele es sich lediglich um eine taktische Veränderung oder ich würde diese Lösung vorlegen, um mich selbst zu retten und ich sei zum Kemalismus übergetreten. Das alles ist nicht richtig. Bei dem von mir vorgelegten Projekt handelt es sich nicht um eine taktische Veränderung, sondern um eine wesentliche strategische Änderung. Meine Philosophie ist die der Veränderung und Transformation. Sie ist nicht statisch und basiert nicht auf Dogmatismus. Es gelingt mir gut, den Dogmatismus zu überwinden. Wenn keine Veränderung und Wandlung durchgesetzt wird, gibt es auch keine Rettung vor dem Dogmatismus und keine Lösung.

Seit den siebziger Jahren beschäftige ich mich mit dem Thema Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Ich habe viele Bücher darüber gelesen und viele Analysen aufgestellt. Damals verstanden wir unter dem Einfluss der damaligen Bedingungen unter Selbstbestimmungsrecht der Nationen lediglich die Staatenbildung. Für uns galt dieses Recht gleich Staat, so interpretierten wir es. Aber mit der Zeit mussten wir feststellen, dass dies nicht die einzige Wahrheit ist. Selbstbestimmung der Nationen muss nicht unbedingt über eine Staatengründung verlaufen, es kann auch andere Methoden geben. Kropotkin hat zu Lenin gesagt, er habe mit der Staatsgründung den Sozialismus verrotten lassen, und da hatte er Recht. Die alte sozialistische Weltanschauung beinhaltete zum Thema Selbstbestimmungsrecht der Nationen lediglich den Punkt Staatengründung. Das ist komplett falsch.

Mein Denksystem ist ein System, das die positiven Elemente des Sozialismus Lenins und Kropotkins, des Islams und des Liberalismus übernimmt, sich dabei aber kontinuierlich entsprechend der Zeit aktualisiert, transformiert und verändert. Die von mir geäußerte Kritik am Sozialismus hat Lenin zuvor nicht hervor gebracht. Es wird sogar behauptet, ich sei zum Anarchismus übergetreten. Ich habe Bakunin, Proudhon und Kropotkin genau untersucht. Bakunin hatte Recht, als er sich gegen die Wandlung des Sozialismus in eine Staatenbildung wandte. Ich finde nur diese Seite von Bakunin und anderen Anarchisten richtig, aber es gibt auch vieles, was ich an ihnen kritisiere. Zum Beispiel sind sie extrem individualistisch, sie stellen den Individualismus stark in den Vordergrund.

Ich betrachte das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht lediglich als das Recht, einen eigenen Staat zu gründen. Es gibt verschiedene Lösungen, die in die heutige Zeit passen. Früher fanden zwischen den Religionen Dialoge oder Kriege statt. Das Christentum verfolgte die Politik, alle zu Christen zu machen und der Islam wollte alle zu Muslimen machen. Seit 300-400 Jahren, seit dem Westfälischen Frieden, hat die Aufbauphase der Nationalstaaten eingesetzt. Entstanden ist diese Phase ein bisschen auch als Reaktion auf das Christentum. Der Nationalstaat verfolgte das Ziel, einen einzigen Typ Bürger und eine daran angelehnte Kultur zu erschaffen. Als Resultat dieses Aufbauprozesses wurden Nationalstaaten gegründet. Aber die Nationalstaaten vernichteten alle Kulturen außer der eigenen. Es fand ein fürchterliches Massaker an Kultur und Erbe statt. In dieser Zeit fanden zwei Weltkriege, Tausende regionale Kriege und Zehntausende lokale Kriege statt. Die Aufbauphase des Nationalstaates endete mit dem Hitlerfaschismus und anderen faschistischen Regimen. Die Staaten, die dies sahen, entfernten sich schleunigst von diesem Gedanken. Deutschland führte den Föderalismus ein. Auch die EU wurde aus der Erkenntnis dieser Gefahr gegründet. Amerika mit seinem riesigen Wissenschaftskader begriff schnell und traf entsprechende Maßnahmen; mit 52 föderativen Staaten stärkte es das föderale System. Frankreichs Erkenntnisstand reichte nicht aus und weil es sich nicht ausreichend transformierte, hat es die heutigen Probleme.

Nachdem es keinen Ausweg aus den vom Nationalstaat verursachten Krisen gab und eine Dauerkrise einsetzte, entstand dagegen die Idee des Neoliberalismus. Der Neoliberalismus hatte den Anspruch, eine Lösung für die aus der Idee des Nationalstaates entstandene Problematik zu bieten. Er fand insbesondere in den 1980er Jahren Anwendung.

Um auf die Realität der Türkei angesichts dieser Entwicklungen zu sprechen zu kommen: Als Mustafa Kemal und sein Team in den 1920er Jahren ihre Republik gründeten, standen sie unter dem Einfluss des damaligen aktuellen politischen und sozialen Systems und dementsprechender Gedanken. Als Mustafa Kemal die Republik gründete, verfolgte er drei Hauptpunkte:

1. den Militarismus Napoleons;
2. das Modell der dritten Republik Frankreichs; diese Epoche begann in den Jahren 1878-79. Aber heute ist diese Zeit vorbei, es besteht die fünfte Republik;
3. den Bourgeoisie-Kapitalismus des deutschen Staates.

Mustafa Kemal setzte bei der Republikgründung auf diese drei Modelle. Ja, später wurden die Völkerrechte verleugnet. Es wurde versucht, die Kurden zu assimilieren. Gegen die Kurden wurde Gewalt eingesetzt. Dagegen kam es zu Aufständen. Gegen die Kurden wurde extreme Gewalt eingesetzt. Aber grundsätzlich war das von Mustafa Kemal begründete System der damaligen Zeit angemessen. Es war ein Modell, das in die 1920er Jahre passte. Aber in den 2000er Jahren kann die Türkei nicht mit dem Modell von 1920 weiter machen. Angesichts der weltweiten sozialen, politischen, gedanklichen Entwicklungen wird die Krise sich vertiefen und chronifizieren, wenn es der Türkei nicht gelingt, sich zu verändern.

Es ist interessant, von allen politischen Parteien in der Türkei hat nur die AKP das ansatzweise begriffen. Deshalb versucht sie, die Türkei gemäß ihrer eigenen Perspektive zu verändern. Sie versucht das auf ihre eigene Art, mit ein bisschen „Islam light“ und ein bisschen Demokratie. Aber bei diesem Veränderungsversuch geht sie sehr profitorientiert vor.

Wie ich bereits zuvor gesagt habe, hat die Türkei drei Alternativen zur Auswahl: Zum einen das Rote-Apfel-Bündnis, das von Deniz Baykal angeführt wird und auf das Republiksmodell der 1920er Jahre setzt; zum zweiten das eben erwähnte Modell, das von der AKP angeführt wird. Es ist offensichtlich, dass beide Modelle unzureichend sind und keine dauerhafte Lösung für die Türkei darstellen. Und dann gibt es noch unser Lösungsprojekt, das am besten in die heutige Zeit passt, intelligent und dauerhaft ist. Auf andere Weise ist es nicht möglich, eine Lösung für die strukturellen Probleme der Türkei zu finden. Im Kern handelt es sich bei unserem Lösungsprojekt um die Bildung eines Bewusstseins für die Nation demokratische Türkei. Dafür muss die Demokratisierung der kurdischen Nation abgeschlossen werden.

Natürlich muss sich auch die türkische Nation demokratisieren und auf demokratische Weise neu organisieren. Das funktioniert über eine Organisierung in demokratischer Form auf sozialem, wirtschaftlichem, politischem und allen anderen Gebieten. Natürlich spielen die zivilgesellschaftlichen Organisationen hierbei eine wichtige Rolle. Ich werde darauf jetzt nicht näher eingehen, weil ich bereits früher darüber gesprochen habe. Es ist interessant, zum Beispiel habe ich gelesen, dass es in einem Dorf in Kirgisien vier zivilgesellschaftliche Organisationen gibt. Auch in der Türkei sollte es eine solche Organisierung geben. Ich habe das bereits früher gesagt: es könnte ein Organisierungsmodell entstehen, das bis in die Stadtviertel und Dörfer reicht. Die DTP könnte eine solche Form der Organisierung zu ihrer Hauptarbeitsweise machen.

Die Lösung, die ich allen und der Gesellschaft der Türkei vorlege, verfügt über viele Dimensionen. Die These der demokratischen Republik ist nur ein Teil davon. Kurden, Türken und andere Kulturen bilden gemeinsam die Nation der demokratischen Türkei. Dabei handelt es sich um einen neuen Begriff. Zum einheitlichen Staat und der Republik habe ich nichts zu sagen. Türkisch bleibt offizielle Sprache, natürlich gibt es auch die Fahne. Aber eine demokratische Organisierung der Kurden einhergehend mit einer Öffnung auf den Gebieten Kultur, Sprache, Wirtschaft, Umwelt, Beruf u.a. muss stattfinden können. Die Kurden müssen auf regionaler Ebene über ihre eigene Verwaltung, ihr eigenes Parlament, ihre Fahne verfügen. Natürlich hat jedes Volk eine eigene Fahne, die es symbolisiert. Aber mit der Fahne, die den Einheitsstaat repräsentiert, sind sie zusammen. Das muss nicht als Gegnerschaft, sondern als sich gegenseitig nährender Reichtum aufgefasst werden. Dadurch wird die Türkei nicht wie befürchtet gespalten.

Solange die Türkei die erwähnte weltweite Veränderung nicht in ihrer eigenen Struktur umsetzt und kein Verständnis für eine demokratische Lösung entwickelt, wird sie der EU unmöglich beitreten können. Das weiß auch die EU.

Jeder sollte wissen, dass es sich bei unserem Lösungsprojekt um ein dauerhaftes und zukunftsorientiertes handelt. Es basiert nicht auf extremem Nationalismus, sondern auf einer demokratischen kurdischen Struktur. Es ist nicht wie das Gebilde im Süden [Südkurdistan / Nordirak]. Dort bietet der extreme Nationalismus den Nährboden für Konflikte, die jederzeit ausbrechen können. Im Süden werden die aufgrund der Staatsfixiertheit entstehenden kurdischen, arabischen, schiitischen, sunnitischen Staaten Krieg und Blutvergießen auslösen. Die Staaten werden früher oder später zusammen stoßen.

Mein Vorschlag an die Kurden lautet folgendermaßen: Sie sollen eine demokratische kurdische Nation organisieren. Und sie sollten anstreben, die demokratische kurdische Nation mit demokratischen Methoden in höhere Entwicklungsstufen zu führen.

Anwälte: Sind Ihnen die Entwicklungen in Diyarbakir und den anderen Provinzen in der Region bekannt? Der US-Botschafter in Ankara hat die Vorfälle als „größte gesellschaftliche Ereignisse der letzten zehn Jahre“ und als Volksbewegung bewertet. Bei den Vorfällen sind 16 Zivilisten ums Leben gekommen, davon vier Kinder. Es gab knapp tausend Verhaftungen. Es wurden DTPler verhaftet, darunter auch Vorsitzende der Provinzverbände. Die türkische Armee hat über 200 000 Soldaten an der Grenze stationiert. Der Iran führt mit 20 000 Soldaten Militäroperationen gegen die PJAK durch und bombardiert PJAK-Lager. Es finden Gefechte statt, in den Medien erscheinen täglich Meldungen über Tote und Verletzte. Die US-Außenministerin hat die Türkei und den Irak besucht. Außerdem soll nach einer Meldung in einer Zeitschrift der Ministerpräsident als Teil seines Auftritts in Diyarbakir bezüglich der kurdischen Frage im Jahr 2005 eine Diskussion darüber eingeleitet haben, Sie von Imrali aus in ein F-Typ-Gefängnis zu überstellen. Diese Diskussion soll zwischen Justizminister, MIT, Polizei und Generalstab stattgefunden haben. MIT und Polizei sollen den Vorschlag akzeptiert haben, aber der Generalstab soll die Genehmigung verweigert haben. Es heißt, dass somit dieser Vorschlag in der Sicherheitsbürokratie hängen geblieben ist.

A. Öcalan: Ja, teilweise weiß ich davon. Die Form demokratischer Aktion ist natürliches Recht der Kurden. Mit demokratischen Methoden können sie jederzeit ihre Rechte zur Sprache bringen. Die Menschen müssen ihre Kampfmethoden selbst bestimmen. Wie ich einem Zeitungsartikel eines ehemaligen MIT-Inspektors im Ruhestand entnommen habe, finden zwischen Armee, MIT und Polizei wichtige Diskussionen über eine Lösung der kurdischen Frage statt, bei denen es zwei Haupttendenzen gibt. Die eine Tendenz will das Problem mit Gewalt lösen, die andere ist davon überzeugt, dass es sich nicht mit Gewalt lösen lässt. Da aber die Tendenz, die eine gewalttätige Unterdrückung der Problematik befürwortet, schwerer wiegt, finden all diese Dinge statt. Aber es ist klar, dass sich das Problem nicht mit Gewalt lösen lässt. Das hat auch schon die letzten zwanzig Jahre nicht geklappt.

In gleicher Form kann auch der Iran das Problem nicht so lösen. Die PKK lässt sich nicht mit Gewalt vernichten, sie wird eher noch stärker und die Anzahl der Guerillakämpfer steigt bis Hunderttausend. Die Jugend schließt sich der Guerilla an, es findet ein fürchterlicher Krieg statt. Das will ich nicht, ich warne davor. Die AKP nutzt ihre Initiative zu diesem Thema nicht. Wenn sie eine demokratische Lösung will und das in aufrichtiger Form kundtut, werden wir alles tun, damit die Waffen schweigen. Wenn die Regierung dann noch ein demokratisches Projekt vorlegt, können die bewaffneten Kräfte davon überzeugt werden, sich hinter die Grenzen zurück zu ziehen. Wenn dieses demokratische Projekt schließlich umgesetzt und der Lösungsweg eingeschlagen wird, dann können die Waffen vollständig nieder gelegt und die Möglichkeit eines demokratischen Lebens gewährleistet werden.

Anwälte: Intellektuelle, die DTP und die Friedensgruppe arbeiten zu diesem Thema.

A. Öcalan: Das ist wichtig, sie sollen weiter arbeiten. Sie sollen die Möglichkeit schaffen, ein breiteres Gebiet anzusprechen. Jeder sollte die neue Partei unterstützen.

Anwälte: Möchten Sie zum Schluss noch etwas sagen?

A. Öcalan: Schicken Sie mir ein paar gute Geschichtsbücher. Grüße an alle Freunde. Ihnen wünsche ich einen guten Tag.

Anwälte: Auch Ihnen einen guten Tag, leben Sie wohl.


Übersetzung: ISKU

Übersetzung aus dem Türkischen